Der Brief an die Galater
Kapitel 2
Das zweite Kapitel, das uns zunächst von den weiteren Führungen Gottes mit seinem Knecht Bericht gibt, beginnt mit den Worten: „Darauf, nach Verlauf von vierzehn Jahren“, hier, wie im 18. Vers des 1. Kapitels von seiner Bekehrung an gerechnet, „zog ich wieder nach Jerusalem hinauf mit Barnabas und nahm auch Titus mit. Ich zog aber hinauf infolge einer Offenbarung“ (V. 1.2). Elf Jahre waren also seit seinem ersten Besuch in Jerusalem vergangen. Paulus hatte sie teilweise in Tarsus, seiner Vaterstadt, und, durch Barnabas von dort geholt, in Antiochien zugebracht, von wo dann die beiden Männer später gemeinsam ihre erste Missionsreise angetreten hatten. Die Kapitel 11–14 der Apostelgeschichte teilen uns Näheres über diese Zeit mit. Am Ende des 11. Kapitels hören wir, dass Barnabas mit Saulus nach Judäa reiste, um den Ertrag einer Sammlung ihren dort wohnenden darbenden Brüdern zu überbringen. Bei dieser Gelegenheit ist Saulus wohl nur ganz vorübergehend in Jerusalem gewesen. Der Besuch wird am Ende des 12. Kapitels ohne jede nähere Mitteilung kurz erwähnt.
Über den in unserem Kapitel besprochenen Besuch berichtet dann die Apostelgeschichte ausführlich im 15. Kapitel. Aber während uns dort die äußeren Gründe mitgeteilt werden, die den Apostel zu seiner Reise veranlassten, hören wir hier, dass er zufolge einer Offenbarung, d. h. also einer bestimmten Weisung von oben, hinaufzog. Gott hatte seine Hand unmittelbar in der Sache. Er wollte nicht, dass die ernste Frage der Beschneidung in Antiochien entschieden würde, auch nicht, dass Paulus für sich allein den Weg ginge, den Er ihm verordnet hatte. Um die Einheit in Zeugnis und Dienst aufrechtzuerhalten, musste die Sache in Jerusalem zur Behandlung kommen; zugleich sollte Paulus mit den übrigen Aposteln in nähere Gemeinschaft gebracht werden.
Lukas berichtet in dem genannten 15. Kapitel: „Und einige kamen von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr nicht beschnitten werdet nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht errettet werden. Als aber ein Zwiespalt entstand und ein nicht geringer Wortwechsel zwischen ihnen und Paulus und Barnabas, ordneten sie an, dass Paulus und Barnabas und einige andere von ihnen zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufgehen sollten wegen dieser Streitfrage“ (V. 1.2). In Jerusalem angekommen, fanden sie auch dort denselben Zwiespalt der Meinungen: „Einige aber von denen aus der Sekte der Pharisäer, die glaubten, traten auf und sagten: Man muss sie beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten“ (V. 5). Die Frage, die zu einem großen Riss zu führen drohte, musste notwendig entschieden werden und wurde entschieden. Der Heilige Geist leitete es so, dass die Apostel samt den Ältesten und der ganzen Versammlung zusammenkamen, „um die Angelegenheit zu besehen“. Das Ergebnis der teilweise ziemlich erregten Verhandlungen kennen wir: Die Forderungen der dem Gesetz zuneigenden Gläubigen wurden abgewiesen, und die Wahrheit des Evangeliums blieb den Christen aus den Heiden erhalten.
Bei dieser wichtigen Gelegenheit befand sich unter den Reisebegleitern des Apostels auch Titus, ein Grieche. Paulus „nahm ihn mit“, wie er schreibt. Wir dürfen vielleicht annehmen, dass auch dieser kühne Schritt in Verbindung stand mit der von oben empfangenen Offenbarung. Denn es war ein Unternehmen, das wesentlich dazu beitragen musste, die Entscheidung der Frage, ob Beschneidung oder nicht, herbeizuführen. Aber Titus wurde, wie Paulus scheinbar nur beiläufig erwähnt, „obwohl er ein Grieche war, nicht gezwungen, sich beschneiden zu lassen“. Timotheus, „der Sohn einer jüdischen gläubigen Frau, aber eines griechischen Vaters“, wurde später von dem Apostel um der am Ort wohnenden Juden willen beschnitten (vgl.
Interessant ist die Art und Weise, in welcher Paulus den Galatern mitteilt, wie der Herr jene ernste Zusammenkunft zu ihrem bleibenden Segen hatte ausschlagen lassen. Zufolge jener Offenbarung hinaufgezogen, hatte er die Gelegenheit benutzt, um den Versammelten das Evangelium vorzulegen, das er unter den Nationen predigte. Im Besonderen war dies den „Angesehenen“ gegenüber geschehen, damit er „nicht etwa vergeblich laufe oder gelaufen wäre“ (V. 2). Der Apostel, der sein Evangelium unmittelbar vom Herrn selbst empfangen hatte, war dafür verantwortlich, es genauso weiter zu geben, wie es ihm anvertraut worden war. Aber wie er sich allezeit bemühte, den Gläubigen in Wort und Schrift da zu begegnen, wo er sie fand, und ihnen in Liebe weiterzuhelfen, benutzte er auch diese Gelegenheit, um den Führern der Versammlung in Jerusalem, die in der Erkenntnis der Wahrheit wohl weit hinter ihm standen, das ihm vom Herrn Anvertraute eingehend vorzutragen. Sowohl im Blick auf seine eigene Arbeit als auch auf den einheitlichen Fortgang des ganzen Werkes war eine friedliche Verständigung mit den „Angesehenen“ von Wichtigkeit. Was wäre geworden, wenn infolge eines unbesonnenen Vorgehens seinerseits ein Zwiespalt zwischen ihm und den übrigen Aposteln oder Arbeitern entstanden wäre? Wie würde Satan triumphiert haben!
Es ist so schön, in diesem nachahmungswürdigen Mann immer wieder der Gesinnung Christi zu begegnen. Nie sich selbst suchend, nur bedacht auf die Verherrlichung des Herrn, die Förderung seines Werkes und das Wohl seiner geliebten Herde, wurde sein Ausspruch praktisch bei ihm wahr: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“
Aber so wichtig im Allgemeinen und im Besonderen bedeutungsvoll für die Galater diese Verständigung mit den übrigen Aposteln auch sein mochte, war doch der eigentliche Grund der Reise des Apostels nach Jerusalem und seines entschiedenen Auftretens für die Wahrheit ein anderer. Wir finden ihn in den Versen 4 und 5: „Es war aber der nebeneingeführten falschen Brüder wegen, die nebeneingekommen waren, um unsere Freiheit auszukundschaften, die wir in Christus Jesus haben, damit sie uns in Knechtschaft brächten; denen wir auch nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben haben, damit die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbliebe.“ Paulus dachte nicht daran, mit diesen verkehrten Leuten über die Wahrheit zu streiten. Sie wollten ja die Wahrheit nicht. Ihre Absicht war, die Freiheit, die wir in Christus haben, hinterlistig „auszukundschaften“. Darum nennt Paulus sie auch wohl „falsche Brüder“. Es ist eine auffallende und doch wieder verständliche Erscheinung, dass mit dem Annehmen böser Lehren fast immer Unaufrichtigkeit Hand in Hand geht, oder sich doch daraus entwickelt. Wenn das aber so ist, was kann es dann nützen, mit solchen Leuten zu streiten? Es bleibt nichts anderes übrig, als das zu tun, wozu der Apostel in seinen Briefen immer wieder auffordert und was er hier selbst tat, d. h. mit aller Entschiedenheit ihnen entgegenzutreten, sie abzuweisen, sich von ihnen abzuwenden. Er hatte ihnen nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit nachgegeben. Handelte es sich doch um einen Preis, der solch unbeugsamer Entschiedenheit wert war: „… die Wahrheit des Evangeliums bei euch verbliebe.“ Was jene Leute anstrebten, ist uns bekannt; sie wollten die Gläubigen wieder unter die Knechtschaft des Gesetzes führen, das doch nur Fluch und Verdammnis über den Menschen bringen kann.
Der Apostel kommt jetzt auf die Männer zurück, die in Jerusalem in Ansehen standen. Was sie waren und welchen Platz sie einnahmen, hatte für ihn keine große Bedeutung – Gott nimmt ja keines Menschen Person an; zudem hatten diese angesehenen Männer ihm „nichts hinzugefügt“. Im Gegenteil, sie hatten anerkennen müssen, dass „die Gnade, die ihm gegeben war“, über das ihnen selbst Anvertraute weit hinausging. War Petrus das auf Israel beschränkte Apostelamt der Beschneidung gegeben worden, so hatte Gott dem Paulus das alle Völker der Erde umfassende Apostelamt der Nichtbeschneidung anvertraut. Die ihm gegebene Gnade ging darum schon in dem ihr zugewiesenen Gebiet weit über das Teil der Zwölf hinaus, ganz abgesehen von dem tiefgehenden Unterschied, der im Blick auf die offenbarten Wahrheiten zwischen beiden bestand. Derselbe Gott hatte in Paulus wie in Petrus gewirkt, und zwar so, dass den Zwölfen nichts anderes übrig blieb, als dankbar das anzuerkennen, was Gott, ohne sie, durch Paulus getan hatte. Jahre erfolgreichen, gesegneten Dienstes lagen schon hinter ihm, die klaren Beweise seiner Sendung und außergewöhnlichen Begabung waren erbracht. Die Folge war, dass „Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen wurden, ihm und Barnabas die Rechte (d. i. die rechte Hand) der Gemeinschaft gaben“, damit Paulus und seine Mitarbeiter „unter die Nationen, sie aber unter die Beschneidung gingen“. Sie verbanden damit die Vereinbarung, dass Paulus mit den Gläubigen aus den Nationen der Armen unter Israel gedenken möge, was er bekanntlich mit aller Treue stets getan hat (V. 10). Damit war nicht nur die Bemühung des Feindes, die Gläubigen unter das Joch des Gesetzes zu bringen, zunichte geworden, sondern auch das Band der Gemeinschaft bezüglich des Dienstes zwischen den beiderseitigen Führern befestigt worden. Wieder einmal hatte Gott aus dem beabsichtigten Bösen Gutes hervorkommen lassen.
Doch mehr noch als das. In den nächsten Versen erzählt Paulus, unter der offensichtlichen Leitung des Heiligen Geistes, der keinerlei Rücksicht auf Personen nimmt, wenn es sich um die Aufrechterhaltung der Wahrheit handelt, ein Ereignis, das uns zeigt, wie wenig Paulus die Männer, die vor ihm Apostel waren, als Vorgesetzte betrachtete, nach deren Anerkennung man streben muss. Zugleich versetzte es den Gesetzlichen einen umso schwereren Stoß, weil es ganz unbeabsichtigt war und für den hochangesehenen Apostel der Beschneidung nichts weniger als ein Lob bedeutete. Wie gut, dass das Wort Gottes in jeder Beziehung lauter, zuverlässig und treu ist! Mit gerechter Waage wägend, schont es niemand. Wie schön ist es anderseits, dass Petrus es seinem treuen Bruder und Mitknecht nie nachgetragen hat, dass er ihn für alle Zeiten anscheinend so schonungslos an den Pranger gestellt hat! Er nennt ihn in seinem letzten Brief, nicht lang vor seinem Tod, „unseren geliebten Bruder Paulus“ und empfiehlt „alle seine Briefe“ der besonderen Beachtung der Gläubigen (
Doch folgen wir dem Bericht selbst. „Als aber Kephas nach Antiochien kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, weil er dem Urteil verfallen war“ (V. 11). In Jerusalem war unserem Apostel von Petrus die Hand der Gemeinschaft gereicht worden, hier in Antiochien widerstand Paulus ihm ins Angesicht, d. h. ohne jede Rücksichtnahme auf seine Person. Warum das? Hören wir. Einem gesetzestreuen Juden war es nicht erlaubt, bei Heiden einzukehren und mit ihnen zu essen (vgl.
„So kleinlich die Sache auch scheinen mochte“, sagt ein anderer Schreiber1 zu dieser Stelle, „so wichtig war sie in den Augen Gottes und seines Knechtes. Paulus erkannte, dass durch diese scheinbar geringfügige Handlung die Wahrheit des Evangeliums aufgegeben wurde. Wir vergessen so leicht, dass in einer einfachen, anscheinend ganz unwichtigen Angelegenheit des täglichen Lebens ein tatsächliches Aufgeben Christi und der Wahrheit des Evangeliums liegen kann. Gott will aber, dass wir die Dinge so betrachten, wie sie seine Wahrheit und Gnade berühren. Wir sind geneigt, das was Gott angeht leichthin zu behandeln, aus Dingen aber, die uns persönlich betreffen, viel zu machen. Gott möchte jedoch ein tieferes Gefühl in uns sehen für alles das, was Christum und das Evangelium angeht. Warum tadelte Paulus den Apostel der Beschneidung so streng? Weil es sich um die Grundlagen der Gnade handelte. Hier war nicht menschliche Klugheit oder Furchtsamkeit am Platz, hier gab es kein Vermitteln, kein Rücksichtnehmen auf Personen. Es galt für Paulus, auf dem Feld festzustehen, auf welchem er in besonderer Weise verantwortlich war, die Wahrheit aufrechtzuerhalten. Wenn Petrus versagte und sich nicht als Petrus (Stein), sondern als Simon, Sohn des Jonas, offenbarte, musste Paulus umso entschiedener auftreten. Was seinem Tadel einen so ganz besonderen Nachdruck verleiht, ist der Umstand, dass der Vorgang in Antiochien sich nicht lang nach der feierlichen Zusammenkunft in Jerusalem abspielte, bei der Petrus so freimütig für die Freiheit, die Gott den Gläubigen aus den Heiden gegeben, eingetreten war. Gerade ihn hatte Gott, wie er selbst erzählt, auserwählt, „dass die Nationen durch seinen Mund das Wort des Evangeliums hören und glauben sollten“. Er hatte seine Ansprache mit den Worten geschlossen: „Gott ... machte keinen Unterschied zwischen uns und ihnen ... Sondern wir glauben, durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie jene.“ Stärker hätte er sich kaum ausdrücken, empfindlicher hätte der jüdische Stolz nicht getroffen werden können, als durch die Erklärung, dass die Errettung derer aus den Nationen vorbildlich war für die Errettung der Juden, nicht aber, wie man es erwarten sollte, umgekehrt. Und nach alledem jetzt eine solche Entgleisung!? Und mit Petrus heuchelte auch Barnabas, der treue Gefährte des Paulus auf seiner ersten Missionsreise, der auch mit diesem erwählt worden war, um „zu den Aposteln und Ältesten nach Jerusalem hinaufzugehen wegen dieser Streitfrage“!
Was sollen wir dazu sagen? Unwillkürlich werden wir an das ernste Wort erinnert: „Lasst ab vom Menschen, in dessen Nase nur ein Odem ist! Denn wofür ist er zu achten?“ (
Wir verstehen, dass Paulus, dessen klarer Blick in dem Verhalten seines Mitknechtes jene böse Neigung entdeckte, ihm in heiliger Entrüstung die Worte zurief: „Wenn du, der du ein Jude bist, wie die Nationen lebst und nicht wie die Juden, wie zwingst du denn die Nationen, jüdisch zu leben?“ (V. 14). Durch seinen Verkehr mit den Gläubigen aus den Nationen hatte Petrus bewiesen, dass er mit seinen jüdischen Glaubensgenossen von dem unerträglichen Joch des Gesetzes befreit war, und nun wollte er die Nationen unter dieses Joch bringen und sie zwingen, jüdisch zu leben? In Jerusalem, dem Mittelpunkt des Judentums, war er kühn für die allen gehörende Freiheit in Christus eingetreten, und hier in Antiochien, der heidnischen Stadt, wollte er zu den jüdischen Satzungen zurückkehren und sie zur Erlangung der vollen christlichen Gemeinschaft auch anderen auferlegen?
Der Apostel fährt fort: „Wir, von Natur Juden und nicht Sünder aus den Nationen, aber wissend, dass der Mensch nicht aus Gesetzeswerken gerechtfertigt wird, sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus, auch wir haben an Christus Jesus geglaubt, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt würden und nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt werden wird“ (V. 15.16). Beachten wir, dass Paulus hier nicht unmittelbar von dem Gesetz, dem Gesetz vom Sinai, redet, sondern ganz allgemein von „Gesetzeswerken“. Welches Gesetz man auch aufstellen mag, jeder gesetzliche Grundsatz zerstört die Gnade und macht alle Rechtfertigung unmöglich.
„Wenn wir aber, indem wir in Christus gerechtfertigt zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden worden sind – ist also Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!“ (V. 17).
Selbst als Sünder befunden werden und Christus zu einem Sündendiener machen – das hatte Petrus selbstverständlich nicht gewollt! Daran hatte er nicht gedacht. Aber hatte Paulus nicht recht? Durchaus! Wenn Petrus und andere mit ihm das Gesetz als ein Mittel der Rechtfertigung aufgegeben und zu Christus ihre Zuflucht genommen hatten, nun aber anfingen, das abgebrochene Gebäude des Gesetzes von neuem aufzurichten, so sagten sie damit, dass sie ihr erstes Tun als böse verurteilen müssten. Sie stellten sich also als Sünder und Übertreter dar (V. 18). Und Christus, der sie angeleitet hatte, dem Gesetz den Rücken zu kehren und in Ihm allein Rechtfertigung zu suchen, war damit zu einem Diener der Sünde geworden, denn auf Grund seiner Unterweisungen hatten sie den Boden des Gesetzes verlassen. Welch ein Ergebnis! Wie mag Petrus erschrocken sein!
O möchten alle, die auch heute in Gefahr stehen, auf äußeren, religiösen Satzungen zu ruhen, erkennen, dass sie auf diesem Weg nichts anderes tun, als das Fleisch, den Menschen, an die Stelle Christi zu setzen! Im Christentum gibt es ja nur zwei religiöse Satzungen, Verordnungen des Herrn: die Taufe und das Abendmahl. Aber wie hat man gerade aus ihnen ein Ruhekissen für das Gewissen zu machen versucht und durch ihren äußeren Gebrauch das Auge von der Person und dem Werk Christi abgelenkt! Getauft sein und gelegentlich zum Abendmahl gehen, siehe da die beiden großen Stützen für zahllose christliche Bekenner. Mehr als das besitzen sie nicht. Aber wie schon bemerkt, auf Satzungen ruhen heißt auf dem Fleisch ruhen. Wie besonders ernst ist das in diesem Fall! Taufe und Abendmahl zeugen gerade von dem hoffnungslosen Zustand des Menschen im Fleisch, von dem Tod, in welchem er liegt, und von dem Werk, das nötig war, um ihn aus diesem Zustand zu befreien. Arme Christenheit! Sie hält fest an den äußeren Verordnungen, leugnet dabei aber die Wahrheit, die sie darstellen.
Der Apostel fährt fort: „Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe“ (V. 19). Das Gesetz war heilig, gerecht und gut (
Glücklicher Mann! Aber mit welchen Mühen, Widersprüchen und Anfeindungen hatte er zu kämpfen, indem er diese kostbare Wahrheit für sich selbst auszuleben und anderen mitzuteilen suchte! Ach!, das Fleisch will nicht in den Tod. Sich als völlig verderbt und kraftlos zur Untätigkeit, ja, zum Tod verurteilt zu sehen, nichts als Sünde zu sein, ist der alten Natur unerträglich. Auch in dem Gläubigen will sie immer wieder aufleben und in Tätigkeit treten. Aber wenn es geschieht, so kann nur Sünde und tiefe Beschämung für den Gläubigen die Folge sein. Gott sei gepriesen, dass wir, als gestorben und auferstanden mit Christus, das Recht haben und, als lebend in Ihm, auch die Kraft besitzen, uns für tot zu halten! Wir sind berufen und befähigt, dem großen Apostel auf seinem Pfad zu folgen. Der Herr wolle uns alle zu eifrigeren und erfolgreicheren „Nachahmern“ dieses glücklichen Mannes machen!
Beachten wir, dass Paulus in dieser ganzen Stelle nur von sich persönlich spricht. Nicht als ob die ausgesprochenen Wahrheiten nicht alle Gläubigen angingen und Geltung für sie hätten, aber er stellt sie dar als seinen persönlichen Besitz, so wie er sie für sich im Glauben erfasst hatte und verwirklichte. Ähnlich wie er in
„Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (V. 19.20). Dass Christus am Kreuz auch alle Sünden des Apostels getragen hatte, ist selbstverständlich – aber davon redet er hier nicht. Hier handelt es sich um die Frage, auf welche Weise er dem Gesetz gestorben war. Wie war das geschehen? Wir hörten es schon. Gott hatte ihn mit Christus in seinem Tod am Kreuz eins gemacht, er war „mit Christus gekreuzigt“, und diese Tatsache verwirklichte er durch den Glauben. Der, über welchen das Urteil des Gesetzes am Kreuz ergangen war, lebte jetzt, nach vollendetem Werk, zur Rechten Gottes droben, und Paulus lebte in Ihm. Als der alte Paulus, der als ein rechtlich verurteilter Sünder vor Gott gestanden hatte, war Paulus nicht mehr da; der Tod hatte in seinem Stellvertreter mit dem Leben, in welchem er einst lebte, ein Ende gemacht. Darum konnte er, obwohl er sich noch in diesem Leib auf der Erde befand, sagen: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ Sein altes Ich, alles was er einst in sittlicher Beziehung gewesen war, sein ganzes früheres Sein in Verbindung mit und unter dem Gesetz, hatte in dem Tod Christi sein Ende gefunden, bestand vor Gott nicht mehr. Er besaß jetzt ein neues Leben, und dieses Leben war Christus. Mit anderen Worten: Christus lebte jetzt in ihm in dem Leben, in dem Er als Sieger über Sünde, Tod und Teufel, und nachdem Er den Fluch des Gesetzes getragen hatte, aus den Toten auferstanden war.
Was Paulus hier von sich sagt, ist, wie weiter oben schon ausgeführt, grundsätzlich wahr von allen Gläubigen. Sie sind alle mit Christus gekreuzigt, gestorben und auferweckt, Christus ist für sie alle des Gesetzes Ende und der Anfang eines ganz neuen Daseins und Lebens geworden. Da ist kein Unterschied, der eine besitzt nicht mehr und nicht weniger als der andere. Allen ist dasselbe geschenkt. Der Unterschied, und zwar ein großer Unterschied, besteht nur in dem gläubigen Ergreifen und praktischen Verwirklichen dieser Wahrheit. Paulus sagt nicht: „Nicht mehr leben wir“, oder: „Christus lebt in uns“, sondern spricht, wie schon gesagt, rein persönlich, nur von sich. Seitdem er Jesus auf dem Weg nach Damaskus gesehen hatte, gab es für ihn nur noch das eine Ziel, den einen Gegenstand: Christus zu leben, Ihn darzustellen und in sein Bild verwandelt zu werden. Er konnte wahrheitsgemäß sagen: „Zu leben ist für mich Christus.“ Anfang, Mittel und Ende, Inhalt und Zweck seines Lebens war nur noch Christus; darum war auch das Sterben für ihn Gewinn, denn es brachte ihn zu Christus hin, und gelöst von diesem Leib bei Christus zu sein ist ungleich besser, als noch im Leib hier auf Ihn zu warten.
Christus war also die Quelle des Lebens für den Apostel, das was ihn von der Vergangenheit getrennt und ihn auf einen ganz neuen Boden gestellt hatte. Dieses Leben kann aber in einem Geschöpf nicht selbstständig und unabhängig sein. Es bedarf eines Gegenstandes, der es anzieht und unterhält, für den es lebt, und nach dem es sich bildet. Dieser Gegenstand ist wiederum Christus. Darum fügt Paulus dem: „Christus lebt in mir“, sofort die Worte hinzu: „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (V. 20).
Wieder dieselbe persönliche Ausdrucksweise wie vorher. An mehreren Stellen des Wortes hören wir, dass Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat (vgl.
Die Erinnerung an Ihn, der in seiner Liebe für uns, für mich starb, der mich auf diese Weise aus dem elenden Zustand, in dem ich mich befand, herausnahm und mir sein Leben schenkte, so dass ich jetzt Ihm leben und dienen darf, befreit von Satan und der Herrschaft der Sünde, und weiter dass der Sohn Gottes es war, der dies tat, ergreift das Herz mit immer lebendigerer Kraft und verbindet es immer inniger mit Ihm, als dem einzigen Gegenstand des Glaubens. Mit anbetender Bewunderung weidet sich das Auge an Ihm, der ein solches Wesen, wie ich war und bin, lieben konnte und liebt. Und so leben dann auch wir, so lang es Gott gefällt, uns noch auf Erden zu lassen, ja, „was wir im Fleische leben“, durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat. Christus als Quelle dieses Lebens und Christus als Gegenstand der innigen Zuneigungen der erneuerten Seele – wahrlich, das ist ein begehrenswertes, köstliches Leben, wert, gelebt zu werden! Wer so lebt, „macht die Gnade Gottes nicht ungültig“ (V. 21). Im Gegenteil, Gott wird darin verherrlicht. Ist es doch seine Gnade allein, die eine solche Umwandlung hervorbringen und auf solchem Weg eine neue Schöpfung schaffen konnte, in welcher das Alte vergangen ist (
„Denn wenn Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben“ (V. 21). Mit diesen Worten schließt der Apostel seine Belehrung. O jene armen Lehrer des Gesetzes! Wohin führten ihre Bemühungen? Gerade sie waren es, die die Gnade Gottes ungültig machten, Gott seinen Ruhm nahmen, indem sie das Tun des Menschen neben Gottes wunderbares Wirken stellten und damit dem Tod Christi jede Bedeutung, jeden Wert raubten. Denn wenn ein Mensch durch Gesetzeswerke, durch eigenes Tun, gerechtfertigt werden kann, warum ist Christus dann gestorben? Sein bitteres Leiden und Sterben ist umsonst geschehen. Es gab dann ja einen anderen Weg, auf dem der Mensch zum Ziel kommen und Gerechtigkeit erlangen konnte. Wie dieser Weg beschaffen ist und wohin er führt, zeigt uns die letzte Hälfte von
Wie ganz anders waren die Erfahrungen des Apostels! Wahrlich, für ihn war Christus nicht umsonst gestorben.
Und wir werden dieselben Erfahrungen machen, wenn wir die Bedeutung des Todes Christi verstanden haben und im Glauben auf uns anwenden. Freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes, dürfen wir in der Freiheit, für die Christus uns freigemacht hat, feststehen und, Gott lebend, die Frucht des Geistes bringen zu einer Verherrlichung (Kap. 5). Gott dankend durch Jesus Christus, unseren Herrn, in dem wir der Sünde gestorben sind, dienen wir mit unserem Sinn Gottes Gesetz. Das Fleisch dient der Sünde Gesetz, es kann ja nicht anders.
Gedenken wir denn allezeit des kostbaren Wortes: „Nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.“ Unser Teil, unser Leben, unsere Kraft, alles ist Er. Der Gott aller Gnade schenke dem Schreiber und Leser dieser Zeilen aber auch die persönliche Gnade, mit dem Apostel weiter sagen zu können: „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“!
Fußnoten
- 1 W. Kelly (The Bible Treasury, 1862)