Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 10
In diesem Kapitel wird eine wichtige Frage beantwortet. Gott gibt Hesekiel nicht direkt die Antwort, aber durch seine eigene Beobachtung kommt er in Vers 20 zu dem Schluss: „Und ich erkannte, dass es Cherubim waren.“ Das ist zunächst eine wichtige Lektion für uns. Es gibt göttliche Dinge, deren Wege und Ziele wir nicht sogleich begreifen können. Wir wollen uns dann wie Hesekiel im Gefühl der Abhängigkeit leiten lassen, die Schriften erforschen, bis wir schließlich schon hier auf der Erde sagen können: „Und ich erkannte.“
Was hatte Hesekiel denn eigentlich zu erkennen? Wir haben in Kapitel 1,26 gesehen, dass „oberhalb der Ausdehnung, die über ihren Häuptern war, die Gestalt eines Thrones war, wie das Aussehen eines Saphirsteines; und auf der Gestalt des Thrones eine Gestalt wie das Aussehen eines Menschen oben darauf.“ Für uns ist das natürlich der Thron Gottes, für Hesekiel aber nicht. Als gläubiger Israelit wusste er, wo Gott thronte. Psalm 99 sagt in Vers 1, dass der HERR zwischen den Cherubim thront; und das hieß für den gläubigen Israeliten jener Tage: der Platz über dem Versöhnungsdeckel, auf dem die beiden in Gold getriebenen Cherubim saßen, ihre Blicke auf den Deckel gerichtet, also dorthin, worauf der Hohepriester alljährlich das Blut sprengte. Dort wohnte Gott; und dies wissen wir nicht nur aus den Büchern Mose oder den Geschichtsbüchern des Alten Testamentes, sondern auch das vorhergehende Kapitel (9,3) sagt es uns; „Und die Herrlichkeit des Gottes Israels erhob sich von dem Cherub, über welchem sie war, zu der Schwelle des Hauses hin.“ Das bezieht sich nicht auf das Gesicht von Kapitel 1, sondern auf den Ort, wo Gott im Allerheiligsten des Tempels Salomos wohnte.
Gott aber kann in Bezug auf seine Regierungswege mit dieser Erde nicht zugleich auf zwei Plätzen thronen. Wenn wir ihn in Hesekiel 10,1 auf dem Throne sehen, der uns in Kapitel 1 vorgestellt wurde, dann könnten wir uns zweierlei vorstellen. Entweder erscheint er da nur kurz um sich dann wieder auf den Versöhnungsdeckel zurückzuziehen, oder er nimmt den Thron von Kapitel 1 von nun an dauernd ein und verlässt so endgültig das Allerheilige. Die Antwort wird in den folgenden Versen gegeben.
Wir wollen zunächst die sittliche Größe des „in Linnen gekleideten Mannes“ betrachten, dem wir schon in Kapitel 9 begegnet sind. Er erfüllt jeden einzelnen Dienst vollkommen korrekt, sei es in Gnade (Kap. 9) oder im Gericht (Kap.10). Er hat seinen Rundgang durch Jerusalem beendet. Mit göttlicher Aufmerksamkeit und mit den menschlichen Gefühlen der Barmherzigkeit hat er die Seufzenden und Trauernden entdeckt. Daraufhin kehrte er in vollkommener Ruhe und Würde zu seinem Auftraggeber zurück und gab ihm Auskunft: „Ich habe getan, wie du mir geboten hast.“ In direktem Anschluss hieran empfängt er einen neuen Auftrag, der in krassem Gegensatz zu dem vorherigen steht: „Gehe hinein zwischen den Räderwirbel unterhalb des Cherubs, und fülle deine Hände mit Feuerkohlen von dem Raume zwischen den Cherubim, und streue sie über die Stadt hin.“ Wer von uns könnte diesem Auftrag Folge leisten? Selbst Hesekiel steht von ferne und sieht zu. Wir lesen dann ganz einfach am Ende von Vers 2: „Und er ging vor meinen Augen hinein.“ und ebenso unkompliziert lesen wir in den Versen 6 und 7: „Und es geschah, als er dem in Linnen gekleideten Mann gebot und sprach: Nimm Feuer zwischen dem Räderwirbel, zwischen den Cherbubim weg, und er hineinging und zur Seite des Rades trat, da streckte ein Cherub seine Hand zwischen den Cherubim hervor, zu dem Feuer hin, welches zwischen den Cherubim war, und hob es ab und gab es in die Hände dessen, der in Linnen gekleidet war; der nahm es und ging hinaus.“
Es ist merkwürdig, dass wir hier nichts von dem Ausstreuen der Feuerkohlen über die Stadt wieder finden. Wir lesen lediglich: „Der nahm es und ging hinaus.“ Mit Ehrfurcht gesagt, scheint es so zu sein, als habe sich Gott beruhigt; er erhebt sich in Vers 19 von der Erde über die Cherubim. Und stimmt das nicht auch? Wurde der Vater nicht in vollkommener Weise befriedigt, als er dem Sohn diese schwierige Aufgabe übertragen hatte? „Und während des Abendessens, als der Teufel schon in den Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, es ins Herz gegeben hatte, dass er ihn überliefere, steht Jesus, wissend, dass der Vater ihm alles in die Hände gegeben .... von dem Abendessen auf“ (Joh 13,2.3). Welch ein Gedanke: Es waren die Hände, die um meiner Sünden willen von grausamer und schmutziger Menschenhand ans Kreuz genagelt wurden und, während er am Holz hing, mit göttlicher Kraft ausgestreckt blieben, als wollten sie alle müden und beladenen Sünder nötigen, zu ihm herzukommen. In 1. Mose 49,24 lesen wir: „Gelenkig sind die Arme seiner Hände, durch die Hände des Mächtigen Jakobs.“ Sprachwissenschaftlich müsste hier stehen, „die Hände seiner Arme“. Aber Göttlichkeit geht über Sprachkunde; es heißt: „Die Arme seiner Hände.“
Mitten in dem Throne
Sehn die Deinen Dich.
Deine Siegerkrone
schmückt Dich ewiglich.
Die durchgrabnen Hände
künden Kreuzesnot.
Liebe ohne Ende
trieb Dich in den Tod
Lied 164,2
Wie lange bleiben denn diese durchbohrten Hände zum Segnen geöffnet? Bis zu dem Augenblick, in dem die feurigen Kohlen in seine Hände gefüllt, und sie über die Stadt ausgestreut werden. Teurer Leser, der du noch nicht den Herrn Jesus als deinen Heiland angenommen hast, riskiere nichts in Bezug auf diesen ernsten, bald nahenden Augenblick. Lukas 12,49 warnt uns davor: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen.“
„Die Cherubim aber standen zur rechten Seite des Hauses“ (Vers 3). Sie befinden sich jetzt an dem Platz, wo nach 1. Könige 7,39.44 die zwölf Rinder standen, die zusammen das Meer trugen; ebenso wird in Vers 14 das Angesicht des Stieres von Kap. 1,10 durch das Angesicht eines Cherubs ersetzt. Vers 4 wiederholt noch einmal, was in Kapitel 9,3 steht; doch steht jetzt die ganze Herrlichkeit des Herrn mit diesem feierlichen Schauspiel in Verbindung. Nachdem wir die merkwürdigen Geschehnisse um den in Linnen gekleideten Mann (Vers 7) betrachtet haben, scheinen vom 9. Vers an nur Wiederholungen aus Kapitel 1 zu stehen - doch so ist es nicht. Wir fanden diese Ausführungen bereits im 1. Kapitel, hier sind sie aber die Überschrift zu der Beschreibung der Räder: „Und es erschien an den Cherubim das Gebilde einer Menschenhand unter ihren Flügeln.“ Das Feuer wird in Menschenhände gegeben und Menschenhände sind an der Ausführung des Gerichts beteiligt. Wir werden hierbei an Offenbarung 5 erinnert. Die vier lebendigen Wesen sind bis zu dem Augenblick, wo das Lamm das Buch nimmt, sehr eng mit dem Thron verbunden; die Ältesten hingegen bilden eine getrennte Gruppe, sogar in Kap. 5,6 ist das noch so: „Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen (1) und inmitten der Ältesten (2).“ Sobald aber das Lamm das Buch genommen hat, finden wir die vier lebendigen Wesen (vgl. Hes 10,15.17.20) mit den vierundzwanzig Ältesten zusammen genannt; sie werden von da an in der Offenbarung immer zusammen erwähnt.
Etwas Merkwürdiges haben wir noch in unserem Kapitel, das in Kapitel 1 nicht erwähnt wird. Vers 13 sagt, dass die Räder vor den Ohren Hesekiels „Wirbel“ genannt werden. Dieses Wort „Wirbel“ (“Galgal“) ist sehr interessant. Es ist ein runder Gegenstand, der bequem und ohne Widerstand gedreht und gerollt werden kann. Das hebräische Wort kommt auch in dem bekannten Abschnitt über die Beschneidung in Josua 5,9 vor: „Und der HERR sprach zu Josua: Heute habe ich die Schande Ägyptens von euch abgewälzt. Und man gab selbigem Orte den Namen Gilgal bis auf diesen Tag.“ Und noch einmal in Kapitel 10,18: „Und Josua sprach: Wälzet große Steine an die Mündung der Höhle.“ Denselben Wortstamm finden wir noch in Johannes 19,17: Und sein Kreuz tragend, ging er hinaus nach der Stätte, genannt Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgatha heißt;“ Eine sehr merkwürdige Ableitung dieses Wortes, sozusagen aus der Natur geboren, haben wir in Psalm 83,13: „Mein Gott, mache sie gleich einem Staubwirbel.“ Der Wirbel hat es auf eine ganz bestimmte Distel mit breiten Blättern abgesehen. Diese Pflanze stirbt ohne zu verwelken, sie hält noch die vertrockneten Blätter fest und sieht wie ein Gespenst aus. Wenn dann der Stängel verschrumpelt und der Wind die Pflanze entwurzelt, so wird sie von ihm fortgerissen und rollt so über die kahle Fläche. Im Rollen greift der Dornstrauch immer mehr Fasern und Ästchen auf, die so mit ihm zu einem runden Knäuel verwoben werden; die Beduinen nennen diesen in der Steppe umherirrenden Ball „Galgal“ (Wirbel), und so werden hier die Räder bezeichnet.
Dieses Galgal (“Abwälzung“) erinnert an die Worte aus Amos 5,24: „Aber das Recht wälze sich einher wie Wasser, und die Gerechtigkeit wie ein immerfließender Bach!“ Alle Dinge, die mit dem Gericht in Verbindung stehen und in die Hand des Sohnes des Menschen gegeben sind, wälzen sich einher wie Wasser. Der Sohn des Menschen hat von all dem genaueste Kenntnis. Er wurde gleich der Färse in 5. Mose 21,4 zu dem immer fließenden Bache (Golgatha) geführt, der von dem Gericht Gottes spricht. Jetzt aber ist er nicht mehr der Zielpunkt der Gerichte, sondern deren Vollstrecker. Er macht nun Gebrauch von der ihm anvertrauten Gewalt, das Gericht als Sohn des Menschen auszuüben (Joh 5,27).
Während Hesekiel bis jetzt immer von „Cherubs“ gesprochen hat, erklärte er uns jetzt, dass all das, was er im Augenblick erkennt, dem gleicht, was er damals am Fluss Kebar gesehen hat. Dreimal bestätigt er dies (Vers 15.20.22). Als sich die Herrlichkeit des HERRN von der Schwelle des Hauses hinweg begibt, kehrt sie nicht zum Allerheiligsten des Tempels zurück, um dort ihren Platz auf dem Versöhnungsdeckel wieder einzunehmen. „Sie stellte sich über die Cherubim“. Um aber alle Zweifel auszuschließen, es könnten die Cherubs auf dem Versöhnungsdeckel gemeint sein, folgt Vers 19: „Und die Cherubim erhoben ihre Flügel und hoben sich vor meinen Augen von der Erde empor, als sie sich hinweg begaben; und die Räder waren neben ihnen Und sie stellten sich an den Eingang des östlichen Tores des Hauses Jehovas, und die Herrlichkeit des Gottes Israels war oben über ihnen.“ Hesekiel festigt dies im darauf folgenden Vers: „Das war das lebendige Wesen, welches ich unter dem Gott Israels am Flusse Kebar gesehen hatte; und ich erkannte, dass es Cherubim waren.“ Dies beinhaltet alles. Es bedeutet nicht nur, dass Hesekiel die lebendigen Wesen für nichts anderes hielt als für Cherubs, sondern er erkennt auch, dass sie nun die Thronträger des Gottes Israels sind, und somit der Versöhnungsdeckel mit den Cherubim darüber nicht mehr den Thron Gottes bilden kann.