Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Neue Bewährung
1. Mose 39,21-23
Wir haben in unserer letzten Betrachtung gesehen, was der Mensch mit dem Zeugen Gottes getan hat, den Gott zu ihm gesandt hatte. Und Joseph selbst? Es ist beachtenswert, dass hier - genau wie damals, als man ihn in die Grube warf und dann zum Sklaven verkaufte - wohl mit ihm gehandelt wird, er selbst aber weder handelnd noch redend hervortritt. Joseph schweigt! Ein einziges Wort von ihm hätte vielleicht seinen Herrn aufhorchen lassen und das ganze Lügengewebe zerrissen! Von neuem werden wir an Den erinnert, von dem es heißt: „Er tat seinen Mund nicht auf“, - „der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet“ (1. Pet 2,23).
Das war es, was Joseph tat, und er bewies damit, dass nicht nur wahre Gottesfurcht, sondern auch einfältiges Gottvertrauen in seiner lauteren Seele wohnte. Er besaß eine Offenbarung Gottes, und diese Offenbarung Gottes verhieß ihm einen hohen Platz (Kap. 37,5 ff.), und wenn ihm auch das völlige Gegenteil von dem widerfuhr, was Gott verheißen hatte, so zweifelte er doch nicht, sondern harrte aus, „bis zur Zeit, da sein Wort eintraf; das Wort des HERRN läuterte ihn“ (Ps 105,19). Wie ermunternd ist für uns das Bild dieses gottesfürchtigen, Gott hingegebenen jungen Mannes! Das Wort des HERRN redete zu ihm von Gottes Macht, die ihn aus der Prüfung befreien würde; aber solange dies ausblieb, vermittelte es ihm Gottes erziehende Liebe und Gottes Mitgefühl, das das Herz auch im „Tale des Todesschattens“ so glücklich macht und“ tröstet“.
Welch einzigartigen Ausdruck findet dieses göttliche Mitgefühl hier! „Und der Herr war mit Joseph und wandte ihm Güte zu“ (Vers 21). Wie mag ihm diese Güte Gottes das Dunkel des Kerkers erhellt haben! Wie sang „der Knecht des Herrn, David“, von ihr! „Herr! An die Himmel reicht deine Güte, bis zu den Wolken deine Treue... Wie köstlich ist deine Güte, o Gott! Und Menschenkinder nehmen Zuflucht zum Schatten deiner Flügel. Sie werden reichlich trinken von der Fettigkeit deines Hauses, und mit dem Strom deiner Wonnen wirst du sie tränken“ (Ps 36,5 ff. und Überschrift).
Von diesem „Strom der Wonnen“ getränkt, der Güte Gottes, die „besser als Leben ist“ (Ps 63,4), fand Joseph Gnade auch in den Augen seines neuen Herrn, des Obersten der Feste (Vers 21). Auch von Daniel lesen wir dies; als er „sich in seinem Herzen vornahm, sich nicht mit der Tafelkost des Königs und mit dem Wein, den er trank, zu verunreinigen“, gab Gott ihm „Gnade und Barmherzigkeit vor dem Obersten der Hofbeamten“ (Dan 1,8.9). So bringt das Ausharren in der Prüfung Gewinn, nicht nur nach innen, sondern oftmals auch nach außen hin, wie wir auch später vom Volk Israel lesen: „Ich werde diesem Volk Gnade geben in den Augen der Ägypter, ... ihr sollt nicht leer ausziehen“ (2. Mo 3,21; vergl. 11,3; 12,36). Und noch einmal erfuhr es dieses Volk unter Gottes züchtigender und doch mitfühlender Hand: „Er ließ sie Erbarmen finden vor allen, die sie gefangen weggeführt hatten“ (Ps 106,46).
„Und der Oberste des Gefängnisses übergab alle Gefangenen, die in dem Gefängnis waren, der Hand Josephs; und alles, was dort zu tun war, das tat er“ (Vers 22). Die Prüfung dauerte noch an, aber ihre Bitterkeit wich; Josephs Füße kamen aus dem Stock, und die Ketten fielen von seinen Händen. Bald nahm er die gleiche Vertrauensstellung innerhalb der Kerkermauern ein, wie es vorher außerhalb der Kerkermauern der Fall war.
„Der Oberste des Gefängnisses sah nicht nach dem Geringsten, das unter seiner Hand war, weil der HERR mit ihm war; und was er tat, ließ der HERR gelingen“ (Vers 23). Welch ein vollkommenes Zeugnis wird dem Joseph auch hier wieder zuteil! Es sind fast die gleichen Worte, wie wir sie schon vorher lasen (vergl. Vers 4-6). Seine neue Bewährung ruft unsere Bewunderung hervor; denn es ist keineswegs immer gesagt, dass einer ersten Bewährung auch eine zweite folgt, noch dazu unter solchen erschwerenden Umständen. So schlug der ungerechte Zorn Potiphars zu einer vollkommenen Verherrlichung Gottes aus; wir werden im weiteren Verlauf des inspirierten Berichts noch deutlicher sehen, dass auch in diesem Fall „der Grimm des Menschen ihn preisen“ musste; und es kam auch der Tag, an dem er sich „mit dem Rest des Grimmes gürtete“ - im Gericht über dieses Land, das den Gerechten nicht zu ertragen vermochte (Ps 76,11).