Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Die Träume Josephs
1. Mose 37,5–11
„Und Joseph hatte einen Traum und teilte ihn seinen Brüdern mit; und sie hassten ihn noch mehr“ (Vers 5). Wie sein Zeugnis über seine Brüder, so rief auch sein Zeugnis an seine Brüder deren Hass hervor; denn als ein Zeugnis haben wir die Mitteilung seiner Träume anzusehen, und diese selbst als eine Offenbarung Gottes.
Gewiss ist es so, dass das Wort Gottes uns vor einer unnüchternen Bewertung von Träumen warnt; wiederholt begegnen wir ihnen als einem Bilde der Selbsttäuschung und flüchtigen Vergehens (vergl. Hiob 20,8.9; Ps 73,19.20; Jes 29,7.8). Ja, wir lesen: „Bei vielen Träumen und Worten sind auch viele Eitelkeiten“ (Pred 5,6; vergl. Vers 3). Dennoch sehen wir, dass Gott sich im Laufe der Zeiten wiederholt der Träume bedient hat, sei es, um „das Ohr des Menschen zu öffnen“ und „ihn von seinem Tun abzuwenden“ (Hiob 33,16ff.), sei es, um Seine Gedanken und Seine Absichten zu offenbaren: „Wenn ein Prophet unter euch ist, dem will ich, der HERR, mich in einem Gesicht kundtun, in einem Traum will ich mit ihm reden“ (4. Mo 12,6). Es war in der Geschichte des irdischen Volkes Gottes ein Zeichen des Verfalls, wenn „Gesichte nicht häufig waren“, wie zu den Zeiten Elis und Sauls, und wird ein Beweis seiner Wiederherstellung sein, wenn einst das Gegenteil wieder eintritt (1. Sam 3,1; 28,6.15; Joel 3,1).
Auf diesem Weg also wurde dem Joseph, wie einst seinem Vater Jakob in Lus, „kundgetan, was Gott tun wollte“ (vergl. 1. Mo 41,25.28), und wir können verstehen, wie mächtig ihn, den Jüngling, diese göttlichen Mitteilungen bewegten. So kam er dazu – „aus der Fülle des Herzens redet der Mund“ –, sie denen, die außer ihm davon betroffen wurden, mitzuteilen. Ob seine Absicht rein, ob der Zeitpunkt richtig gewählt war, das vermögen wir freilich kaum zu entscheiden. Nur soviel wissen wir, dass sein Zeugnis wahr war. Aber wie leicht kann es sein, dass sich in unserem törichten Herzen falsche und echte Beweggründe mischen! Beachten wir es: Eine Wahrheit kann noch so groß, noch so kostbar sein, und doch können wir unser Ich damit suchen. Ja, das Zeugnis der Wahrheit kann dadurch, dass es im Eigenwillen oder in prahlerischer Absicht erfolgt, zu ernstem Schaden sein statt zum Segen.
„Und er sprach zu ihnen: Hört doch diesen Traum, den ich gehabt habe“ (Vers 6). Ähnlich rief auch ein späterer Zeuge der Wahrheit, Jotham, der Sohn Gideons, den von seinem Widersacher Verführten zu: „Hört auf mich, Bürger von Sichem, so wird Gott auf euch hören!“ (Ri 9,7). Und doch: es hat nur einen Zeugen der Wahrheit gegeben, der vollkommen war, und der zugleich der „wahrhaftige“ und der „treue“ Zeuge genannt werden konnte. Auch Er rief Seinen „Brüdern“ ein: „Hört!“ zu, als Er sie in Gleichnissen lehrte, und zwar, „wie sie es zu hören vermochten“. Ja: „Wer Ohren hat, zu hören, der höre!“ Aber das Volk hat, wie hier die Brüder Josephs, „hörend gehört und nicht verstanden“ (Mk 4,3.9.12.23). Wie ernst! Möchten wir heute, wenn wir „seine Stimme hören“, unsere Herzen „nicht verhärten“.
Wie Sein Zeugnis, so redeten auch die Träume Josephs von zukünftiger Herrlichkeit zu einer Zeit, da er in den Augen seiner Brüder noch so verächtlich und so gering war. Auch Er, der wahre Joseph, hatte in den Augen Seines Volkes „keine Gestalt und keine Pracht“, und trat doch mit allen Rechtsansprüchen des Königs Israels vor Seine Brüder.
„Siehe, wir banden Garben auf dem Feld, und siehe, meine Garbe richtete sich auf und blieb auch aufrecht stehen; und siehe, eure Garben umringten sie und verneigten sich vor meiner Garbe“ (1. Mo 37,7). Wie traf dies später buchstäblich ein! Immer wieder lesen wir dort, dass seine Brüder „sich vor ihm verneigten“, „sich niederbeugten“, ja, „vor ihm niederfielen zur Erde“ (Kap. 42,6; 43,26.28; 44,14; 50,18). „Und Joseph gedachte der Träume, die er von ihnen gehabt hatte“ (Kap. 42,9).
„Da sprachen seine Brüder zu ihm: Solltest du gar König über uns sein, solltest du sogar über uns herrschen? Und sie hassten ihn noch mehr wegen seiner Träume und seiner Worte“ (Vers 8). Ging es nicht Mose später ebenso? „Wer hat dich zum Obersten und Richter über uns gesetzt?“ (2. Mo 2,14). Auch David rief sein Bruder Eliab zu, als er gekommen war, um mit Goliath zu kämpfen: „Ich kenne doch deine Vermessenheit und die Bosheit deines Herzens!“ (1. Sam 17,28). Es ist dieselbe Sprache wie im Gleichnis die der Bürger gegen den „hochgeborenen Mann“: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche“ (Lk 19,14) – dieselbe Gesinnung, die die Juden dem Herrn der Herrlichkeit entgegenbrachten.
Hielt Er, unser hochgelobter Herr, deswegen mit dem „guten Bekenntnis“ zurück? Wie sollte Er – wo wir doch selbst Joseph im Zeugnis der Wahrheit verharren sehen. „Und er hatte noch einen anderen Traum und erzählte ihn seinen Brüdern und sprach: Siehe, noch einen Traum habe ich gehabt, und siehe, die Sonne und der Mond und elf Sterne beugten sich vor mir nieder. Und er erzählte es seinem Vater und seinen Brüdern“ (1. Mo 37,9.10). Das war nicht nur eine Wiederholung und Bestätigung (vergl. Kap. 41,32), sondern dieser zweite Traum ging weiter. In dem ersten war es die Garbe Josephs, die von den Garben seiner Brüder königliche Verehrung empfing; hier aber hören wir, wie sich „Sonne, Mond und elf Sterne“ vor Joseph selbst neigen. Aus dem Munde Jakobs empfangen wir über die Bedeutung dieses Traumbildes Belehrung.
„Da schalt ihn sein Vater und sprach zu ihm: Was ist das für ein Traum, den du gehabt hast? Sollen wir kommen, ich und deine Mutter (Wir haben hierbei wohl an Lea zu denken, denn als Benjamin lebte (“elf Sterne“), war Rahel schon tot. – Möglich bleibt aber auch, dass unser Kapitel von Vers 2 an in eine frühere Zeit zurückgreift, während der Traum prophetisch schon die volle Zahl der Söhne Jakobs umfasst.) und deine Brüder, um uns vor dir zur Erde niederzubeugen?“ (Vers 10). War ihm, Jakob, nicht selbst verheißen: „Sei Herr über deine Brüder, und vor dir sollen sich niederbeugen die Söhne deiner Mutter“? (Kap. 27,29). Sollte die ihm verliehene Autorität durch diejenige seines vorjüngsten Sohnes beiseitegerückt werden? Nun, wir wissen, dass es so geschehen ist (vergl. Kap. 47,11.12.29), und dass später alle, selbst der Pharao, genötigt wurden, seine Größe anzuerkennen. Vor dem wahren Joseph aber wird nicht nur „sein Volk voller Willigkeit sein am Tag seiner Macht“, sondern dereinst „jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist“ (Ps 110,3; Phil 2,10.11).
„Und seine Brüder waren eifersüchtig auf ihn; aber sein Vater bewahrte das Wort“ (1. Mo 37,11). Das zeigt, dass in Jakob, trotz seines „Scheltens“, der Glaube tätig war, – der Glaube, der „alle diese Worte im Herzen bewahrt und erwägt“, auch wenn er sie nicht versteht. So sehen wir es später auch bei Maria, der Mutter Jesu (Lk 2,19.51). Das Herz der Brüder dagegen füllte sich mit zunehmendem Hass und mit Eifersucht, einer der hässlichsten Leidenschaften, die das Herz des Menschen hervorbringt. Später lesen wir: „Sie wurden eifersüchtig auf Mose im Lager, auf Aaron, den Heiligen des HERRN“ (Ps 106,16). Und wie heißt es vom Herrn? „Pilatus wusste, dass sie ihn aus Neid überliefert hatten“ (Mt 27,18; Mk 15,10).