Der Prophet Daniel
Kapitel 4
Im 4. Kapitel ändert sich die Art der Erzählung. Wir hören Nebukadnezar über eine Erfahrung berichten, die ihn bewog, es allen Nationen und Sprachen, die unter seinem Einfluss standen, kundzutun. Er schildert das Handeln Gottes, - den er jetzt den höchsten Gott nennt - mit ihm persönlich. Es ist die Geschichte seiner eigenen, vollständigen Niederlage und Demütigung durch die Hand Gottes. Dass er so etwas allgemein veröffentlicht, zeigt eine gründliche Änderung seiner eigenen Gesinnung und Haltung.
Das Vorwort zu dieser seiner Geschichte, besonders Vers 3, ist sehr auffallend. Er erwähnt zuerst Gott, «seine Zeichen» und «seine Wunder». Wir leben in einer Zeitperiode, die durch Glauben gekennzeichnet ist. Der Apostel Paulus konnte von einer Zeit schreiben, «bevor der Glaube kam» und von einer Zeit, «da der Glaube gekommen ist» (Gal 3,23.25). Zeichen sieht man. Vor der Zeitepoche des Glaubens war alles auf das Sichtbare ausgerichtet. Eine andere Tatsache ist, dass Gott bei jeder Einführung eines neuen Zeitabschnittes das Neue durch übernatürliche Zeichen beglaubigte. Das war so, als Er Israel aus Ägypten führte und die Zeit des Gesetzes am Sinai begann. Das war in höchstem Maß der Fall, als Er sich selbst offenbarte in der Person seines Sohnes, des Herrn Jesus Christus. Ähnlich war es am Anfang der Geschichte der Kirche. Wir lesen in der Apostelgeschichte davon. Und so war es auch hier, am Anfang der Zeiten der Nationen.
Die besonderen Zeichen und Wunder, die Nebukadnezar im Begriff ist zu erzählen, waren besonders demütigend für ihn. In einer Stunde wich sein Königtum von ihm, obwohl es ihm später wieder gegeben wurde. In Gegensatz dazu bekennt er, dass das Reich Gottes ein ewiges Reich ist. Vermutlich vermochte er es nicht im vollen Ausmaß zu erfassen. Aber die zweite oder dritte Generation nach ihm würde seine Herrschaft, vorgebildet durch das Gold, durch eine andere Macht, vorgestellt durch das Silber, stürzen sehen. Gottes Herrschaft hingegen, das anerkannte er, währt von Geschlecht zu Geschlecht.
Das alles bezeugt er, bevor er seine Erfahrung erzählt, die ihn zu dieser Einsicht führte. Gott musste mit Gericht gegen ihn handeln.
Bevor Gott eingriff, warnte Er. So geht Er immer vor. Gott warnte die Menschen durch Noah, bevor die Flut kam. Pharao wurde gewarnt, bevor das Gericht über Ägypten hereinbrach. Jeremia warnte Jerusalem, bevor die Stadt in die Hände der Babylonier fiel. Und heute warnt Gott, bevor das Gericht anbricht und die Gnadenzeit vorüber sein wird. So war es auch hier. Gott warnte den mächtigen Monarchen durch einen Traum. Sein erster Traum mag ihn emporgehoben haben, denn er war ja das Haupt von Gold. Der zweite Traum warnte ihn vor einem tiefen Fall.
Die Warnung kam in dem Augenblick, da der König glaubte, den Höhepunkt seines Gedeihens erreicht zu haben. Seine vielen Kriegszüge waren zu Ende und seine großen Eroberungen abgeschlossen. Nun war er endlich zur Ruhe gekommen und stand auf der Höhe seiner Macht in dem Palast seiner herrlichen Stadt. Wie wir alle wissen, sind Träume seltsame und unerklärliche Dinge. Bei leichter werdendem Schlaf, wenn der Geist beginnt, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen, flitzen ungewöhnliche Dinge durch das erwachende Bewusstsein. Es ist daher nicht überraschend, dass es Gott gefällt, den Menschen seine Gedanken und Absichten durch Träume mitzuteilen und das besonders in Zeiten großer Dringlichkeit und Bedeutung. Es ist bemerkenswert, dass z.B. in den ersten beiden Kapiteln des Matthäus-Evangeliums Gott nicht weniger als fünfmal durch Träume redet.
Auch dieser zweite Traum erschreckte und ängstigte Nebukadnezar. Es war ihm bewusst, dass er aus der unsichtbaren Welt kam und eine Botschaft für ihn enthielt. Aber Gottes früheres Wirken hatte keinen bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen. In seiner Unruhe dachte er wieder zuerst an die Beschwörer, Wahrsager und Chaldäer. Erst als sie den Traum nicht zu deuten wussten, wurde, als letzter Ausweg, Daniel geholt.
Obwohl Daniel um Rat gefragt wurde, redet der König ihn doch mit dem heidnischen Namen an, der ihm gegeben worden war. Zweimal finden wir in den Versen 8 und 9 den Namen Beltsazar, der «nach dem Namen meines Gottes» ist, sagt der König. „Bel“ war einer der großen Götter Babylons. Indem er an dem heidnischen Namen festhielt, anerkannte er in Daniel auch nur «den Geist der heiligen Götter». Den wahren Gott - den Gott des Himmels - der ihm seine große Macht gegeben hatte, kannte er noch nicht.
Das war sein eigenes Bekenntnis, bevor er weiterfuhr und den Traum erzählte, der ihn erschreckte und ihn vor dem Schlag warnte, der ihm von Seiten Gottes bevorstand.
In den Versen 10-17 finden wir Nebukadnezars eigene Darstellung seines Traumes. Es genügt, diese Verse zu lesen, um eine starke Betonung des Übernatürlichen darin zu finden. Es gab da nicht nur den Besuch «eines Wächters und Heiligen», sondern auch eine Verfügung «des Höchsten», der über das Königtum der Menschen herrscht. Der König konnte sich nur an Daniel wenden, indem er ihn Beltsazar nannte, «nach dem Namen meines Gottes». Die babylonischen Götter werden in Jesaja 46,1 spöttisch erwähnt: «Bel krümmt sich, Nebo sinkt zusammen». Er erwartete also Erleuchtung von einem Mann, «in dem der Geist der heiligen Götter ist», aber vor dem Höchsten fürchtete er sich.
In Vers 19 lesen wir auch von Daniel, dem die Deutung des Traumes sogleich geoffenbart wurde, dass er sich entsetzte. Seine Gedanken ängstigten auch ihn. Es wurde ihm bewusst, dass der König dadurch vor einer bevorstehenden Strafe Gottes gewarnt wurde, - vor einem sehr schweren Schlag.
Lasst uns kurz zurückblicken auf das, was dem Traum vorangegangen war. Die Zeiten der Nationen begannen, als Nebukadnezar den Zenit menschlichen Glanzes erreicht hatte und eine unumschränkte Macht ausübte, die seinesgleichen suchte. Durch einen früheren Traum wurde er gewarnt, dass, obwohl er das Haupt von Gold war, der Verfall einsetzen würde. Am Ende würde die Macht, die ihm für eine gewisse Zeit verliehen war, unter dem Gericht Gottes zu Staub zermalmt werden. Wie wenig Eindruck jene Warnung auf ihn machte, sehen wir im dritten Kapitel. Die liebste Leidenschaft im Herzen des gefallenen Menschen ist seine Selbstverherrlichung. Daher ließ der König das gewaltige Bild aufrichten, das alle anzubeten hatten, und wehe dem, der sich weigerte! Wieder griff Gott ein. Er gab seinen drei Dienern Mut, um dem Zorn des Königs und seinem siebenmal geheizten Ofen zu trotzen. Nebukadnezar erlitt eine Niederlage. Gott machte ihn einfach lächerlich in Gegenwart der riesigen Menge seiner Untergebenen. Machte das einen bleibenden Eindruck auf ihn zum Guten?
Das vor uns liegende Kapitel zeigt, dass es nicht der Fall war. Er ist immer noch der gleiche selbstherrliche Mann. Darum will Gott jetzt eindrücklicher handeln. Das erste Eingreifen richtete sich an seine Einsicht - an sein Verständnis über die Zukunft. Das zweite war eine Entfaltung göttlicher Macht, die ihn öffentlich demütigte. Trotzdem er vom ersten Traum momentan tief beeindruckt gewesen war, blieb alles beim Alten. Jetzt handelte Gott mit ihm allein; sein Königreich von «Gold» wurde dadurch nicht berührt.
Dieser zweite Traum betraf einen Baum. An anderen Stellen der Heiligen Schrift werden große Männer und Völker mit eindrucksvollen Bäumen verglichen, so z.B. in Hesekiel 31. Dieses Bild war also kein ungewöhnliches. Mit einem Mal sah Daniel, dass der König selbst diesen Baum darstellte und das Gericht auf ihn fallen würde. Doch Gott wollte ihn nicht ohne vorherige Warnung schlagen. So gütig handelt Gott immer. Er brachte die Flut nicht über die Welt, ohne vorher ernsthaft gewarnt zu haben. Wie lange warnte Er Israel durch die Propheten, bevor Er sie in Gefangenschaft führte. Heute leben wir in einer Zeit, die kurz vor dem Gericht steht. An Warnungen hat es nicht gefehlt. Sind wir uns dessen voll bewusst? Wenn das Evangelium der Gnade gepredigt wird, hören wir, dass dann auch mit genügender Deutlichkeit gewarnt wird? Leider nicht! Nur zu oft wird dies als ein unangenehmes Thema vermieden.
Die Ankündigung des Gerichts mag von den meisten nicht beachtet werden, genau so wenig wie es Nebukadnezar tat. Daniel warnte ihn mutig und empfahl ihm sogar, seine Wege zu ändern, wie wir dies in Vers 27 lesen. Doch die Ermahnung wurde in den Wind geschlagen und der Rat nicht befolgt. Und trotzdem wartete Gott noch zwölf Monate bis Er das Gericht ausführte.
Wandelnd inmitten der Pracht Babylons, erlebte der König einen Augenblick höchsten Stolzes. Alles in seiner Umgebung zeugte von seiner Macht, seiner Ehre und seiner Majestät. Die Ruinen Babylons sind heute noch bemerkenswert. Rekonstruktionen in Bildern zeigen etwas von den Wundern, die darin enthalten waren. Wenn wir sie betrachten und annehmen, dass die Wirklichkeit etwa dem entsprach, müssen wir sagen, dass keine unserer heutigen Städte dem alten Babylon an Glanz gleichkommt. Der König, voll Stolz, fühlte sich über alle Massen erhaben. Dann fiel der Schlag.
Vom Gipfel seiner Herrlichkeit wurde er auf das Niveau eines Tieres erniedrigt, ja, beinahe noch darunter. In diesem elenden, tierischen Zustand gingen sieben Zeiten über ihn. Es war kein schnell vorübergehendes Unglück, sondern zog sich sehr in die Länge. Hier wird nicht erwähnt, ob mit «Zeiten» Jahre gemeint sind, wohl aber an anderer Stelle.
Wir finden in dieser Geschichte auch eine prophetische Seite. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass auch am Ende der Herrschaft der Nationen, in Offenbarung 13, von einem Tier die Rede ist. Der letzte Mensch, der diesen höchsten Platz einnehmen wird und den der Herr Jesus bei seiner Erscheinung in Herrlichkeit vernichten wird, wird als Tier bezeichnet. Er wird nicht den Verstand verlieren wie Nebukadnezar, aber, was noch schlimmer ist, von Satan beherrscht sein. Nie wird er seine Augen zum Himmel emporheben, sondern immer nur zur Erde gerichtet halten. Und zudem, wenn es zutrifft, dass der «kommende Fürst» aus Daniel 9,26.27 mit diesem Tier identisch ist, wird seine Herrschaft eine «Woche» von sieben Jahren dauern (Vers 27) die den «sieben Zeiten» entsprechen.
Dennoch gibt es einen beachtlichen Unterschied. Das Tier der letzten Tage findet sein Ende im «Feuersee, der mit Schwefel brennt». Nebukadnezar hingegen wird nach den sieben Zeiten geistig wieder gesund und in sein Königtum eingesetzt. Und zudem hat man den Eindruck, dass Gott dieses Mal eine tiefere Wirkung auf sein Herz ausüben konnte. Nicht nur erhob er seine Augen zum Himmel als ein Mann, dem der Verstand wieder kam, sondern er pries auch Gott und nannte Ihn «den Höchsten». Zum ersten Mal erscheint dieser Name Gottes in 1. Mose 14, wo Melchisedek Priester «Gottes, des Höchsten» genannt wird, der Himmel und Erde besitzt.
Etwas Verständnis über diese Tatsache war nun in das Herz Nebukadnezars gekommen (Verse 34,35). Das öffnete die Augen des Königs über seine eigene Nichtigkeit, denn er bekannte, dass «alle Bewohner der Erde wie nichts geachtet werden». Alle, das schloss auch ihn selbst mit ein. Er anerkannte auch die oberste Gewalt Gottes, um seinen Willen im Himmel und auf Erden durchzusetzen. In der Gegenwart der Größe und Macht Gottes fühlte er seine eigene Nichtigkeit und sein Unvermögen.
Endlich hatte Nebukadnezar seine Lektion gelernt. Er rühmte öffentlich den Gott des Himmels. Darum wurde die schwere Züchtigung, durch die er gegangen war, aufgehoben. Mit einem gedemütigten Geist wurde er wieder in sein Königtum eingesetzt. Sein öffentliches Bekenntnis und die Verherrlichung des «Königs des Himmels» finden wir in den letzten Versen unseres Kapitels. Ihm schrieb er Ruhm, Wahrheit und Recht zu in allen seinen Werken. Nie wurde ein Mensch zu einer höheren Vorrangstellung erhoben, wie dieser König, und nie wurde ein stolzer Mann offensichtlicher gedemütigt wie er.
Lasst uns die demütigende Macht Gottes nicht vergessen. Oft halten wir uns bei der Gnade Christi auf, wie sie im Hebräerbrief gezeigt wird. Aber lasst uns nicht vergessen, dass Er nicht nur «Mitleid zu haben vermag», nicht nur «zu helfen» und «zu erretten vermag», sondern auch «zu erniedrigen». Er tat es bei Nebukadnezar und wie es scheint zu seinem Guten. Er wird es noch viel gründlicher tun mit dem «Tier» aus Offenbarung 13 (siehe Kapitel 19). Der Hochmut des Menschen, genährt durch seine technischen Fortschritte und wunderbaren Erfindungen, wird seinen Höhepunkt bald erreicht haben. Dann wird das Bekenntnis Nebukadnezars in überwältigender Art und Weise wahr gemacht werden - «der zu erniedrigen vermag, die in Hoffart wandeln.»