Betrachtungen über das Lied der Lieder
Kapitel 4
„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön: Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern“ (V. 1). Als die blutflüssige Frau den Saum des Gewandes Jesu anrührte, strömte die Kraft, die in Ihm war, auf sie über (Mk 5). Der Finger des Glaubens berührte nicht nur das Kleid des Heilandes, sondern auch die geheimen Quellen Seines Herzen, die nur der Glaube zu erreichen vermag. Alle die Reichtümer dieses Herzens wurden dem Glauben erschlossen. Ihre Not wurde „alsbald“ und vollkommen gestillt. Der Quell ihres Blutes vertrocknete, und die Krankheit wich. „Sie merkte am Leib, dass sie von der Plage geheilt war.“ Dennoch kannte ihre Seele noch keinen Frieden, noch keine Ruhe, von Freude gar nicht zu reden. Sie fiel Jesus zu Füßen „voll Furcht und Zittern“.
Wie ist es möglich, fragen wir vielleicht, dass die wunderbare Kraft des hochgelobten Herrn von einem Gläubigen erfahren werden kann, ohne dass er Frieden besitzt? Es war so bei jener Frau, obwohl ihr Glaube groß war, und es ist heute so bei Tausenden der Erlösten des Herrn. Aber wie ist das möglich? Die Geschichte der Frau gibt uns, wie mir scheint, eine klare Antwort auf diese Frage. Obgleich sie alles empfangen hatte, was sie in ihrer Not brauchte, waren ihr doch die Gedanken Seines Herzens noch fremd geblieben. Und um ihr vollen Frieden in Seiner Gegenwart zu geben, musste der Herr ihr noch Sein Herz der Liebe offenbaren. Was ihr Not tat, war zu erfahren, was Er über sie dachte. Und das ist, was jeder Sünder braucht, um völlig glücklich zu sein. Das erste Anrühren des Glaubens sichert der Seele alles, was Er ist und was Er zu geben hat; aber volle Ruhe findet sie erst dann, wenn sie das Herz kennen lernt, das alles aufgab, um uns zu besitzen. Erst dann ruht sie glücklich und friedevoll in Seiner Liebe. O welch eine Gnade, Seine Gedanken über uns zu kennen, Seine Liebe zu uns zu genießen.
Doch siehe, mein Leser, wie diese Liebe sich jener armen Frau zuwendet. „Und er blickte umher, um die zu sehen, die dies getan hatte.“ Welch eine Liebe drückt sich in diesen Worten aus! Das Herz des Heilandes frohlockt; Er hat den Preis gewonnen! Die Werke Satans sind zerstört, Gott ist verherrlicht; die Gnade strahlt in ihrem himmlischen Glanz, und der Glaube triumphiert. Doch Sein Auge muss sie sehen, muss auf ihr ruhen. „Wer ist es, der dies getan hat?“ fragt Er. Mit welch einer Teilnahme ruht Sein Blick auf der zitternden Frau. Und dann offenbart Er ihr Sein Herz und füllt ihre Seele mit dem Frieden und der Freude Seines Heils. „Tochter“ - zärtlicher Ausdruck der Liebe und des nahen, innigen Verhältnisses - „dein Glaube hat dich geheilt; geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage.“
Diese Gedanken drängen sich dem Schreiber unwillkürlich auf bei dem Sinnen über die ersten sieben Verse unseres Kapitels. Der Geliebte offenbart hier Seiner Geliebten in bemerkenswerter Weise Seine Gedanken über sie, über ihre fleckenlose Schönheit in Seinen Augen. Er sitzt gleichsam da und betrachtet mit inniger Freude jeden Zug Seiner lieblichen Braut; und dann redet Er zu ihr von Seiner sie bewundernden Liebe. „Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut.“ Ein solches Lob von menschlichen Lippen würde höchst verderblich sein; wenn es aber von Seinen Lippen kommt, vertieft es nur unsere Demut und macht uns Ihm ähnlicher. Es füllt die Seele mit einer stillen und friedevollen Freude, verbindet uns inniger mit Ihm und verwandelt uns mehr in Sein Bild.
Nachdem Er der Braut in allgemeinen Ausdrücken versichert hat, dass sie „schön“ sei in Seinen Augen, zählt Er sieben verschiedene Eigenschaften auf, die Er mit Freuden betrachtet hat; und da jede einzelne Eigenschaft in sich selbst vollkommen ist, so erblickt Er in ihr die Vereinigung von Vollkommenheit und Schönheit: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (V. 7). Die Genauigkeit, mit der der Herr sie betrachtet, beweist das unendliche Interesse, das Er an ihr nimmt. Die Zahl sieben erweckt zugleich den Gedanken an Fülle und Vollendung. Und dürfen wir uns darüber wundern? Der Gläubige ist in jeder Beziehung vollkommen in Christus, lieblich in Seiner Lieblichkeit. Christus hat alles, was von uns war, hinweg getan und uns alles gegeben, was von Ihm ist. Deshalb heißt es in Epheser 4 von uns: „ihr habt abgelegt den alten Menschen … und angezogen den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (V. 22-24). - Doch werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf die einzelnen Eigenschaften der Braut.
„Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier.“ Die Taube war nach dem Gesetz ein reines Tier. Sie allein durfte von allem gefiederten Gevögel, auf dem Altar Gottes geopfert werden. Sie ist ein bekanntes Bild der Demut, der Reinheit und Harmlosigkeit. „Deine Augen sind Tauben.“ Das Auge wird oft in der Schrift zur Bezeichnung des geistlichen Lichts und Verständnisses gebraucht. „Wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,22). Zugleich ist das Auge der Taube sehr scharf. Sie entdeckt ihren Schlag schon aus weitester Ferne. Wird sie fern von ihrer Heimat freigelassen, so steigt sie in die Luft empor, höher und höher, bis sie endlich kaum noch sichtbar ist; sie hält Umschau, und dann fliegt sie plötzlich geradeswegs und eiligst heimwärts. O möchte auch unser Geistesauge ebenso scharf sein, damit wir, nachdem wir einmal den auferstandenen Herrn erschaut haben, alles, was dahinten ist, vergessen und uns ausstrecken nach dem, was vor uns liegt! Unser Ziel ist Christus in der Herrlichkeit droben; aber dieses Ziel muss geschaut werden, ehe man ihm zustreben kann. Der Apostel konnte sagen: „Eines aber tue ich: Vergessend was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich, das Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“ (Phil 3). Können wir dasselbe sagen? Ist es wahr auch von uns? Wonach jagen wir? was ist unser Ziel? Der Herr gebe uns Gnade, diese Fragen mit Aufrichtigkeit zu beantworten.
„Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern.“ Der Geliebte denkt bei diesem Vergleich vielleicht an das lange, glänzende Haar der Ziegen des Morgenlandes. Zugleich .erscheinen diese dem beobachtenden Blick als eine Herde, eine gesammelte Schar, die auf den fetten Weiden des Gebirges Gilead lagert. Eine jede hat Überfluss, und sie alle zusammen bilden eine Herde. - Der Apostel Paulus sagt uns auch, dass das lange Haar der Schmuck der Frau sei; es ist ihr als ein Schleier gegeben (1. Kor 11,15).
Könnte nicht ferner in den Worten des Geliebten ein Hinweis liegen auf das lange Haar des Nasiräers, das ein Bild der geistlichen Kraft war? Simsons große Stärke lag in seinen sieben Locken; sie waren das Symbol seines ungebrochenen Gelübdes, seiner Weihung für Gott. Jeder Gläubige ist seiner Stellung nach ein Nasiräer, und er sollte es auch in seinem praktischen Verhalten sein. Seine Kraft liegt in der Absonderung von allem, was die Natur zu nähren und zu erregen vermag. Solange Simsons Locken ungeschoren blieben, konnte der Feind ihn nicht bezwingen. Solange er das Geheimnis seiner Gemeinschaft mit Gott bewahrte, blieb der Geist in Kraft bei ihm. Aber wie schwer wird es einem Nasiräer, seine Locken in dem Schoß einer Delila zu bewahren. - Ach, dass die Finger einer Hure jemals die Locken eines Nasiräers Gottes berühren sollten! Lasst uns deshalb mit ernster Wachsamkeit und in stetem Gebet suchen, in Absonderung von der Welt, in Gemeinschaft mit Christus und in der Kraft des Geistes zu wandeln, damit wir niemals in Gefahr kommen, unser Gelübde zu brechen und das Geheimnis unserer Gemeinschaft zu verraten!
„Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme heraufkommen, welche allzumal Zwillinge gebären, und keines unter ihnen ist unfruchtbar“ (V. 2). Hier stellt der Vergleich mit großer Vollkommenheit jeden einzelnen Punkt ans Licht. In den geschorenen Schafen sehen wir die Schuld der Natur entfernt; wir erblicken Regelmäßigkeit, Ebenmaß. „Die aus der Schwemme heraufkommen“ - deutet auf Reinheit hin; sie sind gewaschen in der Quelle, die alle Unreinigkeit wegnimmt. „Die allzumal Zwillinge gebären“ - redet von Fruchtbarkeit; „keines von ihnen ist unfruchtbar“ - nichts mangelt. So erblickt das Auge des Herrn volles Ebenmaß, Reinheit und Fruchtbarkeit in der, die Er liebt.
„Deine Lippen sind wie eine Karmesinschnur, und dein Mund ist zierlich“ (V. 3a). Wie der Strom der Gnade Gottes, der diese Welt durchfließt, mit dem Blut des Kreuzes gefärbt ist, so sollte auch die Unterhaltung des Gläubigen stets diesen Charakter tragen. „Ich hielt nicht dafür“, sagt Paulus, „etwas unter euch zu wissen, als nur Jesus Christus, und ihn als gekreuzigt“; und an einer anderen Stelle: „ Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus“ (1. Kor 2,2; GaI 6,14). O möchte sich auch, um in der Sprache des Bildes zu reden, durch all unser Reden eine Karmesinschnur hindurch ziehen, damit es dem Geliebten stets wohlgefällig sei!
Als Jesaja die Herrlichkeit des Herrn schaute, wurde er zu dem Ausruf gebracht: „Wehe mir! denn ich bin verloren; denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich“ (Jes 6,5). Aber dann flog einer der Seraphim zu ihm, und in seiner Hand war eine glühende Kohle, die er mit der Zange vom Altar genommen hatte. Und er berührte den Mund des Propheten damit und sprach: „Siehe, dieses hat deine Lippen berührt; und so ist deine Ungerechtigkeit gewichen und deine Sünde gesühnt“ (Jes 6,7).
Die Karmesinschnur, die Rahab in ihr Fenster binden musste, redet ebenfalls laut und deutlich von der reinigenden und rettenden Kraft des Blutes Christi. Wir können uns hier nicht weiter über diesen Gegenstand verbreiten. Der Herr gebe uns aber, dass wir unsere Lippen vor allem bewahren, was ihnen ihre liebliche Frische in den Augen Jesu und unserer Mitpilger rauben könnte. „Euer Wort sei allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt, so dass ihr wisst, wie ihr jedem Einzelnen antworten sollt“ (KoI 4,6).
„Wie ein Schnittstück einer Granate ist deine Schläfe hinter deinem Schleier“ (V. 3b). Das Herz der Granate wird hier als Bild der Schläfen der Braut benutzt. Der Granatapfel ist eine köstliche Frucht von scharlachroter Farbe, dessen weißrötliches Innere einen erquickenden, säuerlichen Saft enthält. Der Vergleich erweckt den Gedanken an Zartgefühl und Sittsamkeit, die sich in leichtem Erröten kundgibt. Ist der Gedanke richtig, so bedeutet er eine gesegnete Veränderung für das Haus Jakob, das die Braut ja bildlich darstellt. Es gab eine Zeit, wo der Herr von Seinem Volke sagen musste: „Ich wusste, dass du hart bist, und dass dein Nacken eine eiserne Sehne und deine Stirn von Erz ist“ (Jes 48,4). Welch ein Wechsel! Welche Wunder vermag die Gnade zu bewirken. Statt jener Verhärtung und Verstockung erblickt der Herr jetzt in Seiner Geliebten das Bild demütiger Sittsamkeit und zarten Fühlens.
„Dein Hals ist wie der Turm Davids, der in Terrassen gebaut ist: tausend Schilde hängen daran, alle Schilde der Helden“ (V. 4). Der Turm Davids war verziert mit den Zeichen seiner Siege. David war ein gewaltiger Kriegsheld. Der Herr errettete ihn aus der Hand aller seiner Feinde und aus der Hand Sauls. Er bahnte durch seine Siege den Weg zu der friedlichen Regierung Salomos, seines Sohnes. Aber was waren sie alle im Vergleich mit den Siegen des Königs-Messias? Das ganze Buch Gottes ist gleichsam ein ununterbrochener Bericht der Siege Christi. Aber der turmähnliche Hals Seiner Braut, geschmückt mit zahlreichen Edelsteinen, stellt die Siegeszeichen dar, die Er im Lande Judäa gewonnen hat. Wir lesen von Israel als einem hartnäckigen Volk, als hochmütig wandelnd mit gerecktem HaIs. Solche Bilder bezeichnen einen traurigen moralischen Zustand. Hier aber ist durch die Gnade des Herrn die Veränderung vollständig, der Triumph Seiner Liebe ist vollkommen. „Das Joch der Übertretung“ ist von dem Hals der Tochter Zion entfernt. Statt widerspenstig und hart zu sein wie eine eiserne Sehne, ist sie lieblich, demütig, und doch zugleich schön und stattlich wie der Turm Davids. Und der Herr betrachtet mit stiller Wonne diese schönen Charakterzüge Seiner Braut. Die heilige Freiheit und vollkommene Glückseligkeit Seines Volkes wird dereinst in alle Ewigkeit das Gedächtnis an die Triumphe Seiner Liebe bewahren.
„Deine beiden Brüste sind wie ein Zwillingspaar junger Gazellen, die unter den Lilien weiden“ (V. 5). Die siebente und letzte Eigenschaft der Geliebten ist zunächst ein Zeichen voller moralischer Entwicklung, der Bildung des Herzens für Christus, und dann ein Bild der Ernährung, ein Mittel des Wachstums und Segens für andere. Der Gegensatz zwischen der Braut und „der kleinen Schwester“ von Kapitel 8,8 ist bestimmt und belehrend. Man denkt, dass die völlige Entwicklung der Braut den moralischen Zustand Judas oder der zwei Stämme, und das Fehlen der Entwicklung bei der „kleinen Schwester“ den moralischen Zustand Ephraims oder der zehn Stämme darstellt. Wenn die zwölf Stämme wiederhergestellt sein werden, wird der Unterschied sich zeigen. Nichtsdestoweniger werden auch die zehn Stämme sich der gesegneten Resultate dessen, was geschehen ist, erfreuen. Ephraim aber werden jene tiefen Herzensübungen fremd sein, durch die Juda in Verbindung mit dem Messias gegangen ist; und demzufolge wird es auch die moralische Entwicklung entbehren, die durch diese Übungen hervorgerufen wird. Als Christus auf Erden wandelte und verworfen und gekreuzigt wurde, waren nur die zwei Stämme im Lande. Die zehn sind nie aus ihrer Gefangenschaft zurückgekehrt; und bevor sie wieder aus allen Völkern gesammelt und, in ihr Land zurückgeführt werden, wird Christus sich schon dem Hause Juda zu erkennen gegeben haben als Der, der „in Macht und Herrlichkeit“ kommt. Der Überrest wird bei der Rückkehr des Messias zumeist aus Angehörigen des Stammes Juda bestehen. „Das Zwillingspaar junger Gazellen, die unter den Lilien weiden“, weist vielleicht auf die einheitliche Verbindung zwischen Herz und Geist hin, die dann bei dem Überrest vorherrschen wird im Blick auf den lange ersehnten Messias. Sie finden ihre Freude jetzt da, wo Er sie findet. „Er weidet unter den Lilien.“ Ihr Herz fühlt sich zu Ihm hingezogen, alle ihre Zuneigungen vereinigen sich in Ihm, der Sich ihnen offenbart hat.
Zugleich wird Juda ein Mittel der Ernährung und Segnung sein, sowohl für die zehn Stämme als auch für alle Völker der Erde. „Freuet euch mit Jerusalem und frohlocket über sie, alle, die ihr sie liebt! seid hocherfreut mit ihr, alle, die ihr über sie trauert! damit ihr saugt und euch sättigt an der Brust ihrer Tröstungen, damit ihr schlürft und euch ergötzt an der Fülle ihrer Herrlichkeit! Denn so spricht der HERR: Siehe, ich wende ihr Frieden zu wie einen Strom, und die Herrlichkeit der Nationen wie einen überflutenden Bach, und ihr werdet saugen; auf den Armen werdet ihr getragen und auf den Knien liebkost werden“ (Jes 66,10-12).
Nachdem der Bräutigam so mit tiefer Freude die makellose Schönheit Seiner Braut betrachtet und beschrieben hat, lesen wir: „Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen, will ich zum Myrrhenberg hingehen und zum Weihrauchhügel“ (V. 6). Spricht Er diese Worte, oder kommen sie aus dem Munde der glücklichen Braut, die hingerissen ist von Seiner Liebe und da zu sein verlangt, wo Er Sich mit Vorliebe aufhält? Fast scheint es, als sei es die Braut, die so den innersten Gefühlen ihres Herzens Ausdruck gibt. Doch sei es, wie es sei, Er ruft ihr die herrlichen Worte zu: „Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir“ (V. 7). Anbetungswürdiger Herr!
„Mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon sollst du kommen; vom Gipfel des Amana herab sollst du schauen, vom Gipfel des Senir und Hermon, von den Lagerstätten der Löwen, von den Bergen der Leoparden“ (V. 8). - Wir befinden uns bei unserem leider oft so sorglosen Umherwandern häufig viel näher bei den „Lagerstätten der Löwen“, als wir denken; wir schweben vielleicht in großer Gefahr, und sind uns dessen gar nicht bewusst. Hinter den anziehenden Dingen der Natur verstecken sich unsere schlimmsten Todfeinde. Der „Libanon“ (als Vorbild betrachtet) erweckt den Gedanken an die höchste irdische Erhebung. Aber gerade dort, wo sich dem natürlichen Auge eine so herrliche, fesselnde Aussicht und den Sinnen so viel Anziehendes darbietet, lauert der reißende Löwe und der grausame Leopard.
Wir tun gut, hier einen Augenblick stehen zu bleiben und uns daran zu erinnern, dass die lieblichsten Szenen der Erde Feinde in sich bergen, die listiger und gefährlicher sind als Löwen und Leoparden. Wie sind wir so geneigt, unsere Augen umherwandern zu lassen und uns mit dem zu beschäftigen, was die Natur anzieht und befriedigt. O möchten wir mehr Acht haben auf die schwachen Seiten in unserem christlichen Leben, auf unsere Neigungen und Liebhabereien. Manche Gläubige liebäugeln mit der Welt und trachten nach ihren Vergnügungen - nicht gerade nach solchen, die offenbar schlecht und verwerflich sind, aber nach den sogenannten unschuldigen Freuden dieses Lebens. Andere verlangen nach weltlichem Lesestoff, nach Erzählungen, Romanen usw., und vernachlässigen das lebendige Wort Gottes. Wieder andere gehen ganz auf in ihren Geschäften und jagen nach den armseligen Gütern dieser Welt. Alle solche Wege, und viele ähnliche, führen zu „den Lagerstätten der Löwen“, zu den Bergen der Leoparden, d. h. sie bringen die Seele in große Gefahren. Sie nähren die natürlichen Neigungen und fesseln die Sinne, während das Herz ausdörrt und das göttliche Leben verkümmert. Es gibt nur ein Auge, das die Schlinge früh genug entdecken, nur eine Stimme, die das Herz zur rechten Zeit von der Stätte der Gefahr wegrufen kann. Und dieses Auge, diese Stimme ist das Auge und die Stimme des Geliebten. O wie gut, dass Er über uns wacht, dass Er uns warnt und mit zärtlicher Liebe uns zu Sich ruft!
Nichts könnte lieblicher sein als die Art und Weise, wie der hochgelobte Herr hier Seine Braut aus ihrer gefährlichen Lage befreit. „Mit mir sollst du kommen“, sagt Er. Er ruft ihr nicht gebieterisch zu: „Gehe eilend hinweg, Gefahr ist im Verzuge! Du stehst an dem Eingang der Löwenhöhle!“ Er ängstigt und erschreckt sie nicht. Nein, „komm mit mir“, so bittet Er, „mit mir vom Libanon herab, meine Braut, mit mir vom Libanon.“ Er sucht ihr Herz vom Libanon, der Stätte irdischer Freuden, aber geistlicher Gefahr, abzulenken. Welch eine Gnade gibt sich in dem Wörtchen „Komm!“ kund. Wie klingt es dem Ohr so viel angenehmer als ein gebieterisches „Geh!“ In dem einen drückt sich Gemeinschaft aus, in dem anderen Trennung.
„Kommt denn und lasst uns miteinander rechten“, ruft der Herr dem widerspenstigen Hause Israel zu; und wenn dieser gnädigen Einladung Folge geleistet worden ist, so beschäftigt und beunruhigt Er die Umkehrenden nicht mit Beweisen ihres traurigen Verhaltens, sondern sagt: „Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, wie Schnee sollen sie weiß werden; wenn sie rot sind wie Karmesin, wie Wolle sollen sie werden“ (Jes 1,18). Welch eine liebliche, gesegnete Art des Rechtens für einen schuldigen Sünder. So kann nur der Herr rechten. Dieselbe Gnade entfaltet Er, gepriesen sei Sein herrlicher Name! auch der ganzen Welt gegenüber in jener alle umfassenden Einladung: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben“ (Mt 11,28). Sobald die Einladung angenommen und befolgt wird, ist das Resultat gesichert: „Ich werde euch Ruhe geben“, Ruhe von dem schweren Druck und Joch der Sünde, Ruhe von euren eigenen fruchtlosen Anstrengungen, Ruhe mit Mir Selbst im Paradiese Gottes. Anbetungswürdiger Herr! möchte dieses kostbare „Komm!“ mehr geschätzt werden von denen, die noch fern von Dir sind. - Die ganze Schrift ist angefüllt mit diesem lieblichen, herzbewegenden Wörtchen; und welcher Gläubige hätte nicht schon den herrlichen Schluss dieser vielen „Komm!“ der Heiligen Schrift bewundert? „Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm! Und wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (Off 22,17).
Doch es gibt in dem liebevollen Zuruf des Bräutigams noch zwei andere Worte, die das Herz mit tiefer Freude erfüllen; sie lauten: „mit mir“. „Komm mit mir!“ Könnte man Worte finden, die mehr geeignet wären, alle Furcht zu verbannen und dem Herzen volles Vertrauen einzuflößen, wie schwierig die Umstände auch sein mögen? Unmöglich. Wenn wir das Brüllen des Löwen vernommen haben und wissen, dass er nahe ist, so mögen wir wohl mit Besorgnis erfüllt sein; denn wo ist unsere Kraft, ihm zu widerstehen? Wir haben keine. Aber diese drei Worte voll unvergleichlicher Gnade: „Komm mit mir!“ enthalten alles, was das Herz braucht. Bei Ihm ist die Braut in vollkommener Sicherheit, wie rau und steil der Pfad auch sein und wie drohend die Gefahr sich ihr auch entgegenstellen mag. Indes ist das bloße Entrinnen die geringste Gnade, die jene Worte in sich schließen. Sie geben zugleich auch der Freude Ausdruck, die der Bräutigam an der Gesellschaft Seiner Braut findet. Ihre Gegenwart ist Seine Wonne. Wunderbare gesegnete Wahrheit! Dieser Gedanke übertrifft alle anderen an Kostbarkeit. Der Herr erfreut Sich an uns und verlangt danach, uns bei Sich zu haben. Selbstverständlich ist Seine Freude in keiner Weise abhängig von dem Geschöpf, denn Er ist sowohl Gott als Mensch und genügt Sich Selbst vollkommen; Er ist der Unabhängige, der ewige, lebendige Gott, der JHVA = Jesus. Aber als Sohn des Menschen hat Er in Seiner wunderbaren Gnade und Liebe uns gleichsam notwendig gemacht für die volle Entfaltung Seiner Herrlichkeit und für Seine ewige Wonne. Die Versammlung, welche Sein Leib ist, ist Seine Fülle (Eph 1,22.23). Und zu der Tochter Zion sagt Er gleichfalls: „Höre, Tochter, und siehe, und neige dein Ohr; und vergiss deines Volkes und deines Vaters Hauses! Und der König wird deine Schönheit begehren; denn er ist dein Herr: so huldige ihm“ (Ps 45,10.11).
Diese schöne Stelle wird dem Herzen der Braut, des jüdischen Überrestes, bei der Rückkehr des Herrn in göttlicher Kraft nahe gebracht werden. Der Herr sucht hier ihre Gedanken und Neigungen von der alten jüdischen Ordnung der Dinge, „dem Hause ihres Vaters“, abzulenken und sie ganz und gar der neuen Ordnung unter dem Messias in Seiner königlichen Herrlichkeit entsprechend zu bilden. Israel wird auf dieser Erde, in dem Lande Immanuels gesegnet werden.
Der Geist Gottes hat diese kostbare Wahrheit: „mit Christus „, so eingehend und ausführlich in den Heiligen Schriften entwickelt, dass wir wohl noch einen Augenblick dabei verweilen sollten. Sie ist in dem unveränderlichen Ratschluss Gottes festgestellt und zieht sich gleich einem goldenen Faden durch alles hindurch. „Er, der doch seinen eigenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,32). Welch ein Gedanke! „Alles ... mit Christus“, in Gemeinschaft mit Ihm! Gesund oder krank, reich oder arm, ich bin in jeder Lage mit Ihm und besitze Ihn in allen Umständen, wie sie sich auch gestalten mögen. Nach der Beweisführung des Apostels schließt das Größere das Geringere ein, und das Geringere wird besessen und genossen mit dem Größeren.
Sollte auch ein Christ in so ärmlichen Verhältnissen sein, dass eine trockene Brotkruste und ein Glas kaltes Wasser seine einzige Mahlzeit bildeten, so kann er doch triumphierend sagen: Mag es auch noch so ärmlich stehen, ich besitze meine Brotkruste mit Christus, und Christus mit ihr. Von dem niedrigsten Zustand hienieden bis zu der höchsten Stellung in der Herrlichkeit droben haben wir alles mit Christus, und unsere reichste Segnung besteht darin, eins zu sein mit Ihm; und dieses Einssein mit Christus, dem Haupt der Kirche, ist so wirklich, so vollkommen, dass der Apostel von sich sagen kann: „Ich bin mit Christus gekreuzigt“, und im Blick auf alle Christen: „Indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist“ (Röm 6). Ja, er spricht von jenem Einssein in den verschiedensten Beziehungen: Wir sind
mitgekreuzigt,
mitgestorben,
mitbegraben,
mitlebendiggemacht,
mitauferweckt; Gott hat uns in Ihm
mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern; wir werden
miterben, sind berufen
mitzuleiden und sind
mitverherrlicht.
Und dieses Einssein der Kirche mit Ihm ist dem Herzen Christi so wertvoll, dass überall, wo von unserem zukünftigen Zustand die Rede ist, er beschrieben wird als in Verbindung mit Christus stehend. „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). „Ausheimisch von dem Leibe, einheimisch bei dem Herrn“ (2. Kor 5,8). „Indem ich Lust habe, abzuscheiden und bei Christus zu sein, denn es ist weit besser“ (Phil 1,23). „Und so werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1. Thes 4,17). „In dem Haus meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, hätte ich es euch gesagt; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet“ (Joh 14,2-3). - Amen! Das gibt dem Herzen Ruhe, vollkommene Ruhe ewiglich.
„Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut; du hast mir das Herz geraubt mit einem deiner Blicke, mit einer Kette deines Halsschmucks. Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine Braut; wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der Duft deiner Salben als alle Gewürze! Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut; Honig und Milch ist unter deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder wie der Duft des Libanon“ (V. 9-11).
So herrlich die Aussicht von dem Gipfel des Amana, des Senir und Hermon auch sein mochte, wendet sich das Auge und das Herz des Bräutigams doch von ihr weg, um die Geliebte an Seiner Seite zu bewundern. Er sieht in ihr etwas, was Er sonst nirgends sehen kann. Die Gefühle und die liebenden Zuneigungen Seines Herzens strahlen von ihr auf Ihn zurück. Die Schönheiten der Szene um Ihn her mögen Vorbilder sein von den Dingen, welche die Menschen dieser Welt für begehrenswert halten, aber der Bräutigam findet Seine Wonne und Befriedigung in der Schönheit und Liebe Seiner Braut. Er erblickt in ihr die gesegneten Früchte Seiner eigenen, unauslöschlichen Liebe, die Frucht der Mühsal Seiner Seele, und Er sättigt Sich. (Jes 53,11). Kostbare Wahrheit für das Herz des Gläubigen.
Ein Mann mag eine sehr schöne Besitzung haben und sie auch hoch schätzen, aber er kann niemals die Gefühle für sie haben, wie er sie für seine Frau und seine Kinder hegt. Sie machen einen Teil von ihm selbst aus. Was waren alle die Freuden des Paradieses für den ersten Adam im Vergleich mit der Freude, die er an Eva fand? Sie war ein Teil seiner selbst; die Schöpfung war dies nicht. Er fiel in einen tiefen Schlaf, und aus seiner Seite wurde eine Gehilfin für ihn gebildet; und als er aus seinem Schlafe erwachte und „die Schöne“ neben sich stehen sah, die der HERR, Gott, in Seiner Güte für ihn bereitet hatte, da rief er aus: „Diese ist einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von meinem Fleisch“ (1. Mo 2,23). Die Leere war jetzt ausgefüllt; bis dahin hatte er nichts entdeckt, was sein Herz befriedigen konnte. Die herrliche Schöpfung, die Schönheiten Edens konnten nur eine Leere in seinem Herzen schaffen, bis er die gesegnete Frucht seines vorbildlichen Todes besaß und genoss.
Doch was in dem ersten Menschen nur vorbildlich war, ist in dem zweiten Menschen, dem letzten Adam, wirkIich. Er fiel tatsächlich in einen tiefen Schlaf, den Schlaf des Todes; und aus Seiner geöffneten Seite ist gleichsam eine zweite Eva gebildet worden, schön und fleckenlos in Seinen Augen, die binnen kurzem die Herrschaft und die Freuden der neuen, erlösten Schöpfung mit Ihm teilen soll; und dort, inmitten der Herrlichkeiten dieser neuen Schöpfung, wird sie Seine Liebe zurückstrahlen lassen, die stärker war als der Tod, und sie wird sich baden in den Strahlen Seiner wolkenlosen Gunst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Dürfen wir uns deshalb wundern, wenn Er mit liebender Bewunderung sie betrachtet, wie sie Ihm ähnlich ist? Göttliche Allmacht konnte eine Welt erschaffen; göttliche Liebe allein konnte durch Leiden und Sterben einen verlorenen Sünder erlösen. Wer kann diese Liebe zu einem armen, wertlosen Sünder verstehen! Wäre sie mehr der Gegenstand unseres Sinnens, so würden wir uns weniger über die Worte des Geliebten verwundern: „Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut.“ Bewunderungswürdige Wahrheit! Das Herz Christi geraubt, hingerissen! Und wodurch? Durch die Schönheit eines aus Gnaden erretteten Sünders, einer Person, die in Seinem kostbaren Blut gewaschen und mit Seinen eigenen herrlichen Tugenden geziert ist.
Das Kapitel, mit dem wir uns beschäftigen, enthält in verschiedenen Beziehungen eine wunderbarere Entfaltung der Liebe des Herrn, wie wir es sonst irgendwo im Buch Gottes finden. Wenn es sich um Einzelheiten handelt, gibt es nichts in der Heiligen Schrift, was dem Hohenlied gleich käme. „Du hast mir das Herz geraubt, meine Schwester, meine Braut.“ Der Herr nimmt jetzt ebenso wohl den Platz eines Bruders wie eines Bräutigams ein. „Meine Schwester, meine Braut.“ Kostbares Verhältnis! Glückliche Vereinigung! wohlbekannt und hochgeschätzt von Ihm, wenn auch verhältnismäßig nur wenig verstanden von ihr! Seine Verbindung mit dem Überrest, den Er hier Seine Schwester und Seine Braut nennt, gibt Gelegenheit zu der vollen, herrlichen Entfaltung Seiner Liebe, der innersten Gefühle Seines Herzens. Inmitten der schönsten Umgebung zieht sie allein Seinen Blick auf Sich. Sie steht im lieblichen Gegensatz zu allem, was im Himmel und auf Erden gefunden wird. Wir lesen nirgends, dass die Schönheiten der Schöpfung dem Schöpfer das Herz geraubt hätten. Dieses Geheimnis aller Geheimnisse sollte für den Erlöser und Seine Erlösten aufgespart bleiben.
Aber es ist nicht nur der Überrest, um den es sich hier handelt; nein, wir dürfen das Hohelied als die Offenbarung des Herzens Christi allen Gläubigen gegenüber betrachten. Die Liebe Christi ist vollkommen und entfaltet sich stets in vollkommener Weise, entsprechend dem Verhältnis, in dem wir Ihn kennen. Die Aussprüche Christi im Hohenlied lassen eine moralische Anwendung zu, die für den Christen unaussprechlich kostbar ist. Glücklich alle, die an einer solchen Quelle zu trinken verstehen!
Allerdings ist es nötig, uns immer wieder daran zu erinnern, dass die Stellung des jüdischen Überrestes zu Christus, wie sie sich im Hohenlied kundgibt, eine andere ist als die Stellung des Christen in den Briefen der Apostel; verlieren wir diese Tatsache aus dem Auge, so sind wir in Gefahr, das, was auf Israel Bezug hat, auf die Kirche anzuwenden, und umgekehrt das, was die Kirche angeht, Israel zuzuschreiben. Der Verschiedenartigkeit der Stellung entspricht auch eine Verschiedenartigkeit der Gefühle. Im Hohenlied suchen wir vergeblich nach jener tiefen Ruhe und Süßigkeit einer Liebe, die einem bereits gebildeten, gekannten und wertgeschätzten Verhältnis entspringt. Die volle, bewusste und unerschütterliche Liebe einer Frau, das durch das eheliche Band mit dem Mann ihres Herzens vereinigt ist, findet sich hier nicht. Sie ist unser Teil. Allerdings ist die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen, aber auf Grund der Offenbarungen, die uns gegeben sind, und der Vollendung unseres Heils ist dieser eben genannte Charakter der Liebe der Kirche Gottes eigentümlich. Gott sei Lob und Dank dafür! Wir wissen, an wen wir geglaubt haben. Wir kennen die gesegnete Wahrheit unseres Einsseins mit Christus, dem Auferstandenen und Verherrlichten. „Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm“ (1. Kor 6,17). Dieses Einssein mit Christus in Leben und Stellung geht weit über das hinaus, was der Israelit besaß. Selbst im gegenwärtigen Augenblick wissen wir, dass wir in Christus in den himmlischen Örtern sitzen (Eph 2,6). Und obgleich wir hier arme, schwache, fehlende Geschöpfe sind, wissen wir doch, dass wir „versiegelt sind mit dem Heiligen Geist der Verheißung, der das Unterpfand unseres Erbes ist, zur Erlösung des erworbenen Besitzes“ (Eph 1,13.14). Aber kostbarer als alles das ist, dass wir die Größe der Liebe Christi kennen, die dem Opfer entspricht, durch das Er uns in diese himmlische Stellung und ewige Verbindung mit Sich Selbst gebracht hat. Daher wissen wir auch, dass die Frage der Sünde auf immer vollkommen geordnet ist, dass eine ewige Vergebung, eine vollkommene Rechtfertigung unser Teil ist, und dass wir angenehm gemacht sind in dem Geliebten (Eph 1,6). Unsere Erlösung ist eine vollendete Tatsache; das Verhältnis ist gebildet, wir warten nur noch auf die Herrlichkeit - die Hochzeit des Lammes. Wir rechnen auf Seine Verheißung: „Ja, ich komme bald“ (Off 22,20). Und: „Noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen, und nicht ausbleiben“ (Heb 10,37). Aber während wir auf Ihn warten, kennen und genießen wir, wenn auch in großer Schwachheit, durch die Kraft des Heiligen Geistes die liebenden Zuneigungen Seines Herzens, die diesem gesegneten und auf ewig gegründeten Verhältnis angehören.
Israels Stellung im Hohenlied bleibt weit hinter diesem Verhältnis der Liebe zurück. Von der Reinigung des Gewissens ist nirgends die Rede; Vergebung und Rechtfertigung werden nicht berührt. Es ist mehr eine Frage des Herzens, ein Schaffen und Bilden der Zuneigungen des Herzens für die Person des Geliebten. Seine Person und die Gewissheit des Verhältnisses zu Ihm werden nicht in vollem Maße gekannt und genossen; diese Dinge sind es vielmehr, nach denen das liebende Herz der Braut so sehnlich verlangt. Der Bräutigam kennt selbstverständlich die Beziehungen, in denen Er zu der steht, die Er Seine Schwester, Seine Braut nennt. Und deshalb öffnet Er ihr Sein Herz, um sie die Vorsätze Seiner Liebe verstehen zu lassen. Er versichert sie immer wieder ihrer Schönheit, ihres Wertes und ihrer Kostbarkeit in Seinen Augen; und selbst, wenn sie gefehlt und Ihn und Seine Liebe vergessen hat, begegnet Er ihr mit einer Zuneigung, die durch nichts von dem geliebten Gegenstand abgelenkt, durch nichts geschwächt werden kann. Durch diese Kundgebungen Seiner Liebe, Seiner Zärtlichkeit und Gnade wird ihr Herz geübt, ihre eigenen Zuneigungen vertiefen sich, der Bräutigam wird in ihren Augen erhoben über alle anderen und geschätzt als der „Ausgezeichnete vor Zehntausenden“, an dem alles sehr köstlich ist. Ihr Herz wird so nach und nach für Ihn gewonnen. Der 45. Psalm besingt dieses gesegnete Resultat. Der Überrest wird dort begrüßt als die „Genossen“ des Königs, und Jerusalem als „die Königin in Gold von Ophir“. Die Völker um Israel her ehren sie dann mit Geschenken und suchen ihre Gunst. Die Königin steht in der innigsten Beziehung zu dem König, sie wird eingeführt in die Paläste von Elfenbein.
Doch kehren wir zu unserem Text zurück.
„Du hast mir das Herz geraubt mit einem deiner Blicke, mit einer Kette von deinem Halsschmuck.“ Was der Herr mit diesen Worten sagen will ist schwer zu entscheiden. Vielleicht denkt Er an jede einzelne Tugend, an jeden einzelnen geistlichen Schmuck in dem Gläubigen; oder sollen Seine Worte der Freude Seines Herzens an jedem einzelnen Gläubigen, wie auch an Seinem Volk gemeinschaftlich Ausdruck geben? Sicherlich kann niemals der Geringste unter allen den Seinigen von Ihm übersehen oder mit einem anderen verwechselt werden, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit. Wir sind geliebt als einzelne Personen und als solche auch errettet und verherrlicht. „Der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“, sagt Paulus (Gal 2,20). Er redet, als wenn er der einzige wäre, für den Christus gestorben sei. Der Glaube macht sich zu Eigen, was die Gnade offenbart. Nur in dieser Weise genießt das Herz diese Offenbarungen. Verstehst du das, mein Leser? Es ist von größter Wichtigkeit. Der Glaube macht die Segnung, so groß sie auch sein mag, zu einer persönlichen Sache. Was auch irgend die Gnade in Christus als das Teil der Kinder offenbaren mag - der Glaube sagt: „Es ist mein.“
Aber in unserer glücklichen Heimat droben werden wir nicht nur unserem hochgelobten Herrn persönlich bekannt sein, sondern auch einander. Petrus scheint gar keine Schwierigkeit gehabt zu haben, auf dem Berge der Verklärung Moses und Elias zu erkennen. So wird es auch in dem Auferstehungs-Zustand sein, wo alles Vollkommenheit ist. Paulus wird niemals für Petrus, noch Petrus für Paulus gehalten werden, und jeder wird seine eigene Krone und seine eigene Herrlichkeit besitzen. Kostbarer und doch auch ernster Gedanke! Jeder Heilige wird seine besondere Krone tragen. Alle werden dort als das bekannt sein, was sie nach der Schätzung des Herrn sind; und doch alle vollkommen, alle glücklich, alle in der vollen Freude des Herrn und alle strahlend in Seinem herrlichen Bilde, das sie in Vollkommenheit tragen werden.
„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine Braut!“ - Würden wir mehr an die Wertschätzung unserer Liebe von Seiten des Herrn denken, so würden wir auch mehr mit ungeteiltem Herzen Ihm anhangen. Liebe erzeugt Gegenliebe. Je näher ich am Feuer sitze, desto mehr erwärmt es mich. Je näher ich dem Herzen Christi bin, desto mehr wird mein Herz in Liebe zu Ihm brennen. Ich könnte geradeso gut im Winter hinausgehen und den Schnee betrachten und meinen, dadurch erwärmt zu werden, als an mich denken, mich betrachten und meinen, dadurch meine Liebe zu Christus zu vergrößern. Wünschst du, in deiner Liebe zu Ihm zu wachsen und Seine Liebe zu dir mehr zu genießen? Ei, so lass dein Herz sich an Christus ergötzen! Das Feuer, an dem ich sitze, wärmt mich, die Speise, die ich esse, sättigt mich; und wahrlich, du wirst in dem Kapitel, das wir miteinander betrachten, reiche Erquickung finden. Sinne darüber. Erforsche es Wort für Wort; und denke vor allem an das Herz, dem jedes Wort entströmt. Dem Unglauben gelten die Worte Christi nichts, der Glaube nährt sich von ihnen. Aber vergiss nicht, bei deinem Sinnen dich zu dem Herzen Dessen zu erheben, aus Dem sie hervor fließen. Erforsche Sein Wort stets in Gemeinschaft mit Ihm. Hüte dich, das Wort von der Person Christi zu trennen. Auf diesem Weg wird sich deine Liebe vertiefen und du wirst Christus praktisch ähnlicher werden.
„Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester, meine Braut; wie viel besser ist deine Liebe als Wein, und der Duft deiner Salben als alle Gewürze!“ Wenn solche Kundgebungen Seiner Liebe nicht unser Herz gewinnen, was anders könnte es tun? Kein Wein, keine irdische Freude ist Ihm so wertvoll wie die Liebe Seiner Braut; kein Geruch Ihm so süß wie der Duft ihrer Salben. Die Gastfreundschaft des selbstgerechten Juden war nichts für Ihn im Vergleich mit der Liebe der großen Sünderin, die hinten zu Seinen Füßen stand und weinte (Lk 7). Aber solche köstlichen Früchte wachsen nur in dem Licht Seiner Gegenwart. Pflanzen gedeihen nicht im Dunklen. Sie mögen einige kranke, schwache Blätter treiben, aber Frucht und Wohlgeruch werden sich nur dann zeigen, wenn die Pflanze das volle himmlische Licht empfängt. „Ich bin das Licht der Welt“, sagt der Herr Jesus; „wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12); Und: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5).
„Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut.“ Die Honigwabe muss erst mit geduldigem Fleiß gefüllt werden, ehe sie träufeln kann. Der Honig muss von jeder Blume gesammelt werden. Der Christ sollte der Biene gleichen; aber leider gleicht er oft mehr dem Schmetterling als der Biene. Der Schmetterling flattert meist eine Weile über die Blume hin und fliegt dann wieder davon ohne ihre Süßigkeit gekostet zu haben; die Biene aber fliegt mit emsigem Fleiß von einer zur anderen, saugt den süßen Inhalt aus und trägt ihn heim. So füllt sich ihr Vorratshaus nach und nach mit dem köstlichsten Honig. Das Wort muss sorgfältig erforscht und das Herz damit erfüllt sein, soll das für die Gelegenheit passende Wort stets unter unserer Zunge bereitliegen. Wenn der Herr es so bei uns findet, wird Er erquickt und erfreut. „Honigseim träufeln deine Lippen, meine Braut; Honig und Milch ist unter deiner Zunge, und der Duft deiner Gewänder wie der Duft des Libanon.“
Worte sind gleich Samenkörnern; sie entwickeln sich und tragen Frucht, mögen sie scharf und bitter, oder gelinde und gesund sein. Wie wichtig ist es daher, auf unsere Zunge Achtzuhaben! Wenn wir Unkraut säen, können wir keinen Weizen ernten; und wenn wir Weizen säen, werden wir nicht nötig haben, Unkraut zu ernten. „Was ein Mensch säet, das wird er auch ernten.“ O möchten stets gelinde, freundliche, sanfte Worte, Worte der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe von unseren Lippen kommen! Was ist reiner und nahrhafter als Milch? was süßer und heilender als Honig? Das Wort sagt uns, dass wir nicht im Fleische, sondern im Geiste sind, und hier redet der Herr von den kostbaren Früchten des Geistes, die Ihm so wohlgefällig sind. Über Seine eigenen Lippen ist „Holdseligkeit ausgegossen“, und „alle seine Kleider sind Myrrhen, Aloe und Kassia“ (Ps 45,2,8). Und hier findet Er zu Seiner innigen Freude in Seiner geliebten Braut die Erwiderung darauf. Aus Seiner Fülle reicht Er „Gnade um Gnade“ dar; und die Antwort darauf ist köstlicher für Sein Herz als alles, was die Natur hervorzubringen vermag. Und wenn dereinst die Hügel und Täler Kanaans, übersät mit den duftendsten Gewürzen und fließend von Milch und Honig, längst vergangen sein werden, wird die Geliebte noch vor Ihm stehen in stets zunehmender Frische und duftendem Wohlgeruch, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
„Ein verschlossener Garten ist meine Schwester, meine Braut, ein verschlossener Born, eine versiegelte Quelle. Was dir entsprosst, ist ein Lustgarten von Granatbäumen mit edlen Früchten, Zyperblumen samt Narden; Narde und Safran, Würzrohr und Zimt, samt allerlei Weihrauchgehölz, Myrrhe und Aloe samt allen vortrefflichsten Gewürzen; eine Gartenquelle, ein Brunnen lebendigen Wassers, und Bäche, die vom Libanon fließen“ (V. 12-15). Einige kurze Bemerkungen über die natürliche Lage und den Charakter des Landes Israel werden uns behilflich sein, diese schönen und belehrenden Vergleiche zu verstehen. Das gelobte Land liegt gleichsam im Mittelpunkt der bewohnten Erde und war einst weit berühmt wegen seiner Schönheit und Fruchtbarkeit. Auch ist es beachtenswert, dass die Juden sich nicht zufällig gerade in Kanaan niedergelassen haben, sondern dass Gott Hunderte von Jahren vor Beginn des nationalen Bestehens Israels seine Grenzen bereits bestimmt hatte. „Als der Höchste den Nationen das Erbe austeilte, als er voneinander schied die Menschenkinder, da stellte er fest die Grenzen der Völker nach der Zahl der Kinder Israel. Denn des HERRN Teil ist sein Volk, Jakob die Schnur seines Erbteils“ (5. Mo 32,8.9). Wir ersehen aus dieser höchst interessanten Stelle, welch einen Platz Israel von alters her in den Gedanken und Ratschlüssen Gottes eingenommen hat. Das verhältnismäßig kleine Land ist der Schauplatz von Ereignissen gewesen, die alle anderen an Wichtigkeit und weittragenden Folgen überragen; und es wird in der Zukunft wieder der Schauplatz von Ereignissen werden, auf die Himmel und Erde warten und auf die Gottes Wort immer wieder hindeutet. Die Verheißung, die in Eden nur als eine Knospe erschien, wird sich in dem gelobten Land in ihrer voll erblühten Herrlichkeit entfalten.
Durch Israels Untreue ist das Land von den Nationen zertreten worden und viele Jahrhunderte hindurch eine Wüste, ein Land des Todesschattens gewesen. Der nunmehr aber sich mächtig anbahnende Wiederaufbau, der seit der Neubildung des nationalen Staats Israel von dem zum Teil schon in das Land zurückgekehrten Juden mit großer Energie, wenn auch in eigener Kraft und in völligem Unglauben an den einst verworfenen Messias, betrieben wird, deutet darauf hin, dass die Rückkehr des jetzt noch abwesenden Herrn des Landes, der „in ein fernes Land“ gezogen war, ganz nahe bevorsteht. Er wird bald wiederkehren, um von Seinem Eigentum Besitz zu nehmen (Lk 19). „Das Land ist mein“, sagt der Herr, und nach Seinen ursprünglichen Absichten wird es zu seiner Zeit der Mittelpunkt aller Nationen, die Herrlichkeit aller Länder und der Ruhm aller Völker werden; und die geliebte Stadt Jerusalem wird die Hauptstadt der ganzen Erde und der Mittelpunkt des Segens werden für alle ihre Bewohner. Das königliche Banner wird dann wieder über seinen Mauern wehen, als das gewisse Zeichen, dass der „hochgeborene Mann“, der König der Nationen, zurückgekehrt ist.
Moses durfte vom Gipfel des Berges Pisga herab dieses herrliche Land schauen, ehe er starb. Der Herr Selbst zeigte es Seinem Knecht. Welch eine Ehre für Moses. Bevor er seine Augen im Tode schloss, durfte er den zukünftigen Wohnort der Erlösten des Herrn betrachten und seine fruchtbaren Täler, seine schönen Berge und wasserreichen Ebenen schauen. Er sah
das heißersehnte Ziel, das langverheißne Land,
Des grüne Fluren stets von Milch und Honig triefen.
Und wenn er unter der Leitung des Geistes von diesem herrlichen Land redete, sagte er: „Denn der HERR, dein Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land von Wasserbächen, Quellen und Gewässern, die in der Talebene und im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen und Gerste und Weinstöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen; ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein Land, in welchem du nicht in Dürftigkeit Brot essen wirst, in dem es dir an nichts mangeln wird; ein Land, dessen Steine Eisen sind und aus dessen Bergen du Kupfer hauen wirst“ (5. Mo 8,7-9).
Den reichen und mannigfaltigen Erzeugnissen des heiligen Landes sind ohne Zweifel die Vergleichungen unseres Textes größtenteils entnommen. Die Braut des Herrn wird hier mit einem Garten, einem Lustgarten und einer Quelle verglichen - so reich ist sie mit allem versehen, was für Ihn wohlgefällig ist, so mannigfaltig ist die Gnade des Heiligen Geistes in ihr wirksam. Für das Herz ihres Herrn gibt es in ihr von dem Lieblichsten und Köstlichsten die Fülle. „Narde und Safran, Würzrohr und Zimt, samt allerlei Weihrauchgehölz, Myrrhe und Aloe samt allen vortrefflichsten Gewürzen!“ Welche Worte, wie sollten wir über sie nachsinnen! Ein Garten mit seinem herrlichen Blumenschmuck, mit seinen zarten, wohlriechenden Pflanzen; ein Lustgarten mit allerlei Fruchtbäumen und Ziergewächsen; eine Quelle, die das Ganze belebt und erfrischt - wie zeigen uns diese Vergleiche, was das Volk Gottes für Ihn sein sollte in dieser bösen, finsteren Welt! Wie ein lieblicher, duftender Garten im Vergleich mit einer dürren, öden Wüste, so sollte das Volk des Herrn sein im Vergleich mit den Kindern dieser Welt. Doch wie steht es mit uns, geliebter Leser? Offenbaren wir wirklich Frische, Wachstum und Fruchtbarkeit in den Dingen des Herrn? Kann Er in den Garten unserer Herzen kommen „und die ihm köstliche Frucht essen“? Ihm sind alle unsere Gedanken und Wege, all unser Tun und Lassen bekannt.
Beachten wir ferner, dass das erfreute Herz des Bräutigams Seine Braut beschreibt als einen“ verschlossenen Garten, einen verschlossenen Born und eine versiegelte Quelle“. Sie ist alles das, und sie ist es nur für Ihn. Ihre Augen wandern nicht umher. Sie ist vollkommen zufrieden mit ihrem Teil in ihrem Geliebten. Christus ist genug für sie. Er füllt ihr ganzes Herz aus. Kein verlangender, kein einladender Blick trifft einen anderen. „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.“ Die Blüte, die Frucht, der Wohlgeruch - alles ist für Ihn und für Ihn allein. Ihr Garten ist für alle anderen verschlossen; das königliche Siegel ist auf die Quelle des Königs gedrückt; ihre Wasser sprudeln für Ihn allein. „Erkennt doch, dass der HERR den Frommen für sich abgesondert hat!“ (Ps 4,4). Kein Fremder darf das anrühren, was des Königs Siegel trägt. „Doch der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die, die sein sind; und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit!“ (2. Tim 2,19). - „Gib mir, mein Sohn, dein Herz“, ist ein klares, deutliches Gebot. Lausche auf die Stimme der Weisheit, meine Seele! Wenn du diesem Gebot folgst, kannst du kein Herz für die Welt haben. Kein Mensch hat zwei Herzen, obgleich es leider zuzeiten scheint, als wenn wir zwei hätten. Lasst uns wachen und auf unserer Hut sein! Wenn der hoch gelobte Herr mein Herz besitzt, so habe ich keines für die Welt. Ein geteiltes Herz kann Er nicht annehmen.
Die Worte „verschlossen“ und „versiegelt“ erwecken auch den Gedanken an eine gänzliche, entschiedene Absonderung des Gläubigen von der Welt. Gleich einem Stück Land, das, wohl eingezäunt, bepflanzt und gepflegt, nur für den Gebrauch des Eigentümers da ist, so ist auch der Christ wohl er in dieser Welt aber doch nicht von der Welt. Christus Selbst sagt: „Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,16). Der Gläubige ist hier als ein Diener Christi und sollte lernen, alles für Ihn zu tun. „Alles was immer ihr tut, im Wort oder im Werk, alles tut im Namen des Herrn Jesus, danksagend Gott, dem Vater, durch ihn“ (KoI 3,17). Es mag sein, was es will, kleine oder große Dinge, der Christ soll alles tun als einen Dienst für seinen Herrn. Die einzige Frage für ihn ist: Wird Christus hierdurch verherrlicht? diene ich Ihm? - Aber ach! wie oft wird gefragt: Was ist denn Böses dabei? und anstatt den Willen des Herrn zu tun, folgt man seinem eigenen Willen.
Der Apostel Paulus konnte sagen: „Das Leben ist für mich Christus“; oder mit anderen Worten: Zu leben heißt für mich: Christus zu meinem Beweggrund, Christus zum Gegenstand meines Herzens, Christus als meine Kraft und meinen Lohn zu haben. Das ist Absonderung von der Welt und zugleich die Erweisung des bestmöglichen Dienstes in der Welt. Wenn das Auge unverrückt auf die Person des Geliebten gerichtet bleibt, so ist das Herz von Ihm erfüllt, der Blick klar, das Urteil gesund und der Dienst gesegnet. Je näher wir bei der Quelle bleiben, desto sicherer werden wir Segenskanäle für andere werden. Wie die Quelle in der Wüste oder der Fluss in der Ebene dem umliegenden Land Nutzen bringt, so werden auch wir für unsere Umgebung von Segen sein. „Wenn jemanden dürstet“, sagt Jesus, „so komme er zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte er von dem Geist, den die an ihn Glaubenden empfangen sollten“ (Joh 7,37-39).
Aus einem Herzen, das so mit Christus erfüllt ist durch den in ihm wohnenden Heiligen Geist, wird ein gesegnetes Zeugnis für den auferstandenen und verherrlichten Herrn hervor fließen; ja es sollte hervor fließen gleich „Strömen lebendigen Wassers“. Denn für dieses Zeugnis ist der Gläubige seinem abwesenden Herrn gegenüber verantwortlich. „Wer da sagt, dass er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6). Hier betreten wir den Boden wahrer christlicher Verantwortlichkeit. Bin ich ein Christ, so bin ich verantwortlich, als solcher zu wandeln; nicht damit ich einer werde, sondern weil ich einer bin, weil ich mich durch das kostbare Blut Christi an dem Platz der vollkommenen Gunst Gottes befinde. Bin ich ein Kind Gottes, so sollte ich wandeln wie ein Kind; bin ich ein Diener, wie ein Diener.
Unserer Verantwortlichkeit als Menschen, als Kinder des ersten Adam, ist durch unseren gepriesenen Herrn vollkommen entsprochen worden, als Er für uns starb; und jetzt entspringt unsere Verantwortlichkeit aus unserem neuen Verhältnis zu Christus, dem letzten Adam, dem auferstandenen und verherrlichten Menschen zur Rechten Gottes. „Gleichwie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch“ (Joh 20,21). Dieser Auftrag wurde den Jüngern des Herrn im Allgemeinen, nicht nur den Aposteln, gegeben. Und im Blick auf diese Sendung müssen wir alle am Ende unserer Laufbahn unserem Herrn und Meister Rechenschaft geben. Ernste Wahrheit! „Ein jeder von uns wird für sich selbst Gott Rechenschaft geben“ (VergI. Röm 14,10-12). Wo wird dies geschehen? Vor dem Richterstuhl Christi, vor dem wir einst alle offenbar werden müssen.
Es mag hier am Platz sein, einige Bemerkungen über den Richterstuhl Christi einzuflechten, da manche Seelen über diesen Gegenstand unklar und oft auch beunruhigt sind.
Zunächst ist zu beachten, dass die Person des Gläubigen nie mehr ins Gericht kommen kann. „Er ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen“ (Joh 5,24). Er ist „von allem gerechtfertigt“. Christus ist seiner Übertretungen wegen dahingegeben worden, diese sind für immer dahin, Sein Name sei gepriesen! Und Er ist seiner Rechtfertigung wegen auferweckt worden (Röm 3,25). Was nun? Auferstanden mit Christus, ist der Gläubige mit Christus verbunden in Seinem Leben und Seiner ganzen Annahme vor Gott. „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, die in Christo Jesu sind“ (Vergl. Röm 4,25; 5,1.2; 8,1). Der Gläubige selbst kann also nie mehr ins Gericht kommen. Zudem ist er, wenn er vor dem Richterstuhl Christi erscheint, bereits in seinem verherrlichten Leib, dem Herrn Selbst gleich gestaltet. „Der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit seinem Leib der Herrlichkeit, nach der wirksamen Kraft, mit der er vermag, auch alle Dinge sich zu unterwerfen“ (Phil 3,21). Diese herrliche Wahrheit entfernt weit jeden Gedanken an ein Gerichtetwerden des Gläubigen. Er wird verherrlicht, ehe er vor den Richterstuhl gerufen wird, und weiß, dass er ein Miterbe Christi ist und sich in derselben Herrlichkeit befindet wie Christus.
Die Sünden und Vergehungen des Christen können ebenfalls nicht mehr ins Gericht kommen. Christus hat dafür bereits am Kreuz gelitten und sie durch Sein Opfer auf immerdar hinweg getan. Ein zweites Gericht der Sünden des Gläubigen kann nicht stattfinden. Sie sind alle von Jesus getragen und gesühnt: „Der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden seid“ (1. Pet 2,24). Das Werk Christi auf dem Kreuz, als Stellvertreter Seines Volkes, war so vollkommen, dass nicht die geringste Frage hinsichtlich der Sünde ungeordnet geblieben ist. Als Er ausrief: „Es ist vollbracht!“ war jede Frage für immer und ewig in Ordnung gebracht; und auf Grund dieses vollbrachten Werkes begegnet die göttliche Liebe dem größten Sünder in all den Reichtümern der Gnade Gottes. Alle Sünden des Gläubigen sind getilgt und vergeben; ja, Gott will ihrer nie mehr gedenken. Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 10).
Aber obwohl weder die Person, noch die Sünden und Vergehungen des Gläubigen Gegenstände des Gerichts an jenem Tag sein können, gibt es doch etwas, was vor den Richterstuhl Christi gebracht werden wird; und das sind die Werke des Gläubigen als eines Dieners Christi. Deshalb ermahnt der Apostel uns so ernst und treu: „Daher, meine geliebten Brüder, seid fest, unbeweglich, allezeit überströmend in dem Werk des Herrn, da ihr wisst, dass eure Mühe nicht vergeblich ist im Herrn“; (1. Kor 15,58). Nachdem er lange bei der Auferstehung des Leibes verweilt hat, kommt er schließlich zu dem, was man die Auferstehung der Werke nennen könnte. „Das Werk eines jeden wird offenbar werden, denn der Tag wird es klar machen, weil er in Feuer offenbart wird.“ - „So urteilt nicht etwa vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das Verborgene der Finsternis ans Licht bringen und die Ratschläge der Herzen offenbaren wird; und dann wird .einem jeden sein Lob werden von Gott“ (1. Kor 4,5). Diese Dinge sind ernst; aber ein aufrichtiges Herz denkt nicht mit Furcht und Schrecken an jenes Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi, sondern betrachtet sie im Gegenteil als eines seiner größten Vorrechte. Denn dann wird sich das Wort erfüllen: „Ich werde erkennen, wie auch ich erkannt worden bin“ (1. Kor 13,12).
Gott ist Licht, und Gott ist Liebe; und Seine Liebe will Seine Kinder im Licht haben, wie Er Selbst im Licht ist. „Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in ihm“ (1. Joh 1,5). Unsere neue, göttliche Natur liebt das Licht und erfreut sich darin. Die geringste Finsternis wird als eine unerträgliche Bürde von ihr gefühlt. Im Lichte sein heißt offenbar sein; denn das Licht macht alles offenbar. Und wer von uns möchte wünschen, dass ein einziger Augenblick in unserer Geschichte, mit all ihren gnädigen, liebevollen Führungen Gottes, im Dunkeln bliebe! Das Herz schrickt vor einem solchen Gedanken zurück, trotz all unserer Schwachheit und Verkehrtheit. „Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“ (2. Kor 5,10). Wenn einmal mein ganzer Lebenslauf in dem Lichte Gottes offenbar sein wird, so werde ich erkennen, wie ich selbst erkannt worden bin (1. Kor 13,12). Mein Urteil über alles, was in diesem Leben gut oder böse war, wird mit dem vollkommenen Urteil Gottes übereinstimmen.
Alles was ich für Christus getan habe, als Frucht Seiner Gnade in mir, wird von Ihm anerkannt und belohnt werden. Was nur aus der Energie meiner Natur hervorgegangen ist, wird unbelohnt bleiben. Alles was der Geist Christi in uns hervorgebracht hat, wird in dem Licht des Richterstuhls, getrennt von aller menschlichen Beimischung, in herrlichem Glanz strahlen. Mancher selbstverleugnende Dienst, der anscheinend mit den besten Beweggründen begonnen, aber nicht mit Mitteln ausgeführt worden ist, die das Wort Gottes billigt, wird mit göttlicher Genauigkeit geprüft und zerlegt werden. Alles Gute wird der Herr sicherlich in überströmender Fülle belohnen; ja, selbst mancher heilige Vorsatz, der die Verherrlichung des Herrn zum Gegenstand hatte, aber nie zur Ausführung gebracht werden konnte, wird dort im Lichte gesehen werden und volle Vergeltung empfangen. Der geringste Dienst, der hier für Ihn getan worden ist, wird an jenem Tage nicht übersehen werden. „Denn wer irgend euch einen Becher Wasser zu trinken gibt in meinem Namen, weil ihr Christi seid, wahrlich, ich sage euch: er wird seinen Lohn nicht verlieren“ (Mk 9,41). Auch wird es sich an jenem Tag zeigen, was uns verhindert hat, mehr Gutes zu tun, trotz des Lichtes, das wir hatten, und trotz der Gnade, die wir genossen. Manches vermeintlich Schöne und Große wird dort zu einem Nichts zusammenschrumpfen; manche unscheinbare und unbeachtet gebliebene Tat der Liebe wird ans Licht gezogen und in ungeahnter Weise belohnt werden. Nichtsdestoweniger wird jeder einzelne den ihm vom Vater bereiteten Platz haben, und wir werden voll und ganz erkennen, wie viel wir unserem hochgelobten Herrn verdanken. Ja, erst dann werden wir sehen, was Er für uns gewesen ist und was alles Er von uns zu ertragen hatte. Im vollen Licht Seiner Gegenwart werden wir die Liebe jenes Herzens erkennen, das sich stets über alle unsere Unwürdigkeit erhob und Sich immer wieder in derselben Geduld, Liebe und unermüdlichen Güte offenbarte. Und dann werden wir auch die Tausende und aber Tausende von Fällen sehen, in denen wir im Hochmut unserer Herzen uns selbst zu gefallen und zu erheben suchten, anstatt in Demut dem Herrn Jesus zu dienen, Ihn zu erheben und Ihn zu unserem Ein und Alles zu machen.
Die langmütige, zärtliche Liebe Jesu, die uns so viele Jahre hindurch getragen und geleitet hat, wird dann in all ihrer Vollkommenheit von uns erkannt und verstanden werden; und die lieblichen Erinnerungen an diese Liebe, die an Kraft und Tiefe alles Denken übersteigt, wird unsere Seelen mit tiefer Bewunderung und Anbetung erfüllen und unser lautes Lob wachrufen in alle Ewigkeit.
Auch werden an jenem Tage Seine vielen wunderbaren Eingriffe in unser Leben vor wie nach unserer Bekehrung nicht vergessen sein. Wir werden einen Blick tun in die hinter uns liegenden Tage, wie wir ihn vorher nie getan haben, nie zu tun vermochten. Wir werden sehen, wie oft wir unbewusst in Gefahr gestanden haben, von Satan ins Verderben gestürzt zu werden; wie aber unser geliebter, anbetungswürdiger Herr Seinen Arm um uns geschlungen und uns sanft und sicher von dem schlüpfrigen Boden, auf dem wir standen, zurückgeführt hat. Wahrlich, wir werden uns mit überströmenden Herzen aus der Gegenwart des Richterstuhls entfernen und wissen, wozu die goldenen Harfen im Himmel dienen. Der Strom der Freude, der sich gerade dort für uns erschließen wird, wird fort fließen in immer zunehmender Fülle und Frische von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der Apostel wandelte stets im Licht des kommenden Tages, und so sollten wir es tun. Die Wirkung, die der Gedanke an den Richterstuhl Christi auf ihn ausübte, war dreifach: „Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen, Gott aber sind wir offenbar geworden; ich hoffe aber auch in euren Gewissen offenbar geworden zu sein“ (2. Kor 5,11).
1. Durch das Bewusstsein, wie schrecklich es für einen Sünder sein muss, in seinen Sünden vor Gott zu erscheinen, fühlte Paulus sich angetrieben, das Evangelium mit großem Ernst zu verkündigen. „Wir überreden die Menschen.“ Er suchte andere zu warnen und ihnen immer wieder den Ernst ihrer Lage und die unaussprechliche Bedeutung des Heils ihrer Seele ans Herz zu legen. Was muss es auch sein für einen Ungläubigen, vor jenem Richterstuhl zu stehen und dort wegen seiner Verwerfung Christi zur Rechenschaft .gezogen zu werden. Wo ist der Prediger des Evangeliums, der nicht durch eine solche Erwägung zu tiefem Ernst und anhaltendem Eifer angespornt würde?
2. Der Apostel war bereits im Lichte, schon offenbar vor Gott. „Gott aber sind wir offenbar geworden.“ Der Richterstuhl erweckte nicht Furcht und Schrecken in seinem Herzen, wohl aber leitete er ihn an zu einem treuen, aufrichtigen Wandel vor Gott und zu einem hingebenden Dienst in Seinem Werk.
3. Indem Paulus als ein Mann Gottes und ein Diener Christi im Lichte wandelte, vollführte er seinen Dienst mit aller Gewissenhaftigkeit. .Er übte sich, allezeit ein gutes Gewissen zu haben vor Gott und Menschen; und so empfahl er sich den Gewissen derer, unter denen er arbeitete. „Ich hoffe aber auch in euren Gewissen offenbar geworden zu sein.“ -
O möchten diese gesegneten Resultate sich auch in uns zeigen, geliebter Leser, zum Preise Gottes und zu unserem eigenen Heil und Segen
„Wache auf, Nordwind, und komme, Südwind; durchwehe meinen Garten, lass träufeln seine Wohlgerüche!“ (V. 16). Das Wort „Wind“ wird in der Schrift wiederholt gebraucht mit Bezug auf den Heiligen Geist; und dieser Vers hier scheint ein Gebet zu enthalten, dass der Geist Gottes in Seinen verschiedenen Weisen in den Herzen des Volkes Gottes wirken möge. Durchwehe meinen Garten, lass träufeln seine Wohlgerüche!“ Im Weinberg des Herrn gibt es „vortreffliche Gewürze“, aber etwas ist nötig, um sie zum Ausströmen ihres Wohlgeruchs zu bringen. Der Herr ist gerade in Seinem Garten umhergegangen und hat die herrlichen Gewächse darin betrachtet und sie mit Namen genannt (V. 12-15).
Er kennt jede Pflanze Seines Gartens genau; und als sie gepflanzt wurde, welch reiche Sorgfalt ist ihr zuteil geworden, und welch reiche Frucht sollte hervorkommen! Sie sind alle von Seiner Rechten gepflanzt, „damit sie genannt werden Terebinthen der Gerechtigkeit, eine Pflanzung Jehovas, zu seiner Verherrlichung“ (Ps 80,15; Jes 61,3).
Zuweilen aber kommt eine todesähnliche Stille über die ganze Pflanzung, von der alt und jung angesteckt wird. Die wohlriechenden Zweige und Gewächse lassen trauernd ihre Spitzen hängen; sie geben sich dem Wehen des Geistes nicht hin, so dass der balsamische Duft nicht gelöst noch von dem Winde weitergetragen werden kann. „Wache auf, Nordwind, und komme, Südwind!“ ist dann der Ruf des treuen geduldigen Gärtners, „durchwehe meinen Garten“. Ein scharfer, kühler Nordwind oder ein liebliches, erquickendes Lüftchen aus dem Süden mag dazu dienen, das Volk des Herrn aus einem Zustande betrübender Nachlässigkeit und Trägheit aufzuwecken. Aber wie köstlich ist der Gedanke! der Besitzer des Gartens, der jede Pflanze in ihm genau kennt, hat sowohl den fächelnden Südwind wie den stürmischen Nord in Seiner Hand. Und Er lässt allen Seinen zarten, kostbaren Pflanzen gerade das richtige Maß von dem einen wie von dem anderen zukommen.
„Noch über ein Kleines“, und sie alle werden in das lieblichere Klima des Paradieses droben verpflanzt werden. Dort wird der durchdringende Nordwind der Trübsal und Züchtigung nicht länger nötig sein. In jenen wolkenlosen Regionen ewigen Friedens wird nichts mehr das Blatt ausdörren, die Knospe knicken, die Blüte welken machen oder die Frucht am Wachstum verhindern. Genug, mehr als genug haben wir davon gesehen in dieser unserer kalten Welt. O komm, du herrlicher, glücklicher Tag, der uns auf ewig dieser Wüste entführen wird, wo Drangsale und Kümmernisse oft kommen wie ein Wirbelwind, als sollte die schwache Pflanze mit Stamm und Wurzeln umgerissen werden; wo Schmerz und Trauer oft das Herz erfüllen und Scham das Angesicht bedeckt, weil wir in dem Guten so fruchtleer und in dem Bösen so fruchtbar gewesen sind! Dann, ja dann wird alles Böse für immer hinter uns liegen; kein Kummer, kein Krebs, kein Wurm mehr ewiglich! Gewurzelt in dem reinen Boden des Himmels und unaufhörlich den Tau der göttlichen Liebe trinkend, werden wir blühen und Früchte tragen zur unaussprechlichen Freude des Vaterherzens und zur Verherrlichung unseres anbetungswürdigen Herrn.
Herr, gib, dass wir uns alle Deiner Pflege willig hingeben, und dass unsere Herzen Deinen Geist wirken lassen, damit sich in unserem Leben die Frucht und der Wohlgeruch zeigen, die Dir so köstlich sind! - O möchten wir alle stets fähig sein zu sagen: „Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse die ihm köstliche Frucht!“ (Vers 16 b). Nur wenige Worte spricht die Braut in diesem herrlichen Kapitel; aber es sind schöne, gesegnete Worte. „Mein Geliebter.“ Sie fühlt sich daheim, sie ist glücklich in Seiner Gegenwart. Er, Er selbst ist ihr Teil. Sie weiß es, und sie genießt es. Er ist ihr geliebter Herr und Heiland. „Mein Geliebter“, sagt sie; aber wenn sie von dem Garten spricht, so nennt sie ihn „Seinen Garten“, und von der Frucht sagt sie: „die Ihm köstliche Frucht“. Das ist der richtige Boden, wie wir anderswo lesen: „Mein Geliebter hatte einen Weinberg auf einem fruchtbaren Hügel. Und er grub ihn um und säuberte ihn von Steinen und bepflanzte ihn mit Edelreben; und er baute einen Turm in seine Mitte und hieb auch eine Kelter darin aus“ (Jes 5,1.2). Und wenn Er von der Sorge spricht, die Er diesem Weinberg, der so unfruchtbar für Ihn war, hat angedeihen lassen, sagt Er: „Ich, der HERR, behüte ihn, bewässere ihn alle Augenblicke; damit ihn nichts heimsucht, behüte ich ihn Nacht und Tag“ (Jes 27,3).
In Joh 15 spricht der Herr von Sich als dem „wahren Weinstock“, von Seinem Volk als den „Reben“ und von Seinem Vater als dem „Weingärtner“. Welch eine wunderbare Sache. Der Vater blickt hernieder vom Himmel und sieht auf dieser Erde Seinen geliebten Sohn Frucht bringen zu Seiner Verherrlichung mittels der vielen Reben, die in Ihm bleiben. Denn nur durch den reichen Saft, der den Reben aus dem Weinstock zufließt, bringen sie Frucht. Welch ein lieblicher Anblick für das Auge des Vaters! Und welch eine Freude für Sein Herz, wenn die Reben, die so in lebendiger Weise mit Seinem Geliebten verbunden sind, „erfüllt sind mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus ist, zur Herrlichkeit und zum Preise Gottes“ (Phil 1,11). „Hierin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt“ (Joh 15,8).