Betrachtung über den Propheten Hesekiel
Kapitel 9
In diesem Kapitel begegnen wir erneut einem Überrest. In Kapitel 7 sahen wir ihn in den Entronnenen auf den Bergen (Vers 16), - hier sind es die Männer, die über all die Gräuel, die inmitten von Jerusalem verübt werden, jammern und klagen (vgl. Ps 55 und 56).
Wenn das Gesicht Hesekiels auch seine Erfüllung schon in der Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar gefunden hatte, so ist es doch mit der Erscheinung Jesu Christi, um sein Reich aufzurichten, eng verbunden (Sach 14,1.2).
Es ist sehr ernst, wenn wir in Vers 1 hören, dass es überirdische Wesen sind, nämlich Engel, die die Aufsicht über die Erde führen müssen. Wir finden in dem Traum Nebukadnezars (Dan 4,13 u.23) ebenfalls einen Aufseher oder Wächter. Wie wenig denken wir in unserem Leben an diese heiligen Wächter. Paulus dagegen wusste um diese Engel: „Ich bezeuge ernstlich vor Gott und Christo Jesu und den auserwählten Engeln, dass du diese Dinge ohne Vorurteil beobachtest, indem du nichts nach Gunst tust“ (1. Tim 5,21).Wie ganz anders würde unser Verhalten sein in den Zusammenkünften, Brüderstunden, im Umgang mit dem Ehepartner und bei der Erziehung unserer Kinder. Der große Reformator Calvin trat in dieser Hinsicht in die Fußstapfen des Apostel Paulus. In seien Briefen und Schriften kommt wiederholt der Ausdruck vor: „vor Gott und seinen heiligen Engeln“; das bedeutete eine lebendige Wirklichkeit für Calvin.
Die Aufseher über diese Stadt treten näher und stellen sich neben den ehernen Altar. Sie stehen an demselben Ort, wo in Offenbarung 8,3-5 der „andere Engel stand“ - eine geheimnisvolle Andeutung für die Person des Herrn Jesus. Von diesem Ort aus stieg der liebliche Geruch Christi und seines Opfers zu Gott empor, als er sich dort befand, wo Sünde und Tod herrschten. Dass hier ausdrücklich der eherne Altar erwähnt wird, deutet darauf hin, dass das Gericht, das über Jerusalem hereinbrechen wird, in vollkommenem Einklang mit der Gerechtigkeit Gottes ist, die am Kreuz offenbart wurde. Ob wir Gottes Gerichte mit Israel oder mit der Christenheit betrachten, immer wird den gerechten Forderungen, die an unseren Herrn und Heiland gestellt wurden, Genüge getan.
Doch, o Wunder der Gnade, in der Nähe des ehernen Altars befindet sich ein Mann, der es wagt, mitten unter den Aufsehern mit ihren Werkzeugen der Zerstörung zu stehen. Er ist die Verkörperung dessen, der einst von Übeltäter umringt am Kreuze hing, jetzt in der Mitte der zwei oder drei weilt, die sich zu seinem Namen hin versammeln, und bald inmitten des Thrones und der lebendigen Wesen und der Ältesten gesehen wird. Er ist in Linnen gekleidet, vielleicht ein Hinweis auf die vollkommene menschliche Offenbarung und die menschlichen Gefühle, die er haben wird.
Wir lesen von dieser Person, dass sie ein Tintenfass eines Schreibers an ihrer Hüfte hatte. Sobald nun die in Linnen gekleidete Person auf das Wort des HERRN hin tätig wird, ist das Tintenfass das Werkzeug, dessen sie sich bedient. Doch vorher geschieht noch etwas Seltsames. Hesekiel sieht deutlich eine Vision, die keiner der sorglosen Bewohner Jerusalems erkennt, dass nämlich die Herrlichkeit des Gottes Israels sich von dem Cherub, über welchem sie schwebte, zu der Schwelle des Hauses hin erhob. Was musste die Herrlichkeit des HERRN dort antreffen? Es waren die Hüter, wie sie uns bei verschiedenen Gelegenheiten in den Geschichtsbüchern des Alten Testamentes begegnen. Doch keiner von ihnen trat für die Ehre Gottes ein, denn alle vier Formen von Götzendienerei - wir haben sie im Kapitel 8 betrachtet - hatten in dem Tempel Eingang gefunden. Das Bild der Eifersucht, welches zum Eifer reizt und an dem Eingang zum inneren Vorhof stand, welcher gegen Norden ist, hatte keinen Pinehas inmitten seiner Brüder erlebt.
Aufgrund von 1. Chronika 9,20 können wir annehmen, dass es Nachkommen des frommen Pinehas waren, die ihren Dienst als Hüter des Eingangs zum Hause verrichteten. Es sind zu dieser Zeit mehr als achthundertfünfzig Jahre verflossen, als Pinehas für die Ehre Gottes eintrat und mit göttlicher Hingabe in der Mitte Israels eiferte. Das dieser Einsatz weder von Gott noch von den Frommen in Israel vergessen ist, bestätigt deutlich der Nachsatz in 1. Chronika 9,20: „der HERR war mit ihm.“ Der Schreiber von Chronika übernimmt hier nach der Wegführung (die Chronika wurde wahrscheinlich in der Zeit Esras geschrieben) einen Ausdruck, der Jahrhunderte hindurch, immer wenn man über Pinehas sprach, in Israel gebräuchlich war: „der HERR war mit ihm!“ Ebenso spricht man in Holland noch nach vier Jahrhunderten von Prinz Wilhelm von Oranien als dem „Vater des Vaterlandes“.
In 1. Chronika 9,22 wird uns noch, vierhundert Jahre nachdem Pinehas für die Ehre Gottes eintrat, eine Nachkommenschaft vorgestellt, die zwar nicht an den Ruhm ihres Stammvaters heranreichte, doch als Nachahmer seines Glaubens (Heb 13,7) wegen ihrer Treue in ihrem Amt bestätigt wurden. Hier aber in Hesekiel 9 findet Gott keinen treuen Priester mehr an der Schwelle seines Hauses. Kein Eiferer ist imstande, „seinen Grimm von den Kindern Israel abzuwenden“ (4. Mose 25,11). Doch etwas anderes steht jetzt vor uns - ein in Linnen gekleideter Mann tritt in die Mitte der Vertilger. Eine ganz persönliche Gnade, wie sie vorher nie in Israel gekannt war, wird nun an den Stirnen der Leute ersichtlich, „welche seufzen und jammern über all die Gräuel, die in ihrer Mitte geschehen“. Diese Männer versuchen nicht das Böse zu verbessern, sie erkennen einfach an, dass kein Mensch das Volk davon abbringen kann. Die in Jerusalem verübten Gräueltaten bewirken, dass sie zunächst das Angesicht Gottes aufsuchen und im Verborgenen seufzen sie über all das Böse vor seinem Angesicht. Doch nicht nur das, sondern sie jammern auch darüber; manche übersetzen „sie schreien“. In lautem Protest gegen das Böse wenden sie sich zu Gott und sind so ein Vorbild von dem treuen Überrest, den wir in dem letzten der Maskil -(Unterweisungs-)Psalmen (142) ausrufen hören: „Mit meiner Stimme schreie ich zu dem HERRN, mit meiner Stimme flehe ich zu dem HERRN“ (Vergl. Ps 55,3.10.12).
Es ist beachtenswert, dass ein Zeichen auf die Stirne der Leute, welche jammern und seufzen, angebracht werden musste. Dies deutet auf ein geistliches Verständnis über den Zustand des Volkes hin und auf die Einsicht, zu erkennen, welches Verhalten sich Gott gegenüber unter diesen Umständen geziemt. Eine solche Vorschrift kannte das Gesetz nicht. Nirgends in den Büchern Mose finden wir Verordnungen, dass das Volk seufzen und jammern sollte, wenn sie die Gebote des Herrn übertreten hatten und Strafe im Verzug war. Das trifft genauso für uns zu. Paulus schreibt in 1. Timotheus 3,15: „Wenn ich aber zögere, auf dass du wissest, wie man sich verhalten soll im Hause Gottes“ usw. An keiner Stelle aber haben wir in den Briefen einen apostolischen Befehl, zu seufzen und vor dem Angesicht Gottes zu jammern, wenn die Versammlung in ihrer Verantwortung gefehlt hat und der Zustand derart geworden ist, dass das Gericht folgen müsste. Geistliche Einsicht hat zu Beginn des vorigen Jahrhunderts Herz und Gewissen der Gläubigen in das Licht Gottes gebracht; es war keine Einsicht des bloßen Verstandes, sondern die des Gewissens. Man hat damals nicht nur im Verborgenen vor Gottes Angesicht geseufzt, sondern in offenem Protest gegen alle Ungerechtigkeit inmitten der bekennenden Christenheit haben die Brüder sich von jedem menschlichen System getrennt und den Platz eingenommen, den hier die Getreuen in den Tagen Hesekiels vor Gottes Angesicht aufsuchten. Doch nehmen wir heute auch den geziemenden Platz ein, da das Gericht noch viel näher gerückt ist und das Böse sich in allerlei Formen viel deutlicher kundtut, als im vorigen Jahrhundert?
Was das Zeichen selbst angeht, so ist das hebräische Wort für Zeichen der Buchstabe T; er ist der letzte Buchstabe im hebräischen Alphabet. Es war die erste Form des Kreuzes das so genannte Karthagische Kreuz; es wurde von den Römern übernommen und in das uns bekannte Kreuz mit der Form t verändert. (Es gibt noch das Andreaskreuz X, an das der Überlieferung nach der Apostel Andreas genagelt wurde). Der Gedanke ist kostbar, dass die sechs Männer, die das Verderben brachten, all denen nichts anhaben konnten, die das Zeichen des Kreuzes auf der Stirne trugen, das die geheimnisvolle Person in ihrer Mitte selbst angebracht hatte. So war es auch vor neunhundert Jahren als der HERR in der letzten Nacht der Kinder Israel in Ägypten Rettung gab: „Und sehe ich das Blut, so werde ich an euch vorübergehen; und es wird keine Plage zum Verderben unter euch sein, wenn ich das Land Ägypten schlage“ (2. Mo 12,13b). Das Werk des Herrn Jesus hat auch uns von dieser Welt und dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf erlöst; im Vorbilde Ägyptens sind auch wir „aus der Gewalt der Finsternis“ (Kol 1,13) errettet worden, wo Satan Fürst ist; doch unser Heiland hat uns auch von dem Gericht erlöst, das über die Kirche, die so schmählich versagt hat, und über eine gefallene Christenheit, hereinbrechen wird.
Der HERR redet in Vers 5 ernste Worte zu den sechs Männern: „Gehet hinter ihm her durch die Stadt und schlaget.“ Ja, das Gericht folgt dicht hinter ihm her, der sich auch in unseren Tagen solche merkt, die zunächst ihr eigenes Böse und dann das der anderen verurteilen. Die Gläubigen werden durch ihn vom kommenden Zorn errettet, sie werden vor der Stunde der Versuchung bewahrt, die über den ganzen Erdkreis kommen wird, um die zu versuchen, welche auf der Erde wohnen (1. Thes 1,10; Off 3,10). Das Gericht kommt schnell hinterher.
Doch wo beginnt das Gericht? „Bei meinem Heiligtum.“ An diese Worte scheint der Apostel Petrus zu denken, wenn er durch den Geist geleitet in seinem ersten Brief (4,17) schreibt: „Denn die Zeit ist gekommen, dass das Gericht anfange bei dem Hause Gottes.“ Das war in seinen Tagen geschehen: Das Gericht über die Juden, die ihren Messias verworfen hatten, stand vor der Tür. Ein sorgfältiges Studium der Offenbarung von Kapitel 6 ab lässt dies deutlich erkennen. Wenn die Versammlung entrückt ist, wird es an den Orten, wo „Gottes Heiligtum“ gestanden und der Heilige Geist unter verantwortlichen Personen gewohnt hat, furchtbar zugehen. Erschütternd in Vers 6 zu lesen: „Und sie fingen an bei den alten Männern, welche vor dem Hause waren.“ Die alten Männer, im Neuen Testament sind es die Ältesten, die bei den jüdischen Versammlungen Aufseherdienste taten, und von denen im Buche Hiob steht, dass sie voll Weisheit sind, sie fielen zuerst unter das Gericht. Sie waren vor dem Haus. Sie verkehrten da, wo ihr Amt und ihre Würde hinpassten. Sie begriffen nicht, dass sie zugleich dort waren, wo ihr wirklicher Zustand und der des Volkes richtig beurteilt werden konnte - Jeremia stellte an dieser Stelle zwei Körbe Feigen auf (Kap.24). Wir haben nicht den Eindruck, dass einer von ihnen „jammerte oder seufzte“.
„Euer Auge schone nicht und erbarmet euch nicht“, befiehlt Gott den Engeln. Die Engel wissen genau, was das Gericht Gottes bedeutet. Lukas 15 sagt uns, dass von den Engeln Gottes Freude ist über einen Sünder, der Buße tut. Sie kommen ihrem Vernichtungswerk bestimmt nicht gerne nach. Gott weist sie an, kein Gefühl oder Mitempfinden aufkommen zu lassen. O, Freunde, die ihr dies jetzt lest, solltet ihr noch keinen Weg gefunden haben, eure Sünden loszuwerden, so bitten wir euch, dass ihr euch doch unter das Kreuz stellt, denn allein hier seid ihr sicher vor dem Gericht, das sogar die Ausführenden unter den mächtigen Engelscharen nur widerwillig vollstrecken.
Hesekiel fällt nun zum dritten Mal in unserem Buch auf sein Angesicht, doch nicht beim Anschauen der Herrlichkeit des HERRN in der Höhe oder im Tal, sondern vielmehr bei der verwüstenden Arbeit der Engel. Hesekiel selbst bleibt verschont. Wie Abraham beugt er sich nieder zur Erde (ein Bild des Gott anflehenden Überrestes, wie er uns in den Psalmen vorgestellt wird) und bittet um Erbarmen für den Überrest in Israel. Die innige Übereinstimmung, die zwischen Gott und seiner Seele besteht, geht sowohl aus seinem Flehen, wie auch aus der vertraulichen Antwort hervor, die Gott ihm gibt. Hesekiel empfängt bei der Rückkehr des in Linnen gekleideten Mannes (nicht aber der anderen sechs) einen herrlichen Trost. Es wird ihm nicht selbst berichtet, sondern er ist Zuhörer von dem, was der Mann dem HERRN zu sagen hat. Und was ist das? Es sind die einfachen Worte von Vers 11: „Ich habe getan, was du mir geboten hast.“ Wir erinnern hierbei an die Jünger, die - bevor sie über den Bach Kidron gehen - in Johannes 17 den Herrn Jesus zum Vater sagen hören: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde ; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte .... Und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ist verloren.“ In Kapitel 18, 8.9 sagt der Heilige Geist ausdrücklich, dass er diese Worte unmittelbar, nachdem er sie ausgesprochen hat, wahr macht. Er wird sie auch an uns wahr machen, denn bald geht der Wunsch von Kapitel 17,24 in Erfüllung. Wir können keine Zeit für das Eintreffen dieses Gebetes von Johannes 17 angeben. Er wird wie Isaak in 1. Mose 24,62 eintreffen: „Isaak aber war von einem Gange nach dem Brunnen Lachai-Roi gekommen;“ (Darby-Übers.: came from coming to ...). Der Augenblick von diesem „Vater, ich will“ steht nahe bevor. Dann sind wir für immer bei ihm, der all das tat, was der Vater ihm zu tun geboten hat. Was wir jetzt im Glauben in Johannes 17 vernehmen, werden wir später im Himmel selber wieder hören: „Ich habe getan, wie du mit geboten hast.“ „Siehe, ich und die Kinder, die Gott mir gegeben hat“ (Heb 2,13).
Niemand, weder Mensch noch Engel, hat diese Worte jemals vor Gott aussprechen können, noch wird man sie je aussprechen. Nur für den Mund göttlicher Personen geziemen sich diese Worte und sind sie echt. In Lukas 14,22 sagt der Diener, der ein Bild des Heiligen Geistes ist: „Herr, es ist geschehen wie du befohlen hast.“ Hier und in Johannes 17 finden wir diese Worte aus dem Mund des Sohns. Diese Zeit wird ein Ende nehmen und die lange Ewigkeit wird mit dem Wort der göttlichen Personen zu Gott, dem Vater, beginnen: „Es ist geschehen, wie du mir befohlen hast“ (vgl. Off 21,6). Dann fallen alle menschlichen Bemühungen und Fehler von sechstausend Jahren flach und nur der bleibt bestehen, der das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende und der Vollender seiner eigenen göttlichen Ratschlüsse ist.