Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 15
Der HERR fragt Hesekiel, welche Vorzüge das Holz des Weinstocks gegenüber dem der anderen Bäume hat. In diesem Zusammenhang tun wir gut, daran zu denken, dass in der Schrift nur von zwei Weinstöcken die Sprache ist: von Israel und von dem Herrn Jesus.
Verschiedentlich zeigt uns Gott Israel im Bilde des durch ihn auserkorenen Weinstocks, der auf israelitischen Boden gepflanzt wurde. Der Herr aber gibt uns zu bedenken, dass das Holz des Weinstocks nichts den anderen Holzarten voraus hat. Eher trifft das Gegenteil zu, denn sollten die anderen Bäume keine Früchte tragen, so findet dennoch ihr Holz hier und da nützliche Verwendung oder aber es wird nach orientalischer Sitte in Lehmmauern als Aufhang gestochen. Das Holz des Weinstocks ist hingegen völlig nutzlos und verdient - falls keine Früchte zu erkennen sind -, dass man es verbrennt.
Wir sehen hier Israel in seinem nationalen Dasein, - das sind die Reben, die hervorragenden Gebilde des israelitischen Volkes, - unter den Bäumen des Waldes, d.h. im Vergleich zu den anderen Völkern der Erde , bzw. den zur damaligen Zeit bekannten, so sagen uns bildlich gesprochen vielmehr die griechischen als die israelitischen Bäume zu.
Auch die Charaktere der arabischen Völker zeigen edlere Züge als die der Israeliten. Nehmen wir beispielsweise den letzten der Könige in der Schrift, bevor Gott auch Juda in die Verbannung schickt: Zedekia; an ihm können wir nichts Edles an seinem Benehmen entdecken.
Hier spricht nicht die Frage mit hinein, ob Gott sein Volk verachtet. Ebenso wie sich Paulus zum Ruhm der Gnade Gottes den größten Sünder nennt, und es eine niedrige Gesinnung bedeutet zu sagen, „ich bin weit sündiger als Paulus“, ebenso stellt sich uns die wunderbar zuneigende Liebe Gottes vor, wenn wir überlegen, dass Gott ein Volk, das aus unedlen und wahrhaft untauglichem Holz verfertigt ist, auswählt, um es zu seinem Eigentum aus allen Völkern der Erde zu machen.
Wunderbar stellt sich uns die Größe Gottes in der Wahl seiner Werkzeuge vor. Aus dem verachteten, unfruchtbaren Holz dieses Weinstocks - „wird Holz davon genommen, um es zu einer Arbeit zu verwenden?“ - formt Gott sich seine inspirierten Schreiber der Heiligen Schrift. Jüdische Personen bilden zusammen mit neutestamentlichen Personen, als den „Aposteln des Lammes“ die Gnadenmauern der Gemeinde. „Nimmt man davon einen Pflock, um irgendein Gerät daran zu hängen?“ Jawohl, sagt Gott, ich nehme mir von diesem Holz des Weinstocks einen Mann, Paulus, an den ich die ganze Sorgenlast meiner Versammlung auf der Erde hängen werde. „Außer dem, was außergewöhnlich ist, noch das, was täglich auf mich andringt, die Sorge um alle Versammlungen“, sagt er in 2. Korinther 11,28. „Ich bin überzeugt, dass er mächtig ist, das ihm von mir anvertraute Gut auf jenen Tag zu bewahren“, sagt er kurz vor seinem Scheiden von dieser Erde in 2. Timotheus 1,12.
Dies sind - wie Mose es im fünften Buch ausdrückt - „die verborgenen Dinge des HERRN, unseres Gottes.“ Wir finden hier in Hesekiel 15 die verantwortliche Seite. Nach Gottes gerechten Regierungswegen ist ein Holz, das keine Frucht trägt und auch in sich selbst wertlos ist, nur fürs Feuer geeignet. „Siehe, es wird dem Feuer zum Fraß gegeben. Hat das Feuer seine beiden Enden verzehrt und ist seine Mitte versengt“ (Vers 4)? Hier wird uns ein treffendes Bild des derzeitigen Zustandes in dem Land Israel geschildert. Die beiden Enden waren bereits verzehrt, denn im Jahr 722 v. Chr. wurde das Volk des Zehnstämmereichs in die Verbannung geführt und 597 v. Chr. war auch das zweistämmige Reich faktisch untergegangen, als dann noch der Mittelpunkt, Jerusalem, verbrannt wurde: Es war ein nutzloses Ringen gegen das ausdrückliche Gebot der Übergabe in der Vollendung der Geschichte: „Wird es zu einer Arbeit taugen?“ lautet die Frage Gottes an Hesekiel.
Das einst so fruchtträchtige Israel, das Gott vor allen anderen Völkern der Erde Freude bereiten sollte und Mittelpunkt des wahren Gottesdienstes war, hat zu bestehen aufgehört. Ein kleiner Überrest, der in der Person des Hohenpriesters Josua in Sacharja 3 als einem aus dem Feuer geretteten Brand vorgestellt wird, soll durch Gottes Gnade für die Zukunft erhalten bleiben, um seinen Namen durch das Werk des Geistes in Herz und Gewissen zu verherrlichen. Das so bevorzugte Volk Israels, das in Verantwortung gegenüber all diesen Vorrechten Gott Frucht bringen sollte, hat schmählich versagt. Christus nimmt als „der wahre Weinstock“ nun an Stelle Israels auf der Erde den Platz als Weinstock ein, und Gott ist nicht länger Landmann unter der Bezeichnung „der HERR von Israel“ sondern trägt nun den Namen „der Vater unseres Herrn Jesus Christus.“
Was besagt nun, dass der Herr Jesus den wahren Weinstock verkörpert? Um das zu verstehen, müssen wir das Bild des Weinstocks in Bezug auf Israel folgerichtig anwenden. Einen Weinstock können wir nicht im Himmel suchen. Der Herr Jesus ist demnach jetzt auch nicht im Bild des Weinstocks als der verherrlichte Sohn des Menschen zur Rechten Gottes zu betrachten. Er wird auch, wenn wir einst bei ihm in der Herrlichkeit sein werden, nicht mehr als Weinstock, sondern gemäß Offenbarung 5,6; 7,17 als das geschlachtete Lamm inmitten des Thrones geschaut werden. Hier auf der Erde ist er hingegen der wahre Weinstock, denn er stellt für alle Bekenner seines Namens, seien es Gläubige oder Ungläubige, den Mittelpunkt des Gottesdienstes dar, den Stamm der christlichen Vorrechte und Segnungen, mit dem sie verbunden sind. Das Ziel des Ackermannes ist nun, Frucht zu erhalten. Die Kunde von dem Namen des Herrn Jesus im allgemeinen Sinn, sei es in der griechisch-römischen Welt oder später, hat für alle, die seinen Namen angenommen haben, einen Strom reicher religiös-sittlicher Vorrechte hervorgebracht, die aber - verglichen mit dem angestammten Teil des alten Weinstocks Israel - nur wenige sind. Der Ackermann kann nun auf Grund der Segnungen erwarten, dass jede christliche Rebe Frucht trägt. Ob der natürliche Mensch, wenn er auch an den äußeren Segnungen des wahren Weinstocks teil hat, gottgemäße Frucht tragen kann, wird hier nicht gefragt. Es geht hier nur darum, dass die äußeren Voraussetzungen nach dem Predigen des Namens unseres Herrn im römischen Reich genügten, um den Ansprüchen auf Frucht für Gott, dem Schöpfer, gerecht zu werden.
In Offenbarung 14 begegnen wir einem sehr eigenartigen Ausdruck, der den Weinstock als Mittelpunkt des Gottesdienstes betrifft, und den wir ein wenig näher beleuchten wollen. Dort wird in den Versen 18 und 19 von dem „Weinstock der Erde“ gesprochen. Hier haben wir offensichtlich nicht den wahren Weinstock, Christus. Weil jedoch nicht zwei Weinstöcke gleichzeitig den Mittelpunkt der religiös-sittlichen Segnungen auf der Erde bilden können, enthält dieser Ausdruck die wichtige Tatsache, dass zu dieser Zeit der Herr Jesus nicht mehr der wahre Weinstock sein kann. Selbst das gottdienliche System hält dann nicht mehr an dem Namen Jesu Christi fest. Man nimmt dann - wie heute - keine antichristlichen Strömungen mehr in dem christlichen System wahr, weil nämlich das gesamte gottzugeneigte Gefüge bewusst dem Namen Christi den Rücken gekehrt hat, also „antichristlich“ geworden ist. Das bekannte Werk Voltaires „Ecrasez l'Infame!“ (Vernichte den Unehrenhaften!), das nicht gegen die katholische Kirche, als vielmehr gegen Christus gerichtet war, und dessen Erfüllung damals noch durch die Anwesenheit des Heiligen Geistes auf der Erde wie durch das politische Leben in jenen Tagen, dem Gleichgewicht der von Gott eingesetzten Mächte (den zwei Hemmnissen in 2. Thes 2), aufgehalten wurde, wird sich bald in ungereimter Weise bewahrheiten. Christus kann in einem solchen System nicht mehr als Weinstock auf der Erde betrachtet werden. Ein anderer Weinstock, „der Weinstock dieser Erde“, Israel, tritt nun vor unsere Blicke, der äußerlich wiederhergestellt zu sein scheint und sich in seinem Land befindet, doch dessen Mittelpunkt des religiösen Systems auf der Erde nicht mehr Gott darstellt, sondern der Antichrist. Zu Recht sagt meines Erachtens ein Ausleger über diesen Abschnitt der Offenbarung: „Ich glaube, dass der Weinstock der Erde abgefallene Juden meint, mit denen sich vielleicht auch Heiden zusammenschließen, die allesamt die Wahrheit verlassen haben und unter der Herrschaft des Tieres und des Antichrists stehen“.
Doch könnte jemand einwenden, dass hier in Offenbarung von Frucht die Rede ist, zudem von reifer Frucht, obgleich uns doch Hesekiel 15 das alte Israel als vollkommen unnütz vorstellt. - Ganz recht, wir lesen noch von dieser Frucht an drei Stellen im Alten Testament, und zwar von einem „wuchernden Weinstock“ (Hos 10,1), von „entarteten Ranken“ eines fremden Weinstocks (Jer 2,21) und von „Herlingen“ (Jes 5,2). Es ist eine reife Frucht, wenngleich noch nicht überreif, wie die Ernte der Erde in Vers 15. Alles ist reif, aber - zum Gericht. Von diesem System kann Gott natürlich keine Frucht verlangen. Wir sehen hier nicht ein Mischsystem von Gut und Böse wie es in der Ernte der Erde in Vers 14-16 dargestellt wird. Der Zustand liegt hier anders. Die Frucht ist nicht dürr, verwildert oder rot, denn darin könnte man noch ein Zeichen der guten Ernte erkennen, nein, diese Frucht ist völlig für ihre Bestimmung zubereitet: Um in „die große Kelter des Grimmes Gottes“ geworfen zu werden.
Gott urteilt nicht vor der Zeit. Wenn der Engel, der aus dem Altar kam, mit lauter Stimme rief, so will uns das sagen, dass das Urteil in voller Übereinstimmung mit den Forderungen der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes in Bezug auf die Sünde, die auf dem Kreuz offenbar gemacht wurde, stand. Nun, damit zum Anschauungsunterricht für die ganze Welt offenbar werden konnte, dass die gerechten Forderungen auf Golgathas Kreuz in den drei Stunden der Finsternis nicht ohne Grund bestanden, lässt Gott die Ernte reifen, um sie dann im Gericht „in die große Kelter des Grimmes Gottes“ zu werfen.
Diese Betrachtungen sind wohl der Mühe wert, überdacht zu werden. Wir stellen nun dem Leser anheim, die Bedeutung der anderen Bäume in der Schrift zu Herzen zu nehmen. Möge der Herr bei diesen Gedanken Herz und Gewissen in sein Licht bringen.