Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Vater und Sohn
1. Mose 37,1-4
„Und Jakob wohnte in dem Land, in dem sein Vater als Fremder geweilt hatte, im Land Kanaan“ (Vers 1). Auch er weilte jetzt „durch Glauben in dem Land der Verheißung wie in einem fremden“ (Heb 11,9), besaß ein Zelt und einen Altar, dort wo er sich zuerst „ein Haus gebaut“ und „ein Stück Feld gekauft“ hatte (1. Mo 33,17ff.; 35,1ff.). Es war einsam geworden um ihn her: Rebekka, seine Mutter, war nicht mehr - er hatte sie nicht wiedergesehen -; Debora starb; die letzte Erinnerung an sie, sein Vater Isaak starb, „alt und der Tage satt“, und auch seine Frau Rahel, die Geliebte, war bei der Geburt Benjamins, des Jüngsten, von ihm gegangen (Kap. 35,8.16 ff. 27 ff.). Auch Esau, nicht so gesinnt wie er, zog von ihm fort in ein anderes Land (Kap. 36,6), und ein neuer Abschnitt beginnt in Jakobs Leben.
„Dies ist die Geschichte Jakobs: Joseph, siebzehn Jahre alt, weidete die Herde mit seinen Brüdern“ (Kap. 37,2). Die „Geschichte Jakobs“, das will sagen: Die Geschichte des Patriarchen und seiner Söhne (“Geschichte“ wörtl.: „Erzeugungen“ (ein einleitendes Wort, das wir zehnmal im 1. Buche Mose finden). Der Ausdruck deutet also auf die Nachkommenschaft hin.); aber wie bemerkenswert, dass unser Blick hierbei sogleich auf Joseph gelenkt wird! Er, der Vorjüngste, nimmt einen besonderen Platz in diesem Haus und damit in der „letzten Geschichte“ (Vergl. 2. Chr 9,29 u. a.) seines Vaters ein, er ist von Anfang an der „Abgesonderte unter seinen Brüdern“.
Wie David, jenes andere Vorbild des Herrn, war auch Joseph in seiner Jugend ein Hirte und hatte seine Treue in einem geringen Dienst zu erweisen. Scheinbar floss seine Jugend ruhig und glücklich dahin; doch wir hören sogleich, dass auch der Siebzehnjährige schon durch ernste Proben ging, indem er Zeuge hässlicher Reden wurde, die seine Brüder gegen den Vater führten. Was hätte näher gelegen, als dass er, der „Knabe“, diesen Einflüssen erlag, dass auch sein Herz und sein Mund sich dem Bösen, das ihn umgab, anpassten!
Aber Joseph tat das nicht, sondern er „brachte ihre üble Nachrede vor ihren Vater „. (Vers 2) „Üble Nachrede“ - welch ein hässliches Ding! „Redet nicht gegeneinander, Brüder“ (Jak 4,11). „Legt nun ab alle Bosheit und ... alles üble Nachreden“ (1. Pet 2,1). Gottes Wort weiß uns nicht genug vor diesem Reden hinter dem Rücken und dem „tödlichen Gift“ der Zunge zu warnen. Welch einen „großen Wald“ zündet dieses „kleine Feuer“ oft an! Hier aber richtete es sich gegen den eigenen, alten Vater. Wie böse war das! „Ein Geschlecht, das seinem Vater flucht“ - „Ein Auge, das den Vater verspottet“ - „Verflucht sei, wer seinen Vater oder seine Mutter verachtet!“ (Spr 30,11.17; 5. Mo 27,16). „Wer Vater oder Mutter schmäht, soll des Todes sterben“ (Mt 15,4).
Ist das Wort Gottes wirklich für uns maßgebend, ihr jungen Leser und Leserinnen, - auch da, wo nur eine verborgene Saat gesät wird? Joseph, der Siebzehnjährige, besaß noch kein geschriebenes Wort, aber er machte sich nicht mit dem Bösen eins; er trat auf die Seite seines Vaters. Wie schön, wenn es von Vater und Sohn heißt, wie von Isaak und Abraham: „Und sie gingen beide miteinander“! (1. Mo 22,6.8.19).
Freilich, Joseph ging noch einen Schritt weiter, indem er „die üble Nachrede vor ihren Vater brachte“. Das kann am Platz gewesen sein und auch nicht; das Wort Gottes tadelt ihn deswegen nicht, und ich denke, wir wollen es ebenso halten. - Den Grundsätzen der Welt entspricht es freilich nicht; wir aber werden ermahnt, nicht nur „nicht Gemeinschaft zu haben“ mit den Werken der Finsternis, sondern „vielmehr aber straft sie auch“, oder „stellt sie bloß“ (Eph 5,11 ff.). Taten die Hausgenossen der Chloe nicht recht, wenn sie dem Apostel von den traurigen Zuständen in Korinth berichteten? Paulus erkennt ihre Beweggründe an, denn sonst würde er ihren Namen wohl kaum genannt haben (1. Kor 1,11; vergl. 5,1; 11,18 ). - Auch Christus zeugte von Israel sowohl wie von der Welt, „dass ihre Werke böse waren“; auch Er wurde, wie Joseph, ein Zeuge wider Seine Brüder (Joh 7,7). Und Ihm wurde dasselbe zuteil wie Joseph auch: Die Liebe des Vaters und der Hass Seiner Brüder.
„Und Israel liebte Joseph mehr als alle seine Söhne, weil er der Sohn seines Alters war; und er machte ihm einen langen Rock“ (1. Mo 37,3). Auch hier ist die Frage nicht wichtig für uns, ob Jakob recht daran tat, seinen vorjüngsten Sohn so vor den anderen auszuzeichnen. War es nicht Glaube, der ihn jetzt schon in kommender Herrlichkeit sah, war es nicht billig und gerecht, ihn mit dem Kleid persönlicher Heiligkeit und Reinheit zu schmücken? (Der „lange Rock“ war, soviel man weiß, „ein bis auf die Knöchel reichendes Unterkleid mit Ärmeln und farbigen Rändern, das nur Vornehme trugen.“ (Anm. der Elberf. Übers.) Isaak hatte Esau lieber als Jakob, weil „Wildbret nach seinem Mund war“ (Kap. 25,28), aber Israel liebte Joseph gewiss nicht nur, „weil er der Sohn seines Alters war“, sondern auch, weil er in solch entschiedener Weise für die Ehre seines Vaters eintrat.
Dieses besondere Verhältnis des Sohnes zum Vater rief den Neid und den Hass seiner Brüder hervor: „Und als seine Brüder sahen, dass ihr Vater ihn mehr liebte als alle seine Brüder, da hassten sie ihn“ (Vers 4; vergl. Vers 5.8.11.18 ff.). Ach, was ist das menschliche Herz! Stets ist es mit dem Nächsten beschäftigt, statt mit sich selbst, stets ärgert es sich an dem Guten, anstatt mit dem Bösen zu brechen! Das war die Gesinnung eines Esau und eines Kain (Kap. 4,5; 27,41), das war auch die unsrige; denn ehe „die Güte und Menschenliebe unseres Heilandes Gottes erschien“ und uns errettete, „führten auch wir unser Leben in Bosheit und Neid, verhasst und einander hassend“ (Tit 3,3 ff.) - ganz so, wie Josephs Brüder und wie die Zeitgenossen des Herrn.
Denn in den Brüdern Josephs sehen wir, wie schon angedeutet, ein Vorbild auf die Juden in späterer Zeit, wie in Joseph ein solches auf Christus. Er war der Gegenstand der Liebe des Vaters von Ewigkeit her (Spr 8,30); in besonderer Weise aber doch, als Er auf diese Erde kam, um Sein Werk zu vollbringen. Auch Ihm wurde der Schmuck des „langen Rocks“ zuteil; zweimal rief Gott über Ihm aus: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17; 17,5), und auch die „vielen Werke“, die der Vater Ihm gab, zeugten von Ihm - jene „mächtigen Taten und Wunder und Zeichen“, durch die „Gott ihn erwies“ an Seinen Brüdern (Joh 5,36; 10,32; Apg 2,22). Er aber trat für die Ehre des Vaters ein, „wie geschrieben steht: Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“ (Röm 15,3). Und Er trat als Zeuge wider Seine Brüder auf, und als Antwort schlugen Ihm ihr Hass und ihre Feindschaft entgegen. „Die Seinen nahmen ihn nicht an“ (Joh 1,11). Wie war es bei Joseph? „Und sie vermochten nicht, ihn zu grüßen“ (1. Mo 37,4).