Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Die Sendung
1. Mose 37,12-22
In dem Herzen Israels, des Vaters, kommt der Wunsch auf, seinen Söhnen, die zu Sichem die Herde weideten (Vers 12), einen Beweis seiner Liebe zu geben - denselben Söhnen, die so übel von ihm geredet, die ihm schon mancherlei Kummer und Herzeleid bereitet hatten (vergl. Kap. 34; 35,22). So groß war seine Liebe zu diesen Unwürdigen, dass er niemand anders als den „Sohn seines Alters“ zu diesem gefahrvollen Auftrag ersah, - den, den er „lieber hatte als alle seine Söhne“.
„Und Israel sprach zu Joseph: Weiden nicht deine Brüder bei Sichem? Komm, dass ich dich zu ihnen sende!“ (Vers 13). Wir erkennen leicht, dass wir hier ein ergreifendes Bild haben von der Liebe Gottes zu uns, die darin offenbart ist, dass Er „Seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat“ (1. Joh 4,9). Welch eine Liebe war das! Und Er hat sie in besonderer Weise Seinem irdischen Volk gegenüber erwiesen, wiewohl Er dessen Gesinnung und Zustand kannte. Als Er alle Seine Bemühungen um Seinen Weinberg erschöpft hatte, da sprach Er, der Herr des Weinbergs: „Was soll ich tun? Ich will meinen geliebten Sohn senden“ (Lk 20,13). Der Teich Siloam, nahe bei Jerusalem, in dem der Blindgeborene seine Augen sehend wusch, war eine ständige Predigt hiervon (Joh 9,7); aber die Masse des Volkes verharrte in ihrer tiefen Blindheit, trotz der Gegenwart des Sohnes Gottes, der immer wieder vor sie hintrat als Der, „den der Vater gesandt hatte“ (Wir finden das im Joh. Ev. über vierzigmal.)
Auch Joseph kannte, ebenso wie der Vater, die Gesinnung seiner Brüder und die Gefahren des Weges (vergl. 1. Mo 37,15.20.33) und sprach doch zu ihm: „Hier bin ich“ (Vers 13). Gleich ihm war später Jesaja bereit, sich senden zu lassen - Mose nicht -, und Isaak ging stumm und gehorsam mit seinem Vater hinauf nach Morijas Höhen; auch aus Abrahams Munde hören wir bei jener Gelegenheit das gleiche, schöne Wort: „Hier bin ich“ (Jes 6,8; 2. Mo 4,13; 1. Mo 22,1.6-8). Alle diese aber werden weit in den Schatten gestellt durch Den, der sich Seinem Vater völlig zur Verfügung stellte zu dem großen Werk, das Er zur Erfüllung Seiner Ratschlüsse vollbringen wollte: „Siehe, ich komme, ... Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust“ - wiewohl Er „alles wusste, was über ihn kommen würde“ (Ps 40,8.9; Joh 18,4).
Wir werden nun noch näher mit dem Zweck der Sendung Josephs bekannt gemacht: „Und er sprach zu ihm: Gehe doch hin, sieh nach dem Wohlergehen deiner Brüder und nach dem Wohlergehen der Herde und bringe mir Antwort“ (Vers 14). Wie rührend! - Gott sandte auch dem Saul, dem Menschen im Fleisch, einige Männer mit der Frage nach seinem Wohlergehen in den Weg - ohne Erfolg -, und David rief, alles hoffend, über seinem abtrünnigen, des Todes schuldigen Sohn aus: „Geht es dem Jüngling, dem Absalom gut?“ (1. Sam 10,3.4; 2. Sam 18,32). - Mit einem ähnlichen Auftrag wie Joseph wurde auch der junge David zu seinen Brüdern gesandt; und auch er fand Verachtung und Hohn, wie Joseph die bitterste Feindschaft und die Grube (1. Sam 17,17 ff. 28). Nicht nur gefahrvoll war der Weg, sondern auch weit; von Hebron bis Sichem (Vers 14) mögen es drei bis vier Tagereisen gewesen sein. Aber als Joseph kam, fand er seine Brüder nicht dort, wo er sie anzutreffen erwarten konnte; sie waren noch eine Tagereise weit, noch weiter von ihrem Vater fortgezogen (Vers 15-17). (Dothan lag, halbwegs nach Jesreel zu, vermutlich noch etwa 20 km nördlich von Sichem, dieses lag bekanntlich im Herzen des späteren Samaria.) Joseph „irrte auf dem Felde umher“ - ein einsamer Fremdling wie sein großes Ebenbild, der Herr, - und wir hören aus seinem Munde das rührende Wort: „Ich suche meine Brüder.“ Er gibt seinen Auftrag, er gibt sein Suchen nicht leichten Kaufes auf; er „geht seinen Brüdern nach“, bis er sie in Dothan findet.
Es ist unmöglich, über diese Verse nachzusinnen, ohne auf Schritt und Tritt - und vielleicht bei keinem Abschnitt der Geschichte Josephs so oft wie hier - an den gesegneten Weg unseres Herrn, des wahren Joseph, erinnert zu werden. Er, der Sohn des Menschen, war „gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist“, und wahrlich, Er hat sich durch keinen Misserfolg, durch keine Enttäuschung von diesem Ziel abbringen lassen. Unermüdlich „ging er seinen Brüdern nach“, den verlorenen Schafen des Hauses Israel, zu denen Er in besonderer Weise gesandt war, Er heilte, Er speiste und lehrte sie, bis Er schließlich voller Enttäuschung ausrufen musste: „Jerusalem, Jerusalem . . . Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Lk 13,8; 19,10.41; Mt 23,37). - Und hat nicht jeder von uns, der zu Seinen Schafen zählt, diese suchende Liebe des guten Hirten in überreichem Maß erfahren? Ja, wir wissen es, noch heute lässt Er die neunundneunzig Schafe in der Wüste und „geht dem verlorenen nach, bis er es findet“! (Lk 15,4). Das danken wir Ihm, und das ist unser Trost im Blick auf so manche, die noch in den Dornen der Wüste verstrickt sind.
„Und sie sahen ihn von weitem; und ehe er in ihre Nähe kam, da ersannen sie gegen ihn den Anschlag, ihn zu töten“ (Vers 18). Der Psalmist sagt: „Für meine Liebe feindeten sie mich an; . . . sie haben mir Böses für Gutes erwiesen, und Hass für meine Liebe“ - er sagt es im Blick auf den Herrn (Ps 109,4.5). Wieder werden wir an das Gleichnis von den bösen Weingärtnern erinnert, wo es heißt, ganz ähnlich wie in der Geschichte Josephs: „Als aber die Weingärtner ihn sahen, überlegten sie miteinander und sagten: Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, damit das Erbe unser werde“ (Lk 20.14).
Es ist immer dasselbe; das menschliche Herz verändert sich nicht, und alle Kultur vermag nicht die bösen Quellen zu verschütten, die sich darin befinden. „Grimm ist grausam und Zorn eine überströmende Flut; wer aber kann bestehen vor der Eifersucht!“ (Spr 27,4). Nicht nur die Liebe des Vaters ruft die Eifersucht der Brüder Josephs hervor, sondern auch die Herrlichkeit, die ihm nach den Gedanken Gottes zuteil werden sollte. „Dieser ist der Erbe!“ - „Siehe, da kommt jener Träumer!“ rufen sie ganz im gleichen Sinn. Und sie fahren fort: „So kommt nun und lasst uns ihn erschlagen . . . und wir werden sehen, was aus seinen Träumen wird“ (Vers 20).
Ruben „willigte nicht ein in ihren Rat und in ihre Tat“ (vergl. Lk 23,51) und sprach: „Lasst uns ihn nicht totschlagen!“ - „Vergießt nicht Blut ... und legt nicht Hand an ihn“ - er wollte ihn wieder zu seinem Vater bringen (Vers 21-22). Allerdings, ein offenes Auftreten wider das Böse, ein volles Bekenntnis zu Joseph war es nicht; und er kann das Verhängnis nicht mehr aufhalten. Denn schon haben die „Bogenschützen“ den Pfeil an die Sehne gelegt, um den „Sohn des Fruchtbaumes“ zu befehden, um „ihn zu reizen und zu schießen“. Wird „sein Bogen fest“ und werden „die Arme seiner Hände gelenkig“ bleiben? (Kap. 49,23.24).