Der Prophet Daniel
Kapitel 6
Nun wurde das medo-persische Weltreich die vorherrschende Weltmacht und Darius König in Babylon. Es scheint, dass die Historiker Mühe haben, diesen Mann zu identifizieren. Es könnte sein, dass er nur ein Vasallenkönig unter der Oberhoheit Cyrus' (Kores), des Königs von Persien, war. Doch dies ist eine Sache, bei der wir uns nicht aufzuhalten brauchen. Im babylonischen Teil des neuen Weltreiches ordnete er jedenfalls die Dinge so an, wie er selbst sie für gut fand.
Wieder finden wir Daniel, der befördert wurde, um eine hohe und einflussreiche Stellung einzunehmen. Darin war das Wirken der Hand Gottes, obwohl menschlich gesprochen zwei Dinge zu seinen Gunsten reden mochten. Erstens war er kein gebürtiger Babylonier. Zweitens hatte Darius bestimmt von der dramatischen Szene gehört, die sich kurz vor seiner Einnahme der unbezwinglich scheinenden Stadt im Palast abgespielt hatte. Somit wusste er von dem außergewöhnlichen Verständnis Daniels.
Die Begebenheit, die in Kapitel 6 vor uns steht, ist ein wahres Bild von dem Leben und der Natur des Menschen. Daniels erhabene Stellung erfüllte die Herzen der weniger begabten Männer mit Missgunst und Hass. Wenn möglich wollten sie ihn vernichten. Ihre Absicht verhilft dazu, dass ein bemerkenswertes Zeugnis über sein Verhalten ans Licht kommt; «er war treu und kein Vergehen und keine schlechte Handlung wurde an ihm gefunden». Sie kamen zum Schluss, dass sie ihn nur dann erfolgreich angreifen konnten, wenn es um das Gesetz Gottes ging.
Hier müssen wir stehen bleiben und über unsere eigenen Wege nachdenken. Was für einen Angriffspunkt liefern wir denen, die uns mit einem feindseligen Geist kritisch beobachten? Wir fürchten, dass wir ihnen oft mehrere liefern. Daher finden wir in den Briefen des Apostels Paulus die beständige Ermahnung zu einem Leben der Gottseligkeit. Die Philipper, z.B., bittet er dringend, «tadellos und lauter zu sein, unbescholtene Kinder Gottes, inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, unter welchen ihr scheinet wie Lichter in der Welt, darstellend das Wort des Lebens» (Phil 2,15.16). Wenn diese Beschreibung auf uns zutrifft, wie einst auf die Philipper vor 19 Jahrhunderten, werden die Menschen des «verdrehten und verkehrten Geschlechts», die auch uns anklagen wollen, ihre Angriffe eher auf das Wort des Lebens und die Art, wie wir es ausleben, richten müssen, als auf unseren persönlichen Wandel. Lasst uns alle sehr geübt sein in dieser Sache.
Die Vorsteher und Satrapen waren schlaue Männer. Sie kannten die Macht des Schmeichelns und wussten, wie schnell die Menschen eingebildet werden. Daher schlugen sie Darius ein Gesetz zu seiner Selbstverherrlichung vor. Er sollte sich für die Dauer eines Monats zum Gott machen. Darius ging in die Falle. In diesem Zusammenhang stellen wir fest, dass in diesem Königreich «aus Silber» die Macht des Königs nicht mehr so unumschränkt war wie in dem Reich «von Gold». Nebukadnezar tat gerade das, was er wollte, ohne irgendwelche Einschränkung. Der medo-persische König dagegen hatte die Ratschläge seiner Räte und Landpfleger zu erwägen, und ein Gesetz, einmal öffentlich bekannt gemacht, konnte nicht abgeändert werden. Das Gesetz wurde unterzeichnet, durch das, unter Androhung einer schrecklichen Todesstrafe, jedem, der den Gott des Himmels fürchtete, während dreißig Tagen jegliche Verbindung mit Ihm verboten war. Im Grunde genommen beging Darius die gleiche große Sünde, wie sie schon in Kapitel 3 verübt worden war. Nebukadnezar wollte durch das goldene Bild angebetet werden. Das Vorgehen Darius' war weniger Aufsehen erregend aber genau gleich gegen Gott gerichtet. Für alle praktischen Belange sollte es während dreißig Tagen keinen Gott mehr geben außer Darius!
In Kapitel 3 ist Daniel abwesend. Aber seine drei Freunde werden ermutigt, in ihrer Treue zu dem einen wahren Gott standhaft zu bleiben und sich zu weigern, vor dem goldenen Bild niederzufallen. In dem vorliegenden Kapitel sehen wir Daniel allein. Hier sind seine drei Gefährten abwesend. Der gleiche Geist beseelte ihn. Nicht einen Moment lang wollten sich jene vor einem Gott menschlicher Erfindung beugen. Daniel wollte nicht einen Tag aufhören zu dem wahren Gott zu beten. Jene verhielten sich ablehnend, indem sie dem Gebot des Königs, satanische Mächte anzubeten, widerstanden. Er handelte positiv, indem er die Verbindung mit dem Gott des Himmels aufrecht hielt, obwohl dies im Widerspruch zum Gebot des Darius stand. In beiden Fällen schritt Gott ein, bewahrte und befreite seine Diener durch ein Wunder und stellte die Torheit der Könige bloß.
Darius wurde sich seiner Torheit bald bewusst. Daniel protestierte nicht öffentlich. Er tat ganz einfach das, was bis dahin seine Gewohnheit war. Dreimal des Tages kniete er vor Gott nieder mit Danksagung und Gebet. Er machte kein Geheimnis daraus, sondern tat es bei offenem Fenster, so dass jeder es sehen konnte.
Warum war sein Fenster «gegen Jerusalem hin» offen? Lies 1. Könige 8,46-50 und der Grund wird klar. Er glaubte, dass Gott die Bitte in Salomos Gebet beantworten werde. Darum erfüllte er die genannte Bedingung und richtete sein Gebet «nach dem Lande hin ... nach der Stadt, die du erwählt hast». So stand es in der Schrift. Im Gehorsam erfüllte er diese Anweisung auch weiterhin, trotz des Königs Erlass.
Achten wir auch so genau auf die Heilige Schrift, wie Daniel es tat? Sind wir bereit, so zu gehorchen wie er?
Sein Mut wurde beinahe sprichwörtlich. «Fest und treu wie Daniel» ist zu einem bekannten Ausdruck geworden. Solch ein Mut ist nachahmenswert, aber woher nahm er die Kraft, solches zu wagen? Dafür gibt es wohl nur eine Antwort: er hatte unerschütterliches Vertrauen auf Gott und sein Wort. Wir dürfen wohl behaupten, dass bis auf unsere Tage alle Heiligen, die mutig für die Wahrheit einzutreten und dafür zu leiden hatten, auf die gleiche Weise gestärkt wurden. Leider sind aber in unseren Ländern, wo Toleranz und Bequemlichkeit vorherrschen, Kompromisse modern und weit verbreitet. Aber das war nicht der Weg Daniels und sollte auch nicht der unsrige sein.
Obwohl in Daniel «ein außergewöhnlicher Geist» war, fiel es seinen eifersüchtigen Untergebenen nicht schwer, ihn dem König, der in törichter und lästerlicher Weise das unabänderliche und unwiderrufliche Gesetz unterschrieben hatte, anzuzeigen. Nachdem der König seine Torheit erkannte, machte er bis zum Untergang der Sonne verzweifelte Anstrengungen, Daniel zu retten. Dazu versuchte er auch sich selbst aus dem Netz, das er ausgelegt hatte, zu befreien. Doch alles war vergeblich.
So, wie an den drei treuen Hebräern im 3. Kapitel das Urteil vollstreckt wurde, geschah es hier auch gegenüber Daniel. Das Resultat war dasselbe. Gott griff ein, indem Er wider die Natur handelte und seinen Diener befreite. Wir haben hier ein Wunder, das mit dem in Kapitel 3 vergleichbar ist. Gott hat in seiner Schöpfung eine bestimmte Ordnung festgelegt, ob es nun die Wirkung des Feuers betrifft oder das Verhalten von wilden Tieren. Das Feuer verbrennt sowohl Kleider als auch den menschlichen Körper, der damit bedeckt ist. Hungrige wilde Tiere werden sich ausnahmslos auf ihre Beute stürzen und sie verschlingen. Wenn es aber Gott gefällt, kann Er, der diese Ordnung eingesetzt hat, sie jederzeit aufheben. In beiden Fällen hat Er es getan. Auf die gleiche wunderbare Weise wie Er die Wirkung des Feuers aufhob, hält Er hier die Löwen im Zaum.
Wir sind geneigt zu fragen, warum Gott für seine Diener nicht häufiger in ähnlicher Weise handelt. Er wirkt vielfach in göttlicher Vorsehung für seine Heiligen, doch unterstreicht Er sein Tun zu Beginn einer neuen Periode seines Handelns mit den Menschen oft durch Wunder. So war es am Anfang des Christentums. Petrus wurde durch ein Wunder aus dem Gefängnis und damit vom Tod befreit (Apg 12). Seither starben viele Gläubige um des Evangeliums willen in Gefängnissen, andere wieder wurden durch wunderbare Fügungen Gottes daraus befreit.
Wenn wir über dieses nachdenken, wird uns wenigstens ein Grund klar. In den beiden vor uns liegenden Fällen hatten durch den Sturz Israels und die Zerstörung Jerusalems die Zeiten der Nationen begonnen. Daraus wurde die natürliche Schlussfolgerung gezogen, die Götter der Babylonier seien mächtiger als Jehova, dessen Tempel in Jerusalem gestanden hatte. Aber sie waren es nicht. Gott demonstrierte seine Macht durch die Wunder, mit denen Er seine Diener aus dem Rachen der Macht der Finsternis befreite. Am Ende des Zeitalters wird Er es tun durch die Vernichtung seiner und seines Volkes Feinde.
Das Gleiche gilt für die heutige Zeit des Evangeliums. Apostelgeschichte 12 beginnt mit der Befreiung des Petrus und endet mit dem Gericht über Herodes. In beiden Fällen «schlug» ein Engel. Er schlug Petrus an die Seite, um ihn zu seiner Befreiung zu wecken und schlug Herodes, dass er eines entsetzlichen Todes starb. Gott hat diese Handlungen nicht wiederholt, weil wir jetzt in der Zeit der frohen Botschaft leben, die durch Gnade gekennzeichnet ist. Wenn dieses Zeitalter der Gnade endet, werden wir sehen, wie Gott seine Heiligen vollkommen errettet und ihre Unterdrückung endgültig richtet.
In Daniel 6 sehen wir nicht nur, wie Daniel befreit wird, sondern auch das Gericht, das die bösen Männer traf, die sich gegen ihn verschworen hatten. Sie und ihre Familien erlitten das gleiche Schicksal, das sie Daniel zugedacht hatten. Der König selbst, den sie durch dieses böse Gesetz irregeführt hatten, verordnete es.
Der Schluss des Kapitels zeigt uns die heilsame Wirkung, die dieser Vorfall auf die Gesinnung des Darius hatte. Sein Bekenntnis und sein Erlass, die er im ganzen Königreich verbreiten ließ, haben viel Ähnlichkeit mit dem Edikt Nebukadnezars. Doch hier, im zweiten der vier großen Weltreiche, ergeht die Verordnung zur Anerkennung Gottes an alle Menschen. Er wird nicht nur «der Gott Daniels», sondern «der lebendige Gott und er besteht in Ewigkeit» genannt. Es war nicht die Zeit, da Gottes Liebe geoffenbart wurde, sondern seine Macht. Allen Menschen unter der Herrschaft Darius wurde geboten, zu «beben und sich zu fürchten» vor Ihm.
Lasst uns die beiden gegensätzlichen Verordnungen in den Versen 8 und 26 beachten. Beide wurden in einem Reiche erlassen, das weder Änderung noch Aufhebung eines Gesetzes erlaubte, und doch standen sie im Widerspruch zueinander. Die erste wurde ungültig gemacht bezüglich ihrer Strafe. Die zweite wurde bald aufgehoben durch ihre Nichterfüllung. Die weitere Geschichte dieses Weltreiches zeigt, dass die Menschen nicht zitterten und sich nicht fürchteten vor dem lebendigen Gott. Und doch war es ihnen befohlen worden. Kein Reich kann Gesetze erlassen in göttlichen Dingen. So wurde auch dieses «Gesetz der Meder und Perser» bald nicht mehr beachtet und allgemein gebrochen. Wir sehen das z.B. im Buch Esther.