Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Die Versuchung
1. Mose 39,7–10
„Und es geschah nach diesen Dingen“ – so beginnt der inhaltsschwere Bericht über die weiteren Erfahrungen Josephs im Hause Potiphars. Mit dieser Wendung leitet der Geist Gottes wiederholt in dem ersten Buch der Schrift einen besonderen Abschnitt im Glaubensleben dessen ein, auf den Er unsere Aufmerksamkeit gelenkt hat (Je dreimal in Abrahams und in Josephs Leben; vergl. Kap. 15,1; 22,1.20; 40,1; 48,1). So auch hier. Der niedrige Sklave war zu einer hohen Vertrauensstellung im Haus seines Herrn gelangt, Gott hatte Seinen besonderen Segen auf sein Tun gelegt, Jahre waren so dahingegangen – würde Joseph dem Gott, an den er sich im Unglück so fest geklammert hatte, in den Tagen des Glücks die Treue halten? – Die neue Probe, der Gott ihn unterwarf, sollte die Antwort auf diese Frage erbringen.
Es entspricht den vollkommenen Absichten Gottes mit uns, die Proben, durch die Er uns zu unserer Bewährung und zu Seiner Verherrlichung gehen lässt, von Zeit zu Zeit zu verschärfen. So wenig Er es zulässt, dass wir „über unser Vermögen versucht“ werden, so erlaubt Er unter Umständen doch, dass der Ofen „siebenmal mehr geheizt wird“ als zu anderen Zeiten (1. Kor 10,13; Dan 3,19). In der heidnischen, götzendienerischen Umgebung im Hause Potiphars war Joseph dem Gott seiner Väter treu geblieben; er hatte sich, wie wir vielleicht sagen würden, in religiöser Beziehung bewährt – würde dasselbe von ihm auch in moralischer Hinsicht gesagt werden können? Wie wird Joseph Gott gedankt haben, dass der Versucher ihn auch auf diesem Gebiet wachsam fand, als dieser in der einflussreichen Person der Frau seines Herrn an ihn herantrat! (Vers 7).
„Er aber weigerte sich“ – so lesen wir gleich zu Beginn (Vers 8). Die alten Römer hatten ein Sprichwort: „Principiis obsta!“ – „Hüte dich vor dem Anfang!“ Der erste Schritt auf einem bösen Weg führt in weitaus den meisten Fällen zu immer neuen. Vor diesem ersten Schritt, vor dem ersten Nachgeben gegenüber der Versuchung, gilt es sich zu hüten. Das hat Joseph getan. „Mein Sohn, wenn Sünder dich locken, so willige nicht ein“ (Spr 1,10). Auch Mose „weigerte sich, als er groß geworden war, ein Sohn der Tochter des Pharao zu heißen, und wählte lieber, mit dem Volke Gottes Ungemach zu leiden, als den zeitlichen Genuss der Sünde zu haben ... denn er schaute auf die Belohnung“ (Heb 11,24–26). Er traf eine Wahl; und der Glaube, der ihn zu dieser Wahl befähigte, war auch in Joseph tätig. Beide wählten Leiden statt Genuss; denn wenn wir der Versuchung nachgeben, leiden wir nicht, wohl aber, wie Joseph es dann erfuhr, wenn wir uns „weigern“. Diesem Leiden folgt die Belohnung nach, ein unvergänglicher Genuss; unterliegen wir, so ist die Reihenfolge umgekehrt: Der „zeitlichen Ergötzung der Sünde“ folgen lang andauernde, unter Umständen ewige Leiden (lies Spr 6,26–33). Lieber junger Leser, ist da die Wahl so schwer? „Unterwerft euch nun Gott. Widersteht aber dem Teufel, und er wird von euch fliehen“ (Jak 4,7).
„Er aber weigerte sich und sprach zu der Frau seines Herrn: Siehe, mein Herr kümmert sich um nichts bei mir im Haus; und alles, was er hat, hat er in meine Hand gegeben. Niemand ist größer in diesem Haus als ich, und er hat mir gar nichts vorenthalten, als nur dich, indem du seine Frau bist; und wie sollte ich dieses große Übel tun und gegen Gott sündigen?“ (Vers 8.9). So begründet Joseph seine Weigerung; und nicht nur die letzten, uns allen so bekannten Worte sind der Beachtung wert, sondern der ganze Ausspruch. Er zeigt, dass Joseph sich sowohl seiner Verantwortlichkeit vor Menschen als auch derjenigen vor Gott bewusst war. Er fragt nicht wie sein Bruder Juda: „Was für ein Gewinn ist es ...“ (Kap. 37,26), sonst hätte er sein Gewissen zum Schweigen gebracht; er bedachte, dass „man an den Verwaltern sucht, dass einer für treu befunden werde“ (1. Kor 4,2). Welch ein großer Vertrauensbruch wäre es gewesen, wenn er der Stimme dieser Frau gefolgt wäre! Auch Nehemia dachte an den verantwortungsvollen Platz, den Gott ihm gegeben hatte und sagte: „Ein Mann wie ich sollte fliehen?“ (Neh 6,11). „Jedem aber, dem viel gegeben ist – viel wird von ihm verlangt werden; und wem man viel anvertraut hat, von dem wird man desto mehr fordern“ (Lk 12,48).
Joseph hatte göttliche Gefühle über den ihm von Gott gegebenen Platz, wie auch über die Sünde und über die Heiligkeit Gottes. Diese drei Dinge gehen Hand in Hand; wenn wir gegen Menschen fehlen, so sündigen wir gegen Gott. „Wie sollte ich dieses große Übel tun und gegen Gott sündigen?“ Wahrlich, ein Wort zu seiner Zeit! Als Joseph es in der Angst seines Herzens sprach, hat er gewiss nicht gedacht, dass der Geist Gottes es für ewig aufzeichnen und vieltausendfach auf Herz und Gewissen wirken lassen würde!
Als der Herr den Abimelech zurückhielt, „dieses große Übel“ zu tun, teilte Er ihm das mit den Worten mit: „Ich habe dich davon abgehalten, gegen mich zu sündigen“ (Kap. 20,6). Als David in die gleiche Sünde fiel, vor der Joseph sich bewahrte, hieß es: „Die Sache, die David getan hatte, war böse in den Augen des Herrn“ (2. Sam 11,27). Und obwohl diese Sünde ein Verbrechen an einem Menschen war, musste David dahin kommen, dass er ausrief: „Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe getan, was böse ist in deinen Augen!“ (Ps 51,6; 2. Sam 12,13). Das war „Betrübnis Gott gemäß“ (2. Kor 7,10); aber David hätte sie sich ersparen können, wenn er vor dem Fall – wie Joseph – sich Gott gemäß „geweigert“ hätte.
Freilich, so schnell gaben Satan und sein auserlesenes Werkzeug, Potiphars Frau, in diesem Fall ihre Sache noch nicht verloren. Das ist – zu unserer Ermunterung sei es gesagt – nicht immer so; oft wird schon das erste Widerstehen Satan veranlassen, zu „fliehen“. Für Joseph aber war es damit nicht getan. „Tag für Tag“ wiederholte sich die ernste Versuchung, „Tag für Tag sprach sie ihn an“ – und da hören wir ein zweites von Joseph: „Er hörte nicht auf sie“ (Vers 10). Welch eine sittliche Schönheit offenbaren diese wenigen Worte! Er ließ der ersten, einmaligen „Weigerung“ das Ausharren folgen. Zum zweiten Mal in seinem Leben öffnete sich, bildlich gesprochen, eine „tiefe Grube“, ein „enger Brunnen“ vor ihm, aber es blieb dem Feind verwehrt, ihn dahinein zu werfen, weil er Gott „sein Herz gegeben“ und seine Augen – statt an dem Gegenstand vergänglicher Lust – „Gefallen hatten an seinen Wegen“ (lies Spr 23,26.27; 22,14). So viel auch „ihre Lippen Honigseim träufelten“, so sehr auch die fremde Frau „ihre Worte glättete“ (Spr 2,16; 5,3; 7,5), er hatte einer anderen Stimme gelauscht und bewahrte die Worte und Gebote Gottes (lies Spr 7,1 ff.). Sie befähigten ihn, die Ohren – und sicher auch die Augen – gegenüber den täglich immer wieder an ihn herantretenden Versuchungen geschlossen zu halten.
Werden wir hier nicht wiederum an einen anderen, Größeren erinnert, der vierzig Tage – eine Zeit völliger Erprobung – „in der Wüste umhergeführt wurde, indem er von dem Teufel versucht wurde“? (Lk 4,1). Mit dem Schwert des Geistes schlug Er diesen erbitterten Feind und „harrte aus in seinen Versuchungen“ (vergl. Lk 22,28). Er ist „in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde“ (Heb 4,15). Die Sünde, das Unreine, bildete für Ihn – wie konnte es anders sein? – keine Versuchung, aber weil dies bei uns in so großem Maße der Fall ist, hat Er uns in Seinem Wort auch menschliche Vorbilder geschenkt, die aus der praktischen Gemeinschaft mit Gott die Kraft gewannen, sich zu „weigern“ und „nicht zu hören“, wie wir es bei Joseph sahen.