Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Neue Leiden
1. Mose 39,13-20
„Und es geschah, als sie sah, dass er sein Gewand in ihrer Hand gelassen hatte und hinausgeflohen war, da rief sie die Leute ihres Hauses...“ (Vers 13.14). Es ist die Weise Satans, wenn er sein Ziel nicht erreicht hat, dass er „zornig wird“ und „große Wut hat“; sie wird es noch sein am Ende der Tage (vergl. Off 12). Und aus dem Herzen seines Werkzeugs, der Frau Potiphars, kommt nun all das Böse hervor, das darin war, wie in jeglichem menschlichen Herzen: Hass, Bosheit, Lüge, List, „falsche Zeugnisse, Lästerungen“. „Aus der Fülle des Herzens redet der Mund ... der böse Mensch bringt aus dem bösen Schatze Böses hervor“ (Mt 15,18.19; 12,34.35). Ach, welch ein Abgrund tut sich auf, wenn die Flut des Bösen einmal die Dämme zerreißt und das ganze Land überflutet.
Die „Leute des Hauses“ und den rechtschaffenen Potiphar selbst, sowie Joseph, den treuen Verwalter - sie alle trifft diese verheerende Flut, die einen mit sich fortreißend und den anderen als schuldloses Opfer unter sich begrabend. Die sündige Liebe - wie so oft, wenn sie auf Treue stößt - schlägt um in tödlichen Hass; Joseph ist nun in ihrem Munde der verachtete „hebräische Mann“, der „hebräische Knecht“, und das Gewand, das er, um vor der Sünde zu fliehen, fahren ließ, soll nun, sobald sein Herr nach Hause kommt, unwiderleglich gegen ihn zeugen (Vers 14-18). „Und es geschah, als sein Herr die Worte seiner Frau hörte, die sie zu ihm redete, indem sie sprach: Nach diesen Worten hat mir dein Knecht getan, da entbrannte sein Zorn. Und Josephs Herr nahm ihn und legte ihn ins Gefängnis, an den Ort, wo die Gefangenen des Königs gefangen lagen; und er war daselbst im Gefängnis“ (Vers 19.20). Das war in der Tat ganz ähnlich wie damals, als er zu seinen Brüdern kam - eine furchtbare Enttäuschung, eine wahrhaft bittere Erfahrung! Völlig schuldlos, dazu ohne Untersuchung, ins Gefängnis geworfen von demselben Herrn, dem er bis zur Stunde mit aller Hingabe gedient, den er nicht hatte hintergehen wollen, - von demselben Herrn, dessen Gunst und Vertrauen ihm bis dahin (und vielleicht durch Jahre hindurch) in so verschwenderischem Maß zuteil geworden waren! Wirklich, Josephs Glaube und Demut gingen unter der Zulassung Gottes durch eine schwere Belastungsprobe nach der anderen.
Freilich, Potiphars Gunst war trotz des traurigen Einflusses seiner Frau, die ihn betrog und belog, noch nicht völlig dahin, denn er überlieferte seinen Sklaven nicht, wie es nahegelegen hätte, dem Tod, sondern nur dem Gewahrsam des Gefängnisses. Kommt uns da nicht die Grube in Erinnerung, in die ihn seine Brüder warfen, damit „ihre Hand nicht an ihm sei“? Indes, auch das „Gefängnis“, der Ort, wo „die Gefangenen des Königs“ gefangen lagen, die dem Zorn des Herrschers verfallen waren, war nach der grausamen Sitte jener Zeit ein schauerlicher Ort; Joseph selbst nennt ihn späterhin einen „Kerker“ (Verließ) oder, wie es buchstäblich heißt, eine „Grube“! (Kap. 40,14.15; vergl. 41,14; eine andere Übersetzung des hebräischen Textes dieser letzten Stelle lautet: „Und sie hoben ihn schnell aus der Grube.“). Überdies blieb sein ferneres Schicksal auch so noch ungewiss, und manch einen der „Gefangenen des Königs“ mag man im Laufe der Zeit vor seinen Augen dem Scharfrichter zugeführt haben, wie später den Obersten der Bäcker (Kap. 40,19 ff.). Nein! es war nur eine Verlängerung seiner Qual; und dass es Qualen waren, die er, als Folge seiner Treue, zu erdulden hatte, lesen wir an anderer Stelle: „Man presste seine Füße in den Stock, und er kam in das Eisen“ (Ps 105,18).
Es waren Leiden, seelische und körperliche, der bittersten Art, die Joseph eintauschte, als er die „zeitliche Ergötzung der Sünde“ ausschlug; und noch einmal leuchtet seine sittliche Schönheit hell vor uns auf, wenn wir bedenken, dass er, als er „sich weigerte“, „nicht hörte“ und schließlich „floh“, dies alles sehr wohl voraussehen konnte.
Es ist gut, wenn wir über die Folgen unserer Treue in dieser Welt uns keinen verkehrten Vorstellungen hingeben. Denn viele andere, die das Teil der Treue erwählt, haben gleiche oder ähnliche Erfahrungen gemacht wie Joseph. Daniels Freunde führte es in den „brennenden Feuerofen“, und den Propheten selbst (der uns in mancher Hinsicht an Joseph erinnert!) in die Löwengrube. Jeremia brachte einen großen Teil seines Lebens im „Gefängnishof“ zu; der große Apostel der Nationen „litt Trübsal bis zu Banden wie ein Übeltäter“ und wurde schließlich dem Tod seines Herrn „gleichgestaltet“, dem er mit solcher Hingabe gedient hatte. Naboth und Stephanus endeten ihr Leben unter einem Haufen von Steinen; ein Los, dem Kaleb und Josua nur mit Mühe entgingen. „Andere wurden durch Verhöhnung und Geißelung versucht, ... sie wurden gesteinigt, zersägt, versucht, starben durch den Tod des Schwertes, gingen umher in Schafpelzen, in Ziegenfellen, hatten Mangel, Drangsal, Ungemach“ - und warum? Ja, warum? Weil sie alle das Vorrecht besaßen, solche zu sein, „deren die Welt nicht wert war“ (Heb 11,36 ff.).
Indes, diese „Wolke von Zeugen“ verschwindet, wie die Sterne vor der Sonne verblassen, wenn wir nun an den wahren Joseph denken, dessen erhabene Person in göttlicher Treue jedes menschliche Bemühen weit in den Schatten gestellt hat. Was fand Er in dieser Welt? Nichts als Verachtung, Verwerfung und Hass, nichts als Schmach und Schande und Leiden. Und wie Joseph erst unter dem Hass seiner Brüder litt und später, wie wir gesehen haben, unter der Bosheit der Heiden, so auch Er: „In dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels“ (Apg 4,27). Aber mehr noch als Joseph war Er, unser geliebter Herr, der „Lippe der Lüge“ und der „Zunge des Truges“ ausgesetzt, den „scharfen Pfeilen eines Gewaltigen, samt glühenden Ginsterkohlen“ (Ps 120,2-4). Mehr noch als auf Joseph passt auf Ihn das Wort: „Es treten ungerechte Zeugen auf; was ich nicht weiß, fragen sie mich. Sie vergelten mir Böses für Gutes; verwaist ist meine Seele“; oder jenes andere: „Mehr als die Haare meines Hauptes sind derer, die ohne Ursache mich hassen; mächtig sind meine Vertilger, die ohne Grund mir Feind sind; was ich nicht geraubt habe, muss ich alsdann erstatten“ (Ps 35,11.12; 69,5).
Auch hinter Ihm, wie hinter Joseph, schlossen sich, im Bild gesprochen, die Tore eines furchtbaren, finsteren Kerkers: „Meine Bekannten hast du von mir entfernt, hast mich ihnen zum Gräuel gesetzt; ich bin eingeschlossen und kann nicht herauskommen“ (Ps 88,9). Und ob wir nun Joseph betrachten oder sein über alles erhabenes Ebenbild, wir haben wahrlich Grund, auch in den Übungen unseres Weges „auszuharren, indem wir Gutes tun und leiden“, denn „das ist wohlgefällig bei Gott“ (1. Pet 2,20).