Betrachtungen über das Lied der Lieder
Kapitel 5
Kaum hat die geliebte Sulamith ihren Herrn eingeladen, in Seinen Garten zu kommen und von dessen köstlichen Früchten zu essen, als Er antwortet: „Ich bin gekommen.“ Er sagt nicht: „Ich will kommen“, sondern: „Ich bin gekommen.“ Schon während sie Ihn einlädt, ist Er gegenwärtig. Sein Herz ist stets bereit, auf den Ruf Seiner Geliebten zu hören und ihn zu beantworten. Glückliche Braut, ja, glückliches Volk, das sich in solch einer Lage befindet! Der König der Könige und Herr der Herren wartet auf unseren Ruf und ist bereit, sofort zu antworten. Die Früchte des Geistes sind stets wohlgefällig für Ihn und hier findet Er sie in reicher Fülle, und Er nimmt mit tiefer Freude Platz an dem Mahl, das die Liebe Ihm bereitet hat.
„Ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester, meine Braut, habe meine Myrrhe gepflückt samt meinem Balsam, habe meine Wabe gegessen samt meinem Honig, meinen Wein getrunken samt meiner Milch. Esst, Freunde trinkt, und trinkt euch fröhlich, Geliebte!“ (Vers 1). Diese verschiedenen Gewürze, Speisen und Getränke mögen wohl ein bildlicher Ausdruck sein von den Wirkungen des Geistes Gottes in der Seele mittels der Wahrheit. Vielleicht fließen Tränen, bitterer als Myrrhe, aus unseren Augen in dem tiefen Gefühl vergangener Sünden, verlorener Tage, versäumter Gelegenheiten für die Verherrlichung unseres Herrn; aber sie sind süßer als Honig und wohlriechender als Balsam für das Herz Christi.
Der Herr findet mancherlei köstliche Frucht in Seinem Volk; und mit allem, was von dem Geist ist, hat Er volle Gemeinschaft, es gereicht zu Seiner innigen Freude. „Ich habe gesammelt ... ich habe gegessen ... ich habe getrunken.“ Er nimmt gleichsam von allem. In dem geförderten Christen mag Er etwas finden, was an die Kraft des Weines erinnert, in dem Kindlein in Christus die süße, liebliche Milch. – Was hast du für deinen Herrn, meine Seele? Was kann Er von dir einsammeln? was kann Er essen, was kann Er trinken von dem Deinigen? Was ist lieblicher als Demut und Einfalt? Was ist ehrender für den Herrn als ein Geist völliger Abhängigkeit von Ihm? Was erfreut Sein Herz mehr als ein täglich wachsendes Verlangen, Ihm zu dienen und Gott zu verherrlichen?
Viele werden teilnehmen an dem königlichen Mahl, von dem in unserem Vers die Rede ist. Zahlreich, sehr zahlreich sind die „Freunde“ des Bräutigams; und alle werden an dem Tage Seiner Herrlichkeit in Seine Freude eingehen. Wunderbarer, lang ersehnter Tag himmlischer und irdischer Herrlichkeit! Alle Herzen werden jene freudenvolle Einladung hören und durch sie bewegt werden: „Esst, Freunde; trinkt und trinkt euch fröhlich, Geliebte!“ Die „natürlichen Zweige“, die so lange aus dem Stamm der Verheißung ausgebrochen waren, werden wie der Apostel sagt, wieder eingepfropft werden (Röm 11). An jenem Tag, dem Tag der Wiederherstellung Israels, „wird Jakob Wurzel schlagen, Israel blühen und knospen; und sie werden mit Früchten füllen die Flächen des Erdkreises“ (Jes 27,6). Welch ein Fest wird dann durch das wiederhergestellte Israel allen Völkern der Erde bereitet werden! Die Fläche des Erdkreises wird mit Früchten gefüllt sein. „Und der HERR der Heerscharen wird auf diesem Berg allen Völkern ein Festmahl von Fettspeisen bereiten, ein Festmahl von Hefenweinen, von markigen Fettspeisen, geläuterten Hefenweinen“ (Jes 25,6). Und wiederum: „Und es wird geschehen an jenem Tag, da werde ich erhören, spricht der HERR: ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören; und die Erde wird das Korn und den Most und das Öl erhören; und sie, sie werden JisreeI erhören. Und ich will sie mir säen im Land“ (Hos 2,23-25).
Aus dem Neuen Testament wissen wir, dass an jenem Tag „der Himmel“ im Besitz Christi und Seiner verherrlichten Heiligen sein wird. Der HERR „wird den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören“. Christus, in dem dann alle Dinge im Himmel und auf Erden zusammengebracht sein werden, wird Der sein, an Den Sich von der Erde aus alles Flehen richten wird, und durch Ihn und Seine verherrlichten Heiligen werden jene Segnungen der Erde zugeführt werden. „Und die Erde wird erhören das Korn und den Most und das Öl.“ Keine Armut, keine Not wird dann irgendwo herrschen. Die Stimme der Klage wird nicht mehr gehört werden auf den Straßen. Das allgemeine Seufzen der Schöpfung wird verstummt sein; stattdessen werden Lob- und Dankeslieder überall ertönen. „Und sie, sie werden Jisreel erhören.“ Jisreel bedeutet: den Gott sät. Deshalb folgt auch unmittelbar darauf: „Ich will sie (Israel) mir säen in dem Land.“
So wird eine ununterbrochene Kette von Segnungen bestehen, von dem Thron des HERRN herab, der Quelle von allem, bis zu dem Genuss aller Segnungen dieses Lebens seitens der Menschenkinder; und der Platz, den das wiederhergestellte Israel in dieser wunderbaren Kette einnimmt, ist der Platz des Samens Gottes, gesät von dem HERRN und für Ihn in dem Land und mit Früchten füllend die Fläche des Erdkreises. Der Himmel, im Besitz Christi und der verherrlichten Kirche stehend – das wiederhergestellte Israel oder Jisreel, der Same Gottes hienieden – eine allgemeine Segnung auf der ganzen Erde, ein Überfluss an Korn, Wein und Öl – Krieg und Gewalttat für immer dahin – welch eine Kette von Segnungen! Preis und Ehre sei Ihm, der solche wunderbaren Dinge tut!
Lasst uns hier noch einen Augenblick stillstehen, mein Leser, und über den Kreis des Segens nachsinnen, der uns hier vorgestellt wird. Lasst uns auch vorwärts blicken zu dem glückseligen Tag hin, an dem Er, der so lange abwesend war, wiederkehren und zu Seinem auf Ihn harrenden Volk sagen wird: „Ich bin gekommen – ich bin in meinen Garten gekommen, meine Schwester, meine Braut.“ Dann werden die Verheißungen, die den Vätern gemacht wurden, ihren Kindern erfüllt werden, nach dem Wort des Herrn. Christus und die verherrlichten Heiligen droben, das wiederhergestellte Israel in dem gelobten Lande hienieden, und um Israel her alle Völker der Erde, miteinander verbunden durch diese herrliche Kette allgemeinen Segens: welch ein weiter Kreis von „Freunden“. Welch ein Fest der Liebe! Und welch ein freudiger Willkommensgruß aus dem Herzen Dessen, der „Herr über alles“ ist: „Esst, Freunde; trinkt und trinkt euch fröhlich, Geliebte!“
„Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! mein Geliebter! er klopft: Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht.“ (V. 2). In diesem traurigen Bekenntnis der Braut begegnen wir einer Erfahrung, durch die viele Gläubige gehen, und die unsere eingehende Betrachtung verdient. Der weitaus größte Teil der Christen ist viel mehr mit sich und seinen wechselnden Gefühlen beschäftigt, als mit dem Wort Gottes; und dies ist eine Quelle endloser Beunruhigungen und Verlegenheiten für die Seele. Wie oft geschieht es, dass Gläubige, wenn sie eine Veränderung der Gefühle in sich bemerken, daraus sofort den Schluss ziehen, dass Christus nicht mehr derselbe für sie sei, der Er einst war. Sie beurteilen den Herrn nach ihren Gefühlen, anstatt an Ihn zu glauben nach Seinem Wort. Sie blicken auf sich, anstatt auf Christus, und lassen sich leiten durch Gefühle, statt durch die unveränderliche Wahrheit Gottes.
Vor wenigen Stunden noch, wenn wir der Ordnung in unserem Liede folgen dürfen, stand die Braut in der vollen Freude der Gegenwart ihres Herrn. Sie war froh und glücklich, wie viele Gläubige, solange der volle Strom eines freudenreichen Beisammenseins fließt. Nachdem aber das Mahl beendet ist und die Gäste sich entfernt haben, begibt sie sich zur Ruhe. Und ach! bald, sehr bald kommen Gefühle über sie, die sie tief beunruhigen. „Ich schlief, aber mein Herz wachte.“ Sie ist ruhelos, fühlt sich unbehaglich und unglücklich. Ihr Herz sehnt sich nach Christus, aber sie ist außerstande, sich aufzuraffen. Welch ein trauriger Zustand, wenn Jesus an der Tür steht und klopft! Aber es ist gar kein ungewöhnlicher Fall. Ein Gläubiger mag im Großen und Ganzen noch recht stehen; aber wenn er in einen schläfrigen Zustand verfällt, werden geistliche Pflichten eine Bürde für ihn, und sie werden entweder ganz vernachlässigt oder doch nicht mit freudigem Herzen erfüllt. Das ist ein betrübender Seelenzustand. „Ich schlief, aber mein Herz wachte.“ Wir tun gut, die beiden Seiten dieses „aber“ zu beachten. Die Braut ist weder im Schlaf, noch ist sie wach. Auf der einen Seite ist bei ihr ein schlummerndes Gewissen, auf der anderen ein wachendes Herz. Deshalb kann sie keine Ruhe finden. Und genau so ist es, wenn wir sorglos werden im Blick auf die Dinge des Herrn. Aber welch ein betrübendes Bild von Tausenden und aber Tausenden, die fröhlich und glücklich im Herrn sein sollten, stets bereit für alles, was es im Dienste für Christum und für unsterbliche Seelen zu tun gibt!
Wenden wir uns jetzt zu der lieblichen Seite dieser belehrenden Szene. Hat der Herr sich verändert, weil die Braut sich verändert hat? Der Unglaube würde sofort bereit sein, zu sagen: ja; und was würde die Folge sein? Unwürdige Gedanken über Christus und endlose Zweifel und Befürchtungen. Wenn unsere Gedanken uns leiten, so sind die Worte Christi wertlos. Ist es denn wirklich so, dass die Kälte und Gleichgültigkeit der Braut Ihn nicht im Geringsten gegen sie verändert haben? Die Liebe Christi zu Seiner Braut verändert sich keinen Augenblick, trotz ihrer Unbeständigkeit und ihrer mannigfachen Rückschritte. Und wahrlich, keine bessere Antwort könnte auf jene Frage gegeben werden als die Worte der schläfrigen Braut selbst. Trotz ihrer Schläfrigkeit erkennt sie Sein Klopfen und unterscheidet Seine Stimme; und immer noch sagt sie: „Mein Geliebter!“ In ihrem Inneren gibt es ein Leben, das stets auf Seine Stimme antworten muss, trotz aller Fehler, die sie macht. „Horch! mein Geliebter!“ sagt sie. „Er klopft: mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht“. Hier haben wir, geliebter Leser, den armen, stets veränderlichen Gläubigen vor uns, und ihm gegenüber unseren teuren, unveränderlichen Herrn. Was denkst du? Sollen die törichten Einbildungen unserer Herzen in einem solchen Fall unser Führer sein hinsichtlich der Gedanken Christi, oder soll es Gottes untrügliches Wort sein? Was könnte klarer und bestimmter sein, als das Wort, mit dem wir uns beschäftigen? Solltest du deshalb je berufen werden, mit zurückgegangenen, aber beunruhigten Seelen zu verkehren, möchte dann dein Verhalten, möchten deine Worte die Gesinnung Christi ausstrahlen, wie sie sich hier kundgibt!
Voll der geduldigsten, rührendsten Liebe sind die Worte, die der Bräutigam an Seine schwache und irrende Braut richtet. Statt Sich durch ihren traurigen Seelenzustand beeinflussen zu lassen und ihr Vorwürfe zu machen wegen ihrer Undankbarkeit und Gleichgültigkeit gegen Ihn redet Er sie zärtlicher an, als bei irgendeiner früheren Gelegenheit. „Mach mir auf“, sagt Er, mir, deinem Messias, deinem Geliebten. Ich bin Jesus; warum solltest du die Tür vor mir verschließen? „Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene“. Nie vorher hat Er sie Seine „Vollkommene“ genannt. Dieser Ausdruck Seiner bewundernswerten Gnade war für den Tag ihrer Schwachheit aufgespart geblieben. Und nie vorher hatte Er von dem „Tau“ und den „Tropfen der Nacht“ gesprochen, die jetzt auf Seinem Pfade hingebender, selbstverleugnender Liebe auf Ihn gefallen waren. Nichts kann Seine Liebe von ihrem Gegenstand und Ziel abwenden. Aber ach! Sein liebevoller Ruf macht nur wenig Eindruck auf das schlafbeschwerte Gewissen der Braut.
Gibt es hier irgendetwas, das einer Veränderung in der Liebe Christi zu Seiner Braut gleichsähe? Wenn es etwas gibt, so ist es dies, dass Er Seine Liebe jetzt nur umso völliger offenbart und sie umso zärtlicher anredet. Redet Er nicht in einer Weise zu ihr, die ganz und gar dazu angetan ist, das Herz zu schmelzen? Er spricht gerade so, als wenn es eine große Gunstbezeugung für Ihn wäre, wenn sie Ihn unter ihr Dach kommen ließe; oder wie ein müder Wanderer, der in einer finsteren und stürmischen Nacht vom rechten Wege abgekommen ist und nun um Unterkunft bittet. Auch ist es sehr bemerkenswert, dass Er sie nie vorher in so vielen zärtlichen Ausdrücken angeredet hat: „Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene.“ – Das also ist die Liebe Christi, und zwar Seine Liebe zu einer Irrenden, träge Gewordenen. Lasst uns sie wohl betrachten, mein Leser. Es gibt nur ein Herz, das sich niemals verändert. O wie sollten wir dieses Herz wert halten, diesem Herzen vertrauen, auf dieses Herz rechnen! wie sollten wir stets diesem unveränderlichen Herzen der vollkommensten Liebe nahe bleiben! Aber ach! welche Herzen haben wir! All dieser langmütigen, bewundernswerten Liebe begegnet die schlummernde Braut mit Gleichgültigkeit und beantwortet sie mit den nichtigsten Entschuldigungen.
„Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen?“ (V. 3). Ach! wie unempfindlich ist die Tochter Zion geworden gegenüber den Ansprüchen ihres Messias, ihres gnädigen Herrn. Welch eine verhärtende, alles Gefühl ertötende Sache ist doch die Sünde. „Erkenne und sieh, dass es schlimm und bitter ist, dass du den HERRN, deinen Gott, verlässt“ (Jer 2,19). Wenn wir uns einmal aus der Gegenwart des Herrn entfernt haben, wer kann dann sagen, wie weit wir von Ihm abirren oder auf wie viele Nebenwege wir geraten mögen. Schon der Gedanke an ein solches Verhalten ist erschreckend. Und je mehr wir unsere Brüder lieben und je geistlicher unser Urteil ist über jenes Übel, desto größer wird auch unser Schmerz sein über eine Seele, die ihrem Herrn den Rücken wendet. Welcher Diener des Herrn, dem das Wohl der Seelen und die Herrlichkeit seines Herrn am Herzen liegt, hat nicht schon im Stillen geweint über den abnehmenden Eifer und die immer mehr hinsterbende Energie eines einst ernsten, hingebenden Gläubigen? Das Herz des Hirten war so glücklich, so dankbar, so hoffnungsfreudig, als er die liebliche Frische der Seele für Jesus bemerkte. Immer eine der Ersten bei den Zusammenkünften der Gläubigen, das Gesicht strahlend vor Freude, wenn von Jesus die Rede war, – so war es einst; jedes Wort über Christus drang wie Freudenöl in ihr Innerstes, und wenn sie aus der Versammlung heimkehrte, so war es nur, um im stillen über das Gehörte weiter nachzusinnen und mit dem Herrn in der Einsamkeit Gemeinschaft zu machen.
Und jetzt? Ach, ein jeder, der einmal den Schmerz gefühlt hat, eine solche glückliche Seele irregeleitet zu sehen, weiß was es ist. Wie das grüne, frische Blatt des Sommers nach einer Zeit großer Hitze dürr und schlaff herabhängt, wie wenn ein heißes Eisen darüber gegangen wäre, so ist es auch mit der Seele, die durch irgendeine List des Feindes vom rechten Pfad abgelenkt worden ist. Ihre ganze Erscheinung und ihr ganzes Wesen haben sich verändert. Die Versammlungen werden nur noch selten besucht, und wenn sie kommt, empfängt sie nur wenig oder gar nichts. Das Antlitz hat seinen glücklichen, freudigen Ausdruck verloren; der Friede Gottes leuchtet nicht mehr aus ihm heraus, das Auge strahlt nicht mehr in dem alten Glanz. Die irrende Seele selbst meint, alles andere habe sich verändert; ach, sie lernt so schwer, dass die Veränderung sich in ihr selbst vollzogen hat. Schließlich ärgert sie sich vielleicht an irgendeiner geringfügigen Sache und – verlässt die Gemeinschaft der Gläubigen. Ihr Platz ist jetzt leer; und wohin ist sie gegangen? Ach, in den meisten Fällen kann der Herr allein diese Frage beantworten. Nicht dass uns das „Wohin“ gleichgültig sein sollte. Sicherlich nicht, aber der Herr allein vermag den Spuren der abgeirrten Seele zu folgen. Sein Auge, das nie schlummert, begleitet sie überall hin, und das Herz, das einst um ihrer Sünden willen so unsäglich litt, kann nie aufhören, für sie Sorge zu tragen. In der Weisheit Seiner Liebe mag Er wohl erlauben, dass der Abgeirrte die Bitterkeit seiner selbst erwählten Wege schmeckt, aber Er hat stets Mittel und Wege, die Seele zur Buße zu leiten und sie in Seine Gemeinschaft zurückzuführen.
„Mein Geliebter streckte Seine Hand durch die Öffnung (das Guckloch der Tür), und mein Inneres ward seinetwegen erregt“ (V. 4). Gott sei Dank! die Braut kommt zur Besinnung, sie wacht auf aus ihrem Schlummer. Die Hand des Herrn Selbst hat sie aufgeweckt, und sie antwortet auf Seine Liebe. Wohl ist die Antwort noch schwach, aber sie ist doch wahr und wirklich. Das Herz ist für Ihn erregt. Sie hat nie aufgehört, Ihn „ihren Geliebten“ zu nennen. Liebe für den Herrn war da trotz vielen Fehlens. Wenn aber das zarte, gnädige Klopfen der Liebe des Heilands unbeachtet bleibt, so wendet Er andere Mittel an. Er erkennt den Zustand des Herzens und weiß, was es gegen Ihn in Wallung bringen wird. „Würde Gott das nicht erforschen? denn er kennt die Geheimnisse des Herzens“ (Ps 44,22). Zuweilen erreicht Er durch ganz unerwartete Mittel das Gewissen; und indem das Licht in uns eindringt, entdecken wir, wo wir sind und was wir sind. Die Gnade triumphiert. Die Seele sucht wieder die Gegenwart des Herrn und das Glück, das in Ihm allein zu finden ist. Dennoch mag eine Zeit vergehen, bis sie von ihrem Fall ganz wiederhergestellt ist. Es mag viel Schmerz, Beugung und Demütigung geben, ehe sie in Seiner heiligen Gegenwart wieder wahrhaft zur Ruhe kommt. Verwirrt und beunruhigt, wie einer, der eben aus tiefem Schlaf erwacht, laufen wir vielleicht hin und her, und suchen den Herrn an einem Ort, von dem Er nie gesagt hat, dass Er da gefunden werden könne; denn das Heiligtum, nicht „die Stadt“, ist der Ort Seiner gesegneten Gegenwart.
„Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von fließender (d. h. von selbst ausfließender, kostbarer) Myrrhe am Griff des Riegels“ (V. 5). Gibt es, geliebter Leser, etwas Derartiges wie süße Tränen neben den bitteren? und könnten beide zu gleicher Zeit fließen? Was ist bitterer für den Geschmack als Myrrhe? Was angenehmer für den Geruch als wohlriechende Myrrhe? „Meine Hände troffen von Myrrhe, und meine Finger von fließender Myrrhe am Griff des Riegels.“ (Die Geschichte berichtet uns von einer morgenländischen Sitte, die viel zur Erläuterung des oben gebrauchten Bildes beitragen mag. Wenn nämlich eine Geliebte die Anträge ihres Liebhabers beharrlich zurückweist, so besucht dieser in der Nacht das Haus ihres Vaters oder das Haus, in dem die Geliebte wohnt. Rund um die Tür des Hauses hängt er Blumengewinde auf und bestreut die Schwelle ebenfalls mit wohlriechenden Blumen. Ferner bestreicht er die Riegel und Handgriffe der Tür mit duftenden Salben. Die ganze Handlung soll der Familie des Mädchens beweisen, dass seine Liebe, obgleich sie zurückgewiesen wird, echt ist.) Bestimmt und wirklich ist die Antwort, die die Braut jetzt auf die ausharrende Liebe ihres Bräutigams gibt. „Ich stand auf, um meinem Geliebten zu öffnen.“ Sie erholt sich von ihrer geistlichen Trägheit. Das Gefühl über ihre Sünde, dass sie die Tür nicht öffnete, als Er klopfte, ist Bitterkeit für ihre Seele, zugleich aber ist es vermischt mit den Gefühlen inniger Zuneigung zu Dem, Den sie vernachlässigt hat. Als sie die Tür erreicht, an der Er so lange gestanden hat, findet sie alles erfüllt von dem Wohlgeruch Seiner Gegenwart; sie fasst den Griff des Riegels, und ihre Hände triefen von Myrrhe und ihre Finger von fließender Myrrhe.
Nachdem sie so aufgewacht und zu einem Bewusstsein darüber gekommen ist, was sie getan hat, erfüllen tiefer Schmerz und bittere Reue, vermischt mit bewundernder Liebe zu ihrem guten und gnädigen Herrn, ihre Seele und überwältigen sie völlig. Es geht ihr wie einem, der nach schmerzlichen und traurigen Irrwegen sich endlich wieder an den Schauplatz früherer geistlicher Freuden zurückwagt. Der wohlbekannte Raum, der Anblick so vieler bekannter Gesichter, der Ton von Stimmen, die nie ganz vergessen waren und jetzt wieder ein lautes Echo in dem gebeugten Herzen wachrufen – alles, alles ergreift die Seele mit unwiderstehlicher Gewalt und erfüllt sie mit tiefer Bewegung. Alles erinnert an so viele vergangene Tage wahren, reinen Glücks und seliger Freude. Und indem das Herz wieder anfängt, zu der Liebe Jesu Vertrauen zu fassen, redet das Gewissen mit immer lauterer Stimme, und im tiefsten Inneren werden Seufzer wach wie:“O Herr Jesus, ich schäme mich und erröte tief vor Dir. Elend und unglücklich war ich alle die Tage, die ich fern von Dir umherirrte. o wie undankbar bin ich gewesen! Wie habe ich Deinen heiligen Namen verunehrt! An Dir, an Dir allein habe ich gesündigt! – Herr, kannst Du mir vergeben? Ist es möglich, Herr, nach all meiner Torheit, Verkehrtheit und Sünde? – Ach, Herr, lass mir wiederkehren die Freude Deines Heils! Herr, meine Seele hängt an Dir!“
„Ich öffnete meinem Geliebten, aber mein Geliebter hatte sich umgewandt, war weitergegangen. Ich war außer mir, während er redete. Ich suchte ihn und fand ihn nicht; ich rief ihn, und er antwortete mir nicht.“ (V. 6).
Wie einst Joseph auf allerlei Weise die Herzen seiner Brüder zu üben suchte, weil sie sich so schwer gegen ihn verschuldet hatten, so wird am Ende der Tage der wahre Joseph die Herzen Seiner Brüder, der Juden, zu üben suchen wegen ihres Zustandes vor Gott. Aber Joseph liebte seine Brüder deshalb nicht weniger, weil er sie durch eine so ernste Übung und Sichtung gehen ließ. Sein Herz war voll der innigsten Liebe, und sobald der richtige Augenblick gekommen war, machte es sich Luft in Ausdrücken der stärksten Zuneigungen. Welch eine Erquickung war es für ihn, als die Schleusen sich öffnen konnten und die so lange zurückgehaltene Liebe frei ausströmen durfte. Ähnlich wird es mit dem Herrn und dem jüdischen Überrest in den letzten Tagen sein. Kurz vor der Erscheinung des Herrn in Macht und Herrlichkeit zu ihrer völligen Befreiung, kurz vor der vollen Offenbarung Seiner Liebe als ihr Messias, werden die gläubigen Juden ähnliche Übungen durchmachen wie die Brüder Josephs.
Aber so treffend die Ähnlichkeit ist zwischen den Erfahrungen der Braut hier und dem, was zwischen Joseph und seinen Brüdern vorging, oder was dereinst zwischen Christus und dem Überrest vorgehen wird, so verkehrt und unrichtig wird das Bild, wenn man es auf die Kirche oder die Versammlung Gottes anwenden will. Die viel verbreitete Meinung, dass Christus sich zuweilen von dem Gläubigen abwende oder Sein Angesicht vor ihm verberge, um ihn auf die Probe zu stellen, findet keinerlei Unterlage in den Briefen. Bei dem Juden, der unter dem Gesetz stand, war selbstredend alles anders: Gott wohnte in dichter Finsternis, der Weg ins Allerheiligste war noch nicht offenbart, das vollkommene Opfer noch nicht gebracht; das Gewissen des Israeliten war noch nicht vollkommen gemacht, und deshalb genoss er keinen ungetrübten Frieden. Bezüglich des Christen hat sich die ganze Sachlage verändert; denn „die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet schon“ (1. Joh 2,8). Wir sind „angenehm gemacht in dem Geliebten“ (Eph 1,6). Unsere Sünden sind, nach dem Urteil Gottes, alle und für immer hinweg getan durch das eine Opfer Christi. Als das gerechte Gericht Gottes über die Sünde am Kreuz seinen Ausdruck gefunden hatte, zerriss der Vorhang im Tempel, wodurch der Weg ins Allerheiligste geöffnet wurde. Wir, tot in Sünden, und Christus, gestorben für die Sünde, sind miteinander lebendig gemacht worden; wir sind mit Ihm auferweckt und in Ihm mitversetzt in die himmlischen Örter, indem Gott alle unsere Übertretungen vergeben hat. Zwischen Gott und Christus in der Herrlichkeit kann es keinen Vorhang geben; und da wir in Christus sind, vollkommen gemacht vor dem Angesicht Gottes, so kann auch zwischen Gott und uns kein Vorhang sein. Überdies ist der Heilige Geist hernieder gekommen als der Zeuge und die Kraft unseres gegenwärtigen Einsseins mit dem auferstandenen und verherrlichten Christus; und Er gibt uns, da er in uns wohnt, den bewussten Genuss unseres Platzes und unseres Teils mit Christus in der Gegenwart Gottes. Schon der Gedanke, dass Christus Sein Angesicht vor denen verbergen könne, die mit Ihm und wie Er in dem vollen Licht Gottes sind, ist der ganzen Belehrung der Heiligen Schrift über die Kirche Gottes fremd. Leider ist es nur zu wahr, dass wir vergessen können, wie reich wir in Christus Jesus gesegnet sind; wir können vergessen, dass wir mit Ihm, dem aus den Toten Auferstandenen und gen Himmel Gefahrenen, verbunden sind, dass Sein Leben unser Leben ist, und dass Seine Freude auch unsere Freude sein sollte; und wenn wir diese Dinge vergessen, so mag es wohl sein, dass wir uns von Ihm entfernen und gegen Ihn sündigen. Und keine Sünde könnte so hassenswürdig für Gott sein als die Sünde eines Christen, und zwar gerade deshalb, weil er so nahe zu Gott gebracht ist. Ach! wenn wir sündigen, so müssen wir uns von Christus entfernt haben; keiner von uns könnte in Seiner Gegenwart sündigen. Denn in Seiner Gegenwart ist die Sünde auch uns aufs Tiefste verhasst, und wir haben Gewalt über sie.
Wenn der Heilige Geist von diesem Gegenstand spricht, so ist Seine Weise höchst zurückhaltend; Er gibt bloß die Möglichkeit zu, dass ein Christ sündigen könne. „Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat“, – oder mit anderen Worten: wenn es einmal vorkommen sollte, (was Gott verhüten wolle,) dass einer von euch sündigte, – „wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt“ (1. Joh 2,1.2). Es ist also eine göttliche Vorsorge getroffen für alle Bedürfnisse unseres Pilgerpfades hier auf Erden. Die Sachwalterschaft Christi, gegründet auf die Gerechtigkeit Gottes und auf eine vollbrachte Versöhnung, sichert uns die Reinigung von allem, womit wir uns auf unserem Weg verunreinigen können, und erhält uns tadellos vor dem Angesicht Gottes. Wie völlig steht dieser gesegneten Wahrheit die oben erwähnte Meinung entgegen, dass Gott zuweilen Sein Angesicht hinter einer Wolke verberge, um den Glauben und die Liebe Seiner Kinder auf die Probe zu stellen! Wir mögen jene kostbare Wahrheit nicht kennen oder durch Mangel an Treue sie nicht genießen, aber die Wahrheit Gottes bleibt unveränderlich dieselbe; und die Stellung der Kirche vor Ihm in Christo ist ebenso unerschütterlich wie die Wahrheit, die sie uns offenbart.
Wenn wir uns jetzt von der Kirche zu Israel wenden, so muss uns sogleich der bestimmt ausgeprägte Gegensatz zwischen beiden auffallen. Obwohl „zur Zeit des Endes“ der Überrest den Messias erwarten und mit aufrichtiger Liebe nach Ihm ausschauen wird, steht er doch noch unter dem Gesetz und muss dessen Druck fühlen. Gleich dem Totschläger in alten Zeiten werden die Israeliten gleichsam so lange in der Zufluchtsstadt bleiben müssen, bis eine Änderung des Priestertums eintritt (Vergl. 4. Mo 35). Die Erscheinung ihres gesalbten Herrn, in der Ausübung Seines Melchisedek-Priestertums, wird das große Gegenbild jener alten Verordnung ausmachen. Eine Änderung des Priestertums durch den Tod brachte den in den Zufluchtsstädten eingeschlossenen Totschlägern Befreiung und die Erlaubnis zur Rückkehr in ihr Land. „Nach dem Tod des Hohenpriesters darf der Totschläger in das Land seines Eigentums zurückkehren“ (V. 28). Israel wird in den letzten Tagen, kurz vor der Erscheinung des Herrn, durch ein tiefes Sichtungswerk gehen unter dem Gesetz; viele Schriftstellen beweisen dies klar und deutlich. Das ernste Gericht Gottes über ihre Sünde der Blutschuld muss gefühlt und von ihrem Gewissen anerkannt werden. Und wenn endlich der Herr erscheint, dann wird dieses gesegnete, obwohl ernste und schmerzliche Werk noch vertieft werden, aber dann nicht mehr unter Gesetz, sondern unter Gnade. „Und ich werde über das Haus Davids und über die Bewohner von Jerusalem den Geist der Gnade und des Flehens ausgießen; und sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben, und werden über ihn wehklagen wie die Wehklage über den einzigen Sohn und bitterlich über ihn Leid tragen, wie man bitterlich über den Erstgeborenen Leid trägt.“ (Lies sorgfältig Sach 12, auch 13 und 14).
Von welch ergreifender Schönheit ist diese Wirklichkeit und Glut der Liebe, die der hochgelobte Herr in den Herzen der Seinigen, selbst in all ihren Leiden und Drangsalen, hervorrufen wird und die uns hier im Hohenlied so lebendig und wahr entgegentritt. Wie innig sehnt sich das Herz der Braut nach ihrem Geliebten. Das ist in der Tat der Charakter des Hohenliedes. Während die Psalmen uns mehr mit den Übungen des Gewissens in dem Überrest bekannt machen, teilt uns das Hohelied vornehmlich die Gefühle und Zuneigungen des Herzens mit. Diese Seite ist auch in der vorliegenden Stelle vorherrschend, und wahrlich, es ist eine liebliche Seite. Wir begegnen hier den Kundgebungen der Bräutigams-Liebe Jesu und andererseits dem lieblichen und rührenden Widerschein dieser Liebe in dem Herzen der Braut. „Ich war außer mir, während er redete“, sagte sie. Sie konnte Ihn hören, aber nicht sehen, und ihr Herz entfiel ihr; sie hatte Ihn in einer bösen Stunde vernachlässigt, und Er hatte Sich, da Er ja noch auf dem Boden der Gerechtigkeit stand, entfernt und war weitergegangen. Aber Er liebte sie deshalb nicht weniger, wenn Er auch so handeln musste. Ja, wenn sie so tief fühlte, dass Er Sein Antlitz verbarg, Er fühlte es noch unendlich tiefer. Nie brannte das Herz Josephs in so heißer Liebe zu seinen Brüdern, als zu der Zeit, da er sich vor ihnen verstellen und verbergen musste. Und ein größerer als Joseph ist hier. „Jesus Christus, derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“ Beachte es wohl, geliebter Leser; es heißt nicht: Gott ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit, obwohl Er das sicherlich ist; sondern es handelt sich um „Jesus Christus“, unseren Heiland und Bräutigam. Von Ihm sagt der Heilige Geist, dass Er Sich niemals verändere. O möchten wir deshalb lernen, mehr auf Ihn zu vertrauen und niemals an Seiner Liebe zu zweifeln, wenn auch die Umstände sich gestalten, wie sie wollen. Seine Liebe ist unveränderlich, Seine Gnade kann uns nie, nie fehlen.
„Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: Sie schlugen mich, verwundeten mich; die Wächter der Mauern nahmen mir meinen Schleier weg“ (V. 7).
Die jetzt folgende Szene ist eine schmerzliche Szene. Die Braut hat ihre Gemeinschaft mit dem Geliebten verloren, und alles ist deshalb in Verwirrung. Gerade die Kraft und die Glut ihrer Liebe bringen sie in alle möglichen Verlegenheiten und Kümmernisse. Sie setzt sich gleichsam den Schmähungen der bloßen Bekenner drinnen aus, und der rohen Behandlung der Welt draußen. Was ihre Wege betrifft, so ist alles für den Augenblick in Unordnung; aber ihr Herz ist im Allgemeinen an seinem rechten Platz und schlägt aufrichtig für ihren Herrn. „Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, wenn ihr meinen Geliebten findet, was sollt ihr ihm berichten? Dass ich krank bin vor Liebe“ (V. 8). O wie wenige von uns können sagen: „Ich bin krank vor Liebe!“ Wie selten setzen wir uns durch die Glut unserer Zuneigungen für Jesus der Verfolgung und dem Spott der Welt aus! Möchten wir mehr von jener Gemeinschaft kennen, die das Herz brennend macht und die Lippen öffnet zu einem treuen, lebendigen Zeugnis für unseren „abwesenden Herrn!
„Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, du Schönste unter den Frauen? Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, dass du uns so beschwörst?“ (V. 9). Was könnte dem Herzen angenehmer sein, was es mehr zu Lob und Dank stimmen, als das Bewusstsein, dass wir für den, den wir am meisten lieben, schöner sind als alles andere? Sind wir versichert, dass das die Gedanken des Herrn über uns sind, so kann unsere Seele in süßem Frieden ruhen; wir verlangen dann nichts mehr. Wie erfreut es auch das Herz, wenn andere, die mit Neid und Eifersucht erfüllt sein könnten, von uns und zu uns reden, wie Er Selbst es tut! Höheres kann es wahrlich nicht geben.
Und so wird es binnen kurzem sein mit der Tochter Zion, der schönen Braut des wahren Salomo. Wenn sie unter ihrem Messias in die vollen Segnungen des Reiches eingeführt und von Ihm Selbst hoch geehrt sein wird, dann werden alle mit Freuden ihr zurufen: „Du Schönste unter den Frauen“. Die „Töchter Jerusalems“ stellen hier wohl die Städte Judas vor, die an dem Tag der zukünftigen Herrlichkeit einen niedrigeren Platz haben werden als Jerusalem, obgleich sie sich in demselben Kreis des Segens befinden. Jerusalem und die Juden werden dann den Ehrenplatz auf dieser Erde einnehmen, und alle Nationen werden ihre Gunst suchen und sich unter den Schutz ihrer Flügel begeben. „So spricht der HERR der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn Männer aus allerlei Sprachen der Nationen ergreifen, ja, ergreifen werden sie den Rockzipfel eines jüdischen Mannes und sagen: Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist“ (Sach 8,23). Das ist offenbar noch zukünftig. Aber der Geist der Prophezeiung geht noch weiter, wenn Er von der Wiederherstellung der Kinder Zions spricht, indem Er sagt: „Und Könige werden deine Wärter sein, und ihre Fürstinnen deine Ammen; sie werden sich vor dir niederwerfen mit dem Gesicht zur Erde und den Staub deiner Füße lecken. Und du wirst erkennen, dass ich der HERR bin: die auf mich harren, werden nicht beschämt werden“ (Jes 49,23).
Welch ein Wechsel für die Juden, wenn dies stattfinden wird. Welch eine gesegnete Veränderung für das so lange zu Boden getretene Volk. Wie wunderbar ist die Geschichte dieses Volkes, wenn wir seine Vergangenheit, seine Gegenwart und Zukunft miteinander vergleichen!, „Geht hin, schnelle Boten, zu der Nation, die geschleppt und gerupft ist, zu dem Volk, wunderbar seitdem es ist und hinfort, der Nation von Vorschrift auf Vorschrift und von Zertretung, deren Land Ströme beraubt haben“ (Jes 18,2). So war es einst; aber in welch gesegneter Weise wird am Ende alles verändert sein! Unter dem Bild einer Braut, eines Gegenstandes der Liebe, der Bewunderung und der Freude, ist wieder und wieder in der Schrift von dem Überrest Judas die Rede. Der hochgelobte Herr Selbst, der Überrest aus den anderen Stämmen Israels, samt den Nationen um sie her, werden miteinander ihre unvergleichliche Schönheit bewundern. An jenem Tage wird das ganze Volk, die zwei und die zehn Stämme, in sein Land zurückgeführt werden, und zwar jeder Stamm in sein eigenes Los.
Auf die Frage der Töchter Jerusalems: „Was ist dein Geliebter vor einem anderen Geliebten, dass du uns also beschwörst?“ antwortet die Braut sofort mit einer langen Beschreibung ihres Geliebten. Mit einer Schärfe und Genauigkeit, die nur aus einer unvermischten, tiefen Liebe hervorgehen können, entwirft sie ein Bild von Ihm. Ihre Gefühle und Zuneigungen sind mit doppelter Stärke erwacht gerade um der Vorwürfe willen, die sie sich machen muss. Ihre Erinnerung an Ihn ist umso lebhafter, weil sie Ihn vernachlässigt hat, und alle ihre Gefühle sind tief erregt, weil sie Ihn nicht findet. In diesem Gemütszustand beschreibt sie Ihn den Töchtern Jerusalems von Kopf bis zu Fuß. O wären wir doch auch allezeit bereit, in dem Augenblick, da sich die Gelegenheit dazu darbietet, von Jesus zu reden! Die Braut bedurfte keiner Zeit zum Nachsinnen. Erfreut über die Gelegenheit, von Ihm zu erzählen, ist alles, was sie braucht, ein hörendes Ohr und ein glaubendes Herz. Wie in anderen Tagen bei der Frau am Jakobsbrunnen, fließt auch ihr Herz über. Ihre Liebe nimmt gerade durch die Enttäuschung, die sie erfährt, einen leidenschaftlichen Charakter an. Es erleichtert ihr Herz, von Ihm reden zu können. Liebe ist die beste Gabe eines Evangelisten, Liebe zum Heiland und Liebe zu verlorenen Sündern. Und wenn diese Liebe sich zu einer leidenschaftlichen Höhe erhebt, wird der Mund beredt. Er beschreibt mit wahrhaft glühender Beredsamkeit die Schönheiten des Herrn. Lasst uns mit nichts Geringerem zufrieden sein, mein lieber Leser. Liebe zu Jesus, Liebe zu den Sündern ist gut, aber ein wahrer Evangelist hat mehr als das nötig. Trachte danach, dass dein Herz von wahrem Liebesfeuer durchdrungen sei. Bist du ein Evangelist? Bringe dann alles, was dich in deinem Werk hindern will, auf dem Altar gänzlicher Widmung und Hingebung zum Opfer. Bedenke, dass Evangelium-Verkündigen nicht Lehren ist, und Lehren nicht Evangelium-Verkündigen. Es handelt sich um Leben oder Tod, um ewige, unaussprechliche Segnung oder ewiges, unsagbares Weh. Denke an die ernste Zukunft und schreie zu Gott, dass nicht eine Seele ungesegnet und unberührt von dir weggehe!
O sprich von Ihm, von Seiner Liebe,
Die all Erkennen übersteigt;
Von Ihm, der von des Vaters Throne
Zu Sündern sich herabgeneigt;
Der kam, vom Tode zu erretten,
Uns zu befrei'n aus Satans Ketten!
Ja, sprich von Jesus, von der Gnade,
Die allen, allen Hilfe bot;
Von Seinem Leben, Seinem Wirken,
Von Seinem Leiden, Seinem Tod;
Und Seine Taten, Seine Worte
Verkünde laut an jedem Orte!“
„Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden.“ (V. 10). Damit beginnt die Braut die Beschreibung ihres Geliebten. Von David wird, ohne Zweifel im Blick auf seine jugendliche Kraft und Schönheit, gesagt: „Er war rötlich und von gutem Ansehen“. Aber in der Beschreibung, die hier von dem wahren David gegeben wird, mag der Geist der Prophezeiung wohl an die fleckenlose Reinheit Seiner Person und an den Charakter Seines Opfers erinnern wollen. „Weiß und rot“ sind bedeutungsvolle Worte. Es ist die Freude des Heiligen Geistes, uns immer wieder, sei es in Vorbildern oder in Gleichnissen, die Schönheit der Person Christi und den Wert Seines Opfers vor Augen zu stellen. „Könnt ihr mir etwas nennen, das weißer ist als Schnee?“ fragte einmal ein Sonntagsschullehrer seine jungen Schüler und Schülerinnen. „Eine Seele, die im Blut Jesu gewaschen ist“, antwortete ein kleines Mädchen; sie hatte Recht. Aber wenn ein Brand, der aus dem Feuer gerissen ist, der durch die Sünde geschwärzt und gleichsam schon dem Feuer des Gerichts verfallen war, weißer gewaschen werden kann als Schnee, so weiß wie das Licht des Himmels, kraft des kostbaren Blutes Christi, was muss dann, so mögen wir wohl fragen, die Reinheit und Heiligkeit Dessen sein, der durch Sein Blutvergießen ein so wunderbares Werk möglich gemacht hat? Ja fürwahr, schon eine einzige gerettete Seele beweist die herrliche Wirkung dieses Opfers. Aber was werden wir sagen, wenn wir bald im Himmel Myriaden über Myriaden von erlösten Seelen sehen werden, die das ewig neue Lied singen: „Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“
Geliebter Leser! was wir dann sehen werden mit unseren Augen, das sollten wir jetzt glauben mit unseren Herzen. Lasst uns deshalb sinnen über die kostbaren Worte: „Mein Geliebter ist weiß und rot, ausgezeichnet vor Zehntausenden.“ Was ist so weiß, so rein, so heilig wie die hochgelobte Person des Sohnes des Menschen, wie JHWA = Jesus, die Wurzel und das Geschlecht Davids? was so rot wie das Blut, das auf Golgathas Höhen aus Seinen Wunden floss? Wer wäre so würdig, das Haupt aller himmlischen Heerscharen zu sein, wie Er, der Anführer unserer Seligkeit?
So Jesus zu kennen, ist gegenwärtiges Heil, bedeutet Frieden und Glück. Zu wissen, dass meine Sünden ausgelöscht, ja für immer ausgelöscht sind durch Sein kostbares Blut, bedeutet vollkommene Segnung. Sie existieren jetzt nicht mehr vor Gott, dem Richter über die Sünde. Ich habe Vergebung aller meiner Sünden; ich weiß, dass ich sie habe, denn Gott sagt es; aber zu wissen, dass meine Sünden nicht nur vergeben, sondern auch ausgelöscht sind, ist ein noch weitergehender Gedanke. Wie ein Stein in die Tiefe des Meeres versinkt, um nie wieder gesehen zu werden, so sind die Sünden des Gläubigen alle in die Tiefen des Meeres geworfen; sie werden nie wieder zum Vorschein kommen. Und Gott ist durch das Werk Seines geliebten Sohnes so völlig verherrlicht worden, dass Er jetzt nicht nur Seine Gnade, sondern auch Seine Gerechtigkeit erweist, wenn Er alle segnet, die an Jesus glauben. Er kann jetzt Seine Liebe darin befriedigen, dass Er dem vornehmsten Sünder, der sich vor dem Namen des einst verachteten, aber jetzt hoch erhobenen Menschensohnes beugt, in Gnaden begegnet.
Nachdem die Braut den Töchtern Jerusalems zunächst in allgemeiner Weise betreffs ihres Geliebten geantwortet hat, beginnt sie jetzt Ihn genauer zu beschreiben. Geleitet durch den Geist Gottes, ist es ihre Freude, bei den mannigfaltigen Vortrefflichkeiten und Herrlichkeiten Seiner Person zu verweilen, und sie tut dies unter dem Bilde menschlicher Eigenschaften und Züge. Bei deren Betrachtung wollen wir uns hüten, ihre geheimnisvolle Bedeutung über die Grenzen der Schrift hinaus erforschen zu wollen. Der Ort, auf dem wir stehen, ist heiliges Land (Vergl. 2. Mo 3,5). Obgleich der Herr einst Seinem Knecht Moses nicht verbot, dem brennenden Dornbusch zu nahen, sagte Er ihm doch deutlich, dass es nur mit unbeschuhten Füßen geschehen dürfe. Möchte deshalb unser Auge gesalbt und unser Herz in einer anbetenden Stellung sein, wenn wir über den herrlichen König Zions nachsinnen.
Im 4. Kapitel zählt der Bräutigam, bei der Beschreibung der Schönheiten der Braut, sieben Züge auf. Wenn die Braut hier ein Bild von ihrem Geliebten entwirft, kommt sie bis zu zehn. Die bedeutungsvollen Zahlen drei und sieben finden sich so in Ihm vereinigt. Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf jede einzelne Schönheit.
„Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold“ (V. 11 a). Durch dieses gediegene, feine Gold mag zunächst eine erhabene Majestät angedeutet sein, wie in Dan 2,38: „Du bist das Haupt von Gold“. Dann aber wird das Gold in der Schrift oft als das Bild göttlicher Gerechtigkeit angewendet, in Verbindung mit der Person Jesu, wie z. B. in Jes 11,5 und Off 1,13. Von Ihm lesen wir auch: „Siehe, ein König wird regieren in Gerechtigkeit; und die Fürsten, sie werden nach Recht herrschen“ (Jes 32,1).
„Seine Locken sind herabwallend (oder geweIlt), schwarz wie der Rabe“ (V. 11 b). Die wallenden schwarzen Locken des Bräutigams stehen hier offenbar im Gegensatz zu dem langen schönen Haar der Braut, das Er mit einer Herde Ziegen vergleicht, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern. Während das lange Haar der Frau, obwohl es ihr zur Zierde und zum Schmuck gegeben ist, ein Zeichen ihrer Schwachheit und Unterwürfigkeit ist, deutet die Fülle rabenschwarzer Locken bei dem Bräutigam jedenfalls auf jugendliche Kraft und Frische hin. Von Ephraim heißt es in Hos 7,9: „Fremde haben seine Kraft verzehrt, und er weiß es nicht; auch ist graues Haar auf sein Haupt gesprengt, und er weiß es nicht.“ Aber an dem Herrn und König Ephraims werden nimmermehr Zeichen der abnehmenden Kraft gesehen werden. Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. – Manche denken auch, dass „das gediegene, feine Gold“ auf die Gottheit Christi hindeute, während sie in den „wallenden Locken“ eine Anspielung auf Seine Menschheit erblicken. Wie dem auch sei, jedenfalls ist dem Herzen des Gläubigen keine Wahrheit köstlicher als die Vereinigung der vollkommenen Menschheit unseres hochgelobten Heilandes mit Seiner ewigen Gottheit. Er ist „der Christus, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (VergI. Röm 9,5 und KoI 1,15–19).
„Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen, badend in Milch, eingefasste Steine“ (V. 12). In Off 5,6 sagt Johannes von dem Lamm, das er inmitten des Thrones sieht, dass es „sieben Augen habe, die die sieben Geister Gottes sind, die gesandt sind über die ganze Erde“. Die Zahl sieben bedeutet bekanntlich göttliche Fülle und Vollkommenheit, und die sieben Augen bezeichnen hier eine vollkommene, göttliche Einsicht. „Denn Augen des HERRN durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist“ (2. Chr 16,9). Der Gläubige hat nichts zu fürchten von dem durchdringenden Blick dieses Auges von siebenfältigem Glanz; für ihn ist das Auge des Herrn sanft, freundlich und lieblich wie die Augen von „Tauben an Wasserbächen“. – Wie schön ist es auch, die Richtung zu sehen, in die dieses Auge blickt! „Mein Auge auf dich richtend will ich dir raten“ (Ps 32,8). Was ist so ausdrucksvoll wie das Auge und welch ein Auge ist das Auge des Geliebten für die Seinigen. Sanft wie Taubenaugen, hell und klar wie in Wasser gebadet, weiß wie Milch, glänzend wie Edelsteine.
„Seine Wangen sind wie Beete von Würzkraut, Anhöhen von duftenden Pflanzen“ (V. 13). Blühende Schönheit, Wohlgeruch und Lieblichkeit werden durch diese Vergleiche vorgestellt. Welch ein Unterschied zwischen den vergangenen Tagen demütiger Niedrigkeit, in der Jesus auf Erden wandelte, und den kommenden Tagen wunderbarer Herrlichkeit. Die Tochter Zion hat in ihrer Blindheit Ihn einst verachtet und verworfen, gerade weil Er in solch niedriger Gestalt in ihrer Mitte erschien und Sich dem Willen des Menschen unterwarf, der Feindschaft ist gegen Gott. Ach! sie sahen Ihn, und da war kein Aussehen, dass sie Ihn begehrt hätten. Sein Aussehen war entstellt, mehr als irgendeines Mannes, und Seine Gestalt, mehr als der Menschenkinder. Er Selbst sagt durch den Mund des Propheten Jesaja: „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Vergl. Jes 50,6; 52,14; 53,2.3). Und im Propheten Micha lesen wir: „Mit dem Stab schlagen sie den Richter Israels auf die Wange“ (Kap. 4,14). Aber wegen all dieser Feindschaft und Grausamkeit wird die Tochter Zion dereinst herzlich betrübt sein. Die Decke wird dann von ihrem Herzen weggenommen werden. Wie sie einst von dem Angesicht Moses verschwand, wenn er sich der Stiftshütte zuwandte, so wird sie von den Herzen der Israeliten verschwinden, wenn sie Den anschauen werden, den sie durchstochen haben. Und statt zu sagen: „Er hatte kein Aussehen, dass wir ihn begehrt hätten“, wird es von Ihm heißen: „Alles an ihm ist IiebIich.“ Die einst geschlagenen, angespienen Wangen werden dann dem Herzen des Volkes wie „Beete von Würzkraut“, wie „Anhöhen von duftenden Pflanzen“ erscheinen. O was wird die Gnade, die anbetungswürdige Gnade Gottes bewirken. Welche Triumphe wird Seine erlösende, vergebende Liebe feiern! – O Herr, beschleunige diesen herrlichen, glückseligen Tag tausendjähriger Freude!“
„Seine Lippen (sind) Lilien, träufelnd von fließender Myrrhe „ (V. 13 b). Wir werden bei diesem Vergleich wohl an die wunderschöne rote Lilie des Ostens zu denken haben; aber der Gläubige kennt auch die Wahrheit jenes gesegneten Wortes: „Holdseligkeit ist ausgegossen über deine Lippen“ (Ps 45,3). Sie träufeln von fließender, süß duftender Myrrhe. Die Lippen Jesu, und sie allein, können der beunruhigten Seele Frieden zusprechen. Wahrer Friede wird nicht eher gekannt und genossen, bis man Ihm, und Ihm allein, Sein Ohr geschenkt hat. Der Herr Selbst sagt durch den Propheten: „Der Herr HERR hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den Müden durch ein Wort aufzurichten“; und: „Neigt euer Ohr und kommt zu mir; hört, und eure Seele wird leben“ (Jes 50,4; 55,3).
„Seine Hände (sind) goldene Rollen, mit Topasen besetzt“ (V. 14 a). Bei diesem Bild richten sich die Gedanken unwillkürlich auf die Werke dieser mächtigen, herrlichen Hände, auf ihr Wirken in der Schöpfung, in der Vorsehung und in der Erlösung. Das Gold und die Edelsteine deuten wohl auf die Schönheit, Gerechtigkeit, Dauerhaftigkeit und Vollkommenheit dieser Werke hin. „Die Taten seiner Hände sind Wahrheit und Recht, zuverlässig sind alle seine Vorschriften, festgestellt auf immer, auf ewig, aus geführt in Wahrheit und Geradheit“ (Ps 111,7.8). Und der Glaube kann jetzt von diesen mächtigen Händen, in der Sprache der geliebten Sulamith, sagen: „Seine Linke ist unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasst mich.“ Glückselig, dreimal glückselig alle, die in diesen ewigen Armen der Liebe ruhen! Ihre Wohnung ist der Gott der Urzeit, und unter ihnen sind ewige Arme (5. Mo 33,27). „Die Liebe hört nimmer auf.“
„Sein Leib (ist) ein Kunstwerk von Elfenbein, bedeckt mit Saphiren.“ (V. 14 b) Der Leib umschließt die inneren Teile des Menschen, die Eingeweide, das Herz u. a., so dass wir hier vielleicht an die tiefen und zärtlichen Gefühle des Herrn für die Seinigen denken dürfen. „Wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide“ (Ps 22,15). Die blaue Farbe des Saphirs erweckt den Gedanken an den himmlischen Charakter Seiner Gefühle. „Und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war es wie ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit“ (2. Mo 24,10). Rein und weiß wie das Elfenbein, hoch und herrlich wie der Himmel; so ist das Mitgefühl; das Erbarmen und die Liebe unseres hochgelobten Herrn. Darum ermahnt der Apostel die Philipper: „Wenn es nun irgendeine Ermunterung gibt in Christus, wenn irgendeinen Trost der Liebe, wenn irgendeine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen, so erfüllt meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes“ (Phil 2,1.2).
„Seine Schenkel (sind) Säulen von weißem Marmor, gegründet auf Untersätze von feinem Gold“ (V. 15). Unter diesem Bilde wird in der Schrift gewöhnlich der Wandel dargestellt. „Alle Pfade des HERRN sind Güte und Wahrheit“ (Ps 25,10). In den „Säulen von weißem Marmor“ erblicken wir wohl die Stärke, die Beständigkeit und Dauerhaftigkeit aller Regierungswege des Herrn, während die „Untersätze von feinem Gold“ andeuten, dass göttliche Gerechtigkeit alle diese Wege charakterisiert. Göttliche Gerechtigkeit, allmächtige Kraft und Pfade der „Güte und Wahrheit“ sind die Kennzeichen des großen Königs von Zion. „Dein Thron, o Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, und das Szepter der Aufrichtigkeit ist das Szepter deines Reiches. Du hast Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehasst; darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl über deine Genossen“ (Heb 1,8.9). „Und in den Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört und dessen Herrschaft keinem anderen Volk überlassen werden wird; es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten, selbst aber in Ewigkeit bestehen“ (Dan 2,44).
„Seine Gestalt (ist) wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern“ (V. 15 b). Nachdem die Braut ihren Geliebten von Kopf bis zu Fuß beschrieben hat, redet sie jetzt von Seiner ganzen Erscheinung, von der Gesamtheit aller jener herrlichen Züge; und diese Gestalt ist wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern. Dieses Bild schildert offenbar Seine Majestät als der Messias. Die gewaltigen, himmelanstrebenden Zedern des Libanon sind in der Schrift das ständige Symbol von Erhabenheit, Macht und Größe. Glänzend wie feines, gediegenes Gold, geschmückt mit jeder Schönheit und Tugend, duftend wie die schönsten Blumen und reichsten Gewürze, herrlich und majestätisch gleich den Zedern des Libanon – so ist die Person ihres Geliebten.
„Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit“ (V. 16a). Da die Lippen bereits genannt sind, so muss durch diesen Vergleich noch auf etwas anderes als die bloßen Worte des Herrn hingedeutet werden. Vielleicht bezieht er sich mehr auf die Ausdrücke der Gnade und Freundlichkeit Jesu, auf Seine vertrauten Mitteilungen, auf die innigen Kundgebungen Seiner Liebe und Freundschaft. Die Braut hat schon oft Seine Gnade geschmeckt; deshalb kann sie aus Erfahrung sagen: „Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit.“ Die Güte und Freundlichkeit, mit der Er ihr begegnet; selbst wenn sie gefehlt hat, ist genug, um in ihrem Herzen einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck von der Süßigkeit Seiner Gnade zurückzulassen. „Wenn ihr wirklich“, sagt der Apostel, „geschmeckt habt, dass der Herr gütig ist“. – Andere Ausleger denken, dass der süße, liebliche Klang der Stimme des Herrn hier gemeint sei.
Die Braut schließt die Beschreibung ihres Geliebten mit den Worten: „Und alles an ihm ist lieblich. – Das ist mein Geliebter, und das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems!“ (V. 16b). Die Worte fehlen ihr. Nicht dass sie müde wäre, von Ihm zu reden; aber sie ist unfähig, alles zu sagen, was Er ist. Darum endigt sie mit den alles umfassenden Worten: „Alles an ihm ist lieblich.“ Es ist, als wenn sie sagen wollte: Alle nur erdenkliche Lieblichkeit ist in Ihm; was die Seele wünschen und begehren kann, findet sich in Ihm; alle Schönheit gehört Ihm an. In Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit samt allen Tugenden der Menschheit. Er ist lieblich in Seiner Erniedrigung und lieblich in Seiner Erhabenheit; ja, alles an Ihm ist lieblich.
Und ist nicht der letzte Ton dieses herrlichen Liedes der schönste und vollste von allen? „Das ist mein Geliebter, und das mein Freund!“ Manche mögen sagen: Welch eine Beschreibung ist dies! Aber du, meine Seele, sage: Welch ein Schluss ist dies! „Das ist mein Geliebter, mein Freund.“ Er, Er Selbst ist mein! Die Braut verweilt mit tiefer Freude bei Seinen Eigenschaften; aber ihre Wonne erreicht den Gipfelpunkt, wenn sie sagen kann: „Er, in dem alle diese herrlichen Eigenschaften sich finden, ist mein! Deshalb sind auch alle Seine Eigenschaften mein.“ – Throne, Kronen, Szepter, Königreiche, Herrlichkeit und Segnung – alles ist Sein, und des Gläubigen in Ihm. Doch so herrlich diese Dinge auch sein mögen, sie sind doch nicht Er. Was wären sie alle wert ohne die Person des Geliebten? „Was wär' der Himmel ohne Dich und alle Herrlichkeit?“ Ohne Ihn wären alle jene Dinge, so herrlich sie sind, für die Liebe des erneuerten Herzens ein Hohn; gleich der Braut, deren Herz öde und leer sein würde, gebrochen auf der Schwelle ihrer neuen Heimat, wenn sie sähe, dass der, auf dessen Liebe sie rechnete, sie verließe und einer anderen nachginge. Das neue, hübsch eingerichtete Haus bliebe ja zurück; aber ach! das Herz des Geliebten, gerade das, wonach sie sich sehnte, ist anderswo. Der Anblick der Räume, in denen sie mit dem Mann ihrer Wahl so glücklich zu sein hoffte, erweckt nichts als Gefühle der bittersten Enttäuschung in ihr. Alles erinnert sie nur an ihr Elend und ihr Verlassensein. Ihr Glück ist dahin, für immer dahin.
So ist es nicht selten mit der Liebe auf dieser armen Erde. Wie manches liebende und vertrauende Herz ist so gebrochen und unglücklich gemacht worden durch die Herzlosigkeit dessen, dem es vertraute. Aber so ist nicht die Liebe Gottes; Ihm sei ewig Lob und Dank. Glückselig alle, die ihr Vertrauen auf Jesus setzen. Es ist schon der Himmel auf Erden, Ihn zu kennen, Seine Liebe, Seine unergründliche, unveränderliche Liebe zu kennen und zu genießen. Diese Liebe besteht nicht in Worten allein, sondern in Tat und in Wahrheit; nicht in einem förmlichen, kühlen Gelöbnis, von dem das Herz nichts weiß, sondern in dem ewigen Bund Seiner Gnade, besiegelt durch Sein eigenes kostbares Blut. – Und was wird.es erst sein, meine Seele, wenn du diese Liebe in ihrer Fülle erkennen wirst, wenn das Stückwerk aufhören und das Vollkommene gekommen sein wird! wenn du Ihn, deinen Geliebten, sehen wirst, wie Er ist!