Der Abgesonderte unter seinen Brüdern
Josephs Eltern und Geburt
1. Mo 30,22.23
Wunderbare Worte sind es, die wir über Joseph und seinen Stamm im Segen Jakobs wie im Segen Moses geschrieben finden. An beiden Stellen wird er „der Nasir“ oder „Abgesonderte unter seinen Brüdern“ genannt und aus dem Mund des greisen Israel hören wir über den „jungen Fruchtbaum am Quell“ das einzig dastehende, geheimnisvolle Wort: „Die Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen meiner Voreltern bis zur Grenze der ewigen Hügel. Sie werden sein auf dem Haupt Josephs ...“ (lies Kap. 49,22ff. und 5. Mo 33,13ff.). Wahrlich, es lohnt sich, das Leben eines also Gesegneten zu betrachten!
Als Jakob, der Vater Josephs, nach Paddan-Aram kam, um eine Frau aus seiner Verwandtschaft zu suchen, geschah dies nicht auf Grund jener ruhigen, klaren Erkenntnis der Gedanken Gottes, wie wir sie bei Abraham im Blick auf Isaak sehen. Nein! Er befand sich auf der Flucht vor dem tödlichen Hass Esaus, demgegenüber er sich zweimal als wahrer „Überlister“ (Jakob“ heißt Überlister (vergl. 1. Mo 27.36)) gezeigt hatte (vergl. 1. Mo 24,2 ff. mit 27,41 bis 28,2). Und während Elieser bei seiner Brautwerbung von einfältigem Vertrauen und von dem Bewusstsein seiner völligen Abhängigkeit geleitet wird, lesen wir bei Jakob von alledem nichts – nicht einmal, dass er gebetet habe. Keine anderen Gefühle und Gesichtspunkte scheinen ihn zu leiten, als die natürlichen.
Und welch ein Gegensatz auch sonst! Jakob zog kein „silbernes und goldenes Geschmeide“ hervor, um die künftige Braut zu schmücken, er war bettelarm. „Einer von den Steinen des Orts“ hatte dem Flüchtling zum Kopfkissen gedient, und weder in seinem Geleit noch in seiner Hand befand sich irgendein Beweis seines reichen Erbes. Diesem allen entsprach auch der Empfang: Elieser wurde von Rebekka bedient, aber Jakob bediente Rahel und ihre Herde, und er musste – wir kennen seine Geschichte gut – auch um Rahel dienen. Während Isaak vor Freund und Feind „ein Gesegneter des HERRN“ war, stand Jakob, der Ränkereiche, unter der Zucht Gottes. Eine harte Schule, ein langer und harter Dienst! Hören wir ihn selbst, wie er zu Laban sagt: „Zwanzig Jahre bin ich nun bei dir gewesen. . . Am Tag verzehrte mich die Hitze, und der Frost in der Nacht, und mein Schlaf floh von meinen Augen. Zwanzig Jahre bin ich nun in deinem Hause gewesen; ich habe dir vierzehn Jahre gedient für deine beiden Töchter und sechs Jahre um deine Herde, und du hast meinen Lohn zehnmal verändert“ (lies Kap. 31,38–41). „Jakob floh nach dem Gebiet von Aram und Israel diente um eine Frau und hütete um eine Frau“ (Hos 12,13). Wie erniedrigend war das! Welch ein armer, geknechteter Flüchtling war der Vater Josephs!
Stand es mit seiner Mutter besser? Im Gegenteil: Bei Rahel finden wir sogar, dass sie dem Götzendienst ergeben war, anfangs ohne, später mit Wissen Jakobs! (1. Mo 31,19.32; 35,2). Und so schwankend wie ihre Grundsätze war auch ihr Vertrauen: Von Neid und Verzweiflung erfüllt, forderte sie von ihrem Mann das, was ihr allein Gott zu geben vermochte, und bediente sich menschlicher Hilfsmittel, die der Glaube verschmäht haben würde (1. Mo 30,1 ff.; 14 ff.). Das war die Mutter Josephs.
„Und Gott gedachte an Rahel“ (Kap. 30, 22). Wie wunderbar! – Er hatte auch an Lea gedacht, „als er sah, dass sie gehasst war“ (Kap. 29,31). Auch an Hanna, die Mutter Samuels, – damals, als „ihre Widersacherin sie kränkte mit vieler Kränkung“ (1. Sam 1,6.19). – Als das Gericht der Sintflut seinen furchtbaren Höhepunkt erreicht hatte, „gedachte Gott des Noah und an alle Tiere und alles Viehes“ in der Arche und ließ die Wasser sinken (1. Mo 8,1). Und später, als das Geschrei der Kinder Israel wegen ihres Dienstes zu Gott hinaufstieg, heißt es: „Und Gott hörte ihr Wehklagen, und Gott gedachte seines Bundes ... und Gott sah die Kinder Israel, und Gott nahm Kenntnis von ihnen“ (2. Mo 2,24.25). Welch ein Gott! Auf dem Schauplatz menschlich-irdischer Schwachheit und Hilflosigkeit entfaltet sich so gern die Fülle Seines unergründlichen, herablassenden Erbarmens!
„Und Gott hörte auf sie und öffnete ihren Mutterleib.“ Das ist gewiss ein Beweis, dass Rahel trotz ihres schwankenden Vertrauens auch zu Ihm gerufen hatte (vergl. 1. Mo 30,6). Ach, Er hört ja so gern! Gewiss steigt auch in unseren Tagen aus tausendfacher Not und Hilflosigkeit mancher Schrei zu Ihm empor, und ebenso gewiss ist, dass Er hört. „Dieser Elende rief, und der HERR hörte“ (Ps 34,7). Ja, „während sie noch reden, werde ich hören“ (Jes 65,24). Lieber Leser, benutzen wir fleißig diesen Weg? Er selbst fordert uns „am Tag der Bedrängnis“ dazu auf (Ps 50,15), und die Geschichte des vierzehnjährigen Ismael, der verschmachtend unter dem Strauch in der Wüste liegt, bestätigt uns, dass Seine Hilfe an keine anderen Voraussetzungen gebunden ist als die, dass wir nach ihr verlangen. Er erwartet weder Kraft noch Aufraffen von uns; der Engel Gottes rief der Hagar vom Himmel her zu: „Fürchte dich nicht! denn Gott hat auf die Stimme des Knaben gehört, da, wo er ist.“ Ist das nicht tröstlich? sollte uns das nicht Mut geben?
So waren die Umstände, die der Geburt Josephs, des Sohnes der Verheißung, vorangingen. „Und sie wurde schwanger und gebar einen Sohn“ (1. Mo 30,23). Zehn Söhne hatten Lea und die Mägde dem Jakob geschenkt, bis der geboren wurde, auf den Gott in den letzten Kapiteln dieses Buches in besonderer Weise unsere Gedanken lenkt. Nicht einer der Söhne der Frau, die Laban durch Betrug, d. i. nach dem Fleisch, dem Jakob gab, noch einer von denen, die ihm die Mägde gleichsam in Knechtschaft gebaren, wurde der Retter und Mittelpunkt für die damalige Welt, sondern Joseph, der Sohn der Rahel (1. Mo 41,53–57). Ihm wurde das Erstgeburtsrecht zuteil (1. Chr 5,1.2), und er ist eins der schönsten und vollkommensten Vorbilder auf Christus, sei es in seiner Erniedrigung und Verwerfung, sei es in seiner Erhöhung.