Der Prophet Daniel
Kapitel 5
Die Zeitperiode der babylonischen Oberhoheit war vergleichsweise kurz. Schon bald musste das «Haupt von Gold» der «Brust und den Armen von Silber» weichen. Das 5. Kapitel versetzt uns in die letzten Stunden dieser Periode. Die große Stadt zeichnete sich zwar immer noch durch Reichtum und üppige Pracht aus.
Vor Jahren behaupteten gelehrte Bibelkritiker noch, das Buch Daniel hätte zur Hauptsache legendären Charakter und sei einige Jahrhunderte nach den erwähnten Ereignissen geschrieben worden. Sie betrachteten Belsazar als eine imaginäre Figur, da sie in den vorhandenen Unterlagen keinen Hinweis auf ihn fanden. Später wurde jedoch sein Name auf einer ausgegrabenen Tontafel entdeckt. So wurde diese Behauptung wie viele andere ihrer ungläubigen Behauptungen umgestoßen, als die Archäologen in den alten Ruinen Babels Ausgrabungen machten. Es scheint, dass Belsazar, einer damaligen Sitte entsprechend, auch als König bezeichnet wurde, wie sein Vater. Und wenn dieser während jener Zeit abwesend war, so war sein Sohn tatsächlich König von Babylon, als die Hauptstadt vor der aufsteigenden medopersischen Weltmacht fiel.
Was auch immer die bleibende Wirkung des Handelns Gottes auf Nebukadnezars gewesen sein mag, seine Nachfolger stellten die gleiche überhebliche Großartigkeit zur Schau, wie er in seinen früheren Tagen. Belsazars Name begann mit dem Namen des babylonischen Gottes Bel. Das glänzende Fest mit seinen tausend Gewaltigen, zusammen mit Frauen und Konkubinen, trug einen ausgeprägten heidnischen Charakter. Erregt vom Wein, befahl er die goldenen und silbernen Gefäße zu bringen, die Jahre zuvor aus dem Tempel in Jerusalem weggenommen worden waren. Mit hämischer Schadenfreude wollten sie Jehova öffentlich beleidigen und dafür ihre Götter von Metall, Holz und Stein rühmen. Bewusst warf er Gott den Fehdehandschuh hin und Gott nahm die Herausforderung auf der Stelle an.
Das ist immer die Weise Gottes. Er handelt erst im Gericht, wenn sich das Böse völlig geoffenbart hat. Das war so bei den Amoritern, wie 1. Mose 15,16 es uns zeigt. Das war auch so bei den Königen und dem Volk in Jerusalem, wie es 2. Chronika 36,11–20 bezeugt. Und am Ende der traurigen Geschichte der Christenheit wird es auch wieder so sein, wie es in Offenbarung 17–18 vorausgesagt wird.
So war es in der großen festlichen Halle in Babylon, und das Resultat ist eine der dramatischsten Szenen, die uns aufgeschrieben sind. Nicht eine Legion Engel erscheint, keine sichtbare Entfaltung göttlicher Macht zeigt sich: nur die Finger einer Menschenhand sind sichtbar. Sie schreiben vier Worte auf den Kalk der Wand, dem Leuchter gegenüber, dort, wo sie am besten sichtbar sind. Der stolze König wird zu einem zitternden Sterblichen und seine Gewaltigen werden bestürzt.
Wenn wir über diese Begebenheit nachdenken, wandern unsere Gedanken in zwei Richtungen. Einerseits kehren sie zurück zum 2. Buch Mose, wo wir lesen, wie das Gesetz gegeben wurde, geschrieben mit dem Finger Gottes auf steinerne Tafeln. Stein war das geeignete Material, denn es kann weder verdreht noch gebogen werden. Dort stand der Finger Gottes in Verbindung mit seinen Forderungen an schuldige Menschen. Anderseits wandern unsere Gedanken weiter zu Johannes 8, wo die eingebildeten Schriftgelehrten und Pharisäer eine schuldige Frau zum Herrn Jesus bringen, damit Er sie verurteile. Aber Er verdammte sie nicht, warum nicht? Er deutete es an, indem Er sich niederbückte, um auf die Erde zu schreiben. Er tat es zweimal, um die Sache zu betonen. Er bückte sich, um in den Staub des Tempels zu schreiben, denn Er hatte sich von der Höhe seiner Herrlichkeit «in den Staub des Todes» (Ps 22,15) herabgeneigt, um Gottes Gerechtigkeit aufrecht zu halten und Gottes Liebe völlig zum Ausdruck zu bringen. Hier haben wir nicht den fordernden Finger, sondern eher, wenn wir so sagen dürfen, den Finger des Staubes. Hier in Daniel finden wir wieder den «Finger Gottes». Es ist der Finger des Verderbens, der auf Kalk schreibt, der leicht zerbröckelt. Gott offenbarte seine Gegenwart nur durch das Sichtbarwerden seiner Fingerspitzen, und Belsazar erschrak zu Tode. Wenn die letzte Gerichtsstunde kommt und «die Toten, die Grossen und die Kleinen vor dem Throne» Gottes stehen (Off 20,12), was werden sie dann empfinden? Wir werden an das Wort erinnert: «Es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!» (Heb 10,31).
Wieder werden die Weisen Babylons gerufen, aber nur um ihre Unfähigkeit und ihre Unwissenheit zu zeigen. Es wird uns nicht gesagt, dass es sich bei diesen vier Worten um etwas Außergewöhnliches gehandelt habe. Es waren keine Worte aus einer unbekannten und unzivilisierten Sprache. Da es sich bei dieser Gelegenheit aber um Worte Gottes handelte, waren sie für diese weltlichen Götzendiener völlig unverständlich. Die Tatsache, die der Apostel Paulus in 1. Korinther 2,14 feststellt, wird hier eindrücklich illustriert. Als «natürliche Menschen» hatten sie kein Verständnis für die Dinge, die Gott geschrieben hatte.
Nun änderte sich die ganze Szene. Die Gottlosigkeit Belsazars verwandelte sich in Demütigung. Eine düstere Stimmung verdrängte die festliche Ausgelassenheit der ganzen Gesellschaft. in diese wirre Situation trat nun «die Königin» (Vers 10). Sie bezieht sich, im nächsten Vers, auf Nebukadnezar als dem «Vater» Belsazars. In der Heiligen Schrift ist mit dem Ausdruck «Vater» sehr oft «Vorvater» gemeint, so auch an dieser Stelle. Die Königin ist offensichtlich die Königin-Mutter und sehr wahrscheinlich eine Tochter Nebukadnezars. Daher besaß sie eine klare Erinnerung sowohl an das Handeln Gottes mit ihrem Vater als auch an Daniel und sein Verständnis, das Gott ihm gegeben hatte.
Es ist ganz offensichtlich, dass nachdem die Jahre vorbeigingen, Daniel in der öffentlichen Beachtung ganz in Vergessenheit geraten war. Sein Name war in Hofkreisen so unbekannt, dass sie eine ausführliche Beschreibung von ihm und seinen Fähigkeiten machen musste. Noch immer schreibt sie sein Verständnis «der Weisheit der Götter» zu. Daniel wird aus seiner Vergessenheit geholt und vor den König gebracht. Es werden ihm hohe Ehren versprochen, falls er die Schrift lesen und deuten könne. Der Grund, warum ihm der dritte Platz im Königreich versprochen wurde, lag darin, dass Belsazar selbst nur Zweiter war. Der Erste war sein Vater, der sich zu jener Zeit anderswo aufhielt.
Daniels Antwort in Vers 17 ist sehr bemerkenswert. Früher, wir lesen davon am Ende von Kapitel 2, hatte Daniel die Ehre, die ihm zuteil wurde, angenommen; jetzt verschmähte er sie. Die Bedeutung der vier verhängnisvollen Worte war sicher schon in sein Herz gedrungen. Er wusste, dass Gott Belsazar verworfen hatte und sein Königreich im Begriff stand umzustürzen. Die angebotenen Ehren waren daher wertlos.
Noch vor der Deutung der Worte ließ Gott durch Daniel eine deutliche Anklageschrift verlesen über das babylonische Weltreich, verkörpert in Belsazar, der dessen Haupt war. Der König wurde erinnert an das demütigende Handeln Gottes mit Nebukadnezar. Belsazar hatte davon gewusst und es doch nicht beachtet. Er hatte sich noch ausdrücklicher als jener über den «Herrn des Himmels» erhoben, indem er die goldenen Gefäße aus dem Tempel, der Offenbarungsstätte Gottes, bringen ließ, und anstatt Ihn, die dämonischen Mächte rühmte, die sich hinter den Götzen verbargen. Das führte die Dinge zu einem Höhepunkt und der erste Umsturz, vorausgesagt in Hesekiel 21,32, stand bevor.
Die Schrift an der Wand war eine Warnung. Aber es sollten nur noch wenige Stunden vergehen bis zum Eintreffen des Unglücks. Das Wort «gezählt» wurde wiederholt, wie um diesen Punkt besonders zu betonen. Der Gott, der die Sterne zählen kann und ebenso die Haare des menschlichen Hauptes, hatte die hochmütigen Sünden des babylonischen Weltreiches wahrgenommen und gezählt. Das Wort «gewogen» zeigte, dass Belsazar selbst auf die Probe gestellt worden war und verurteilt wurde. «Zerteilt» der unmittelbar bevorstehende Untergang des Reiches wurde damit angekündigt.
Die Warnung blieb ohne Wirkung auf Belsazar. Er bekleidete Daniel mit Ehren, wie wenn sein Königtum weiter dauern würde, und das, obwohl Daniel darauf verzichten wollte. Er trug diese Ehrung nur während einigen kurzen Stunden; denn in dieser Nacht brach das angekündigte Gericht herein. Darius, der Meder, nahm die Stadt und das Königtum ein, und Belsazar wurde getötet.
So endete das erste der großen Weltreiche, die die Zeiten der Nationen ausfüllen sollten. Wir finden hier ein Beispiel der Wege Gottes, nach denen Er auch die andern stürzte. Das vierte jedoch, das römische, wird wieder erstehen und zwar in seiner ursprünglichen Form und Größe. Aber nur, um entscheidend und endgültig zerstört zu werden bei der persönlichen Erscheinung des Herrn Jesus; denn es geschah unter dem römischen Weltreich, dass Er verspottet und gekreuzigt wurde. Zu jener Zeit werden alle großen Reiche der Menschen zusammen in nichts aufgelöst werden, «wie Spreu der Sommertennen».