Der Prophet Daniel
Kapitel 2
Mit dem Aufsehen erregenden Aufstieg Babylons unter Nebukadnezar begannen die Zeiten der Nationen. Aber schon im zweiten Jahr seiner Regierung hatte dieser Herrscher einen ungewöhnlichen Traum, der ihn beunruhigte. Und das war gut so, denn dieses Gesicht enthielt eine von Gott gegebene Offenbarung, um ihn zu demütigen. Die Unruhe ließ ihn nicht mehr schlafen; aber noch schlimmer war, dass er jede Erinnerung an seinen Traum verloren hatte. Nun wandte er sich an die Schriftgelehrten, Beschwörer und Zauberer. Sie sollten ihm den Traum erzählen und seine Deutung erklären.
Diese Forderung, und die Drohung, dass alle umgebracht würden, wenn sie die Antwort schuldig blieben, scheint auf den ersten Blick brutal und unzumutbar. Aber denken wir daran, dass zu jener Zeit falsche jüdische Propheten und Wahrsager in Jerusalem und in Babel waren (Jeremia 29), deren Behauptungen und Erklärungen nicht zutrafen. Ohne Zweifel galt das auch für die babylonischen Wahrsager. Nebukadnezar mag gedacht haben, dass dies eine gute Gelegenheit sei, diese Männer, die ihn umgaben und ihn mit übernatürlicher Einsicht zu beraten suchten, auf die Probe zu stellen. Wenn sie schon vorgaben, auf übernatürliche Weise Träume zu deuten, dann konnten diese besonderen Kräfte bestimmt auch den vergessenen Traum rekonstruieren! Jetzt sollten sie ihre Behauptungen unter Beweis stellen. Wenn sie es nicht konnten, wollte er sie aus seinem Königreich vertilgen.
Die Babylonier zählten Daniel und seine Freunde auch zu diesen «Weisen», und so fielen auch sie unter den Befehl des Königs. Nun müssen wir die Handlungsweise Daniels und seiner Freunde beachten. Sie ist sehr lehrreich. Zuerst erbat sich Daniel in einem Geist der Demut vom König eine Fristverlängerung, in der Gewissheit einer bevorstehenden Antwort. Das offenbart den starken Glauben, den Daniel in Gott hatte. Nachdem ihnen die Verlängerung gewährt war, fanden sich Daniel und seine Gefährten zu ernstem Gebet zusammen, damit das Geheimnis des Traumes ihnen geoffenbart würde.
Da waren also diese vier Männer, umgeben von der gröbsten Form des Götzendienstes in der damals größten Weltstadt, aber in wahrer Absonderung des Herzens und des praktischen Lebens, in Verbindung mit dem Gott des Himmels, um seine Antwort zu empfangen. Das Geheimnis, um das sie baten, wurde Daniel in einem Gesicht der Nacht geoffenbart. Er sah das Gleiche, was einige Tage zuvor der König gesehen hatte. Andere schon waren von Gott befähigt, Träume zu deuten, z.B. Joseph. Und den gleichen Traum zwei verschiedene Menschen, nicht einmal zur gleichen Zeit, sehen zu lassen, auch das bringt nur Gott zustande. Nur den seiner Knechte lässt Er ein solches Wunder erleben, der sich von den Verunreinigungen der ihn umgebenden Welt ganz für Ihn absondert.
Das erste, was Daniel tat, war Gott zu loben und zu preisen (Verse 19-23). Er lebte tatsächlich in einer Zeitepoche, da Gott Zeiten und Zeitpunkte ändert, Könige absetzt und einsetzt und zeigt, dass Macht und Weisheit Sein sind. Gott war es, der die Könige aus der Linie Davids wegtat und Nebukadnezar erhob. Daniel beugte sich darunter und pries Gott dafür. Er lobte und rühmte Ihn auch, dass Er denen Weisheit gab, die Verständnis bekommen hatten, um sie zu empfangen, und dass Er ihm das gewünschte Geheimnis kundgetan hatte.
Zeiten und Zeitpunkte in Verbindung mit dieser Erde werden zum ersten Mal in 1. Mose 1,14 genannt. Den gleichen Ausdrücken wie hier begegnen wir noch in Apostelgeschichte 1,7 und 1. Thessalonicher 5,1. Diese Begriffe beziehen sich auf Gottes Regierung und Handeln auf Erden. In Apostelgeschichte 1 sollte die Zeit, wann Gott handeln würde, den Jüngern verborgen bleiben. Die Thessalonicher hingegen wussten um die Art und Weise des vorausgesagten Handelns Gottes und die Ordnung, nach welcher sich die Dinge ereignen würden. Obwohl sie dies wussten, waren sie aber unwissend in Bezug auf das Kommen des Herrn für die Seinen, wie es dann im 4. Kapitel des Briefes mitgeteilt wird. Aber dieses Kommen steht in Verbindung mit der himmlischen Berufung, währenddem sich «Zeiten und Zeitpunkte» auf die Erde beziehen.
Nachdem Daniel der Traum geoffenbart war, wird er sofort vor den König gebracht, wo er jede eigene Befähigung zur Traumdeutung in Abrede stellt. Er weist den König auf den Gott des Himmels hin, der Geheimnisse offenbart und im Sinn hat, ihn den künftigen Verlauf der Herrschaft der Nationen wissen zu lassen, die mit dem Sturz Jerusalems und seines Königs begann. Nebukadnezar wird klar gesagt, dass Gott so handelte um Daniels und seiner Freunde willen, und damit er erkenne, dass er es mit einem Gott zu tun habe, der die verborgensten Gedanken seines Herzens sieht. In den Versen 31-35 erzählt er dem König den Traum.
Wir wollen nun den Traum in Verbindung mit der Deutung betrachten, die Daniel ab Vers 37 gibt. Das goldene Haupt dieses gewaltigen Bildes mit außergewöhnlichem Glanz war Nebukadnezar selbst. Er übte uneingeschränkte, absolute Macht aus, so wie es keiner vor ihm noch nach ihm bis jetzt gekannt hat. Diese Absolutheit wird, wie wir glauben, nur im «Tier» aus Offenbarung 13 ihresgleichen finden und übertroffen werden durch den Herrn Jesus, wenn Er kommen wird als König der Könige und Herr der Herren. Der Herr Jesus wird richten und regieren in Gerechtigkeit, im Gegensatz zu Nebukadnezar, von dem es heißt: «Wen er wollte tötete er, und wen er wollte ließ er leben» (Dan 5,19).
Aber das babylonische Weltreich, so großartig es auch war, beherrschte nur für kurze Zeit die Bühne der Weltgeschichte. Unter Belsazar fiel es von seiner stolzen und hervorragenden Stellung. Das Ganze war so sehr von der Macht und Herrlichkeit Nebukadnezars abhängig, dass in Vers 39 kein weiterer babylonischer König mehr genannt wird. Vielmehr heißt es da, dass nach ihm ein anderes Königreich von niedrigerem Charakter aufstehen würde, das im Bild des Traumes durch die Brust und Arme von Silber dargestellt war. Dieses wiederum würde abgelöst durch ein drittes Reich, charakterisiert durch Bauch und Lenden von Erz.
Der abnehmende Wert der Metalle weist auf eine Verminderung der Qualität der nachfolgenden Weltmächte hin. Es mag hart klingen, wenn wir sagen, dass Autokratie aus Gottes Sicht die ideale Regierungsform ist. Im tausendjährigen Reich wird sie in gerechter und doch gütiger Vollkommenheit durch Christus ausgeübt werden. Es ist bemerkenswert, dass Daniel in diesem Kapitel mehrmals vom Gott des Himmels spricht. Er will damit diesem ersten Herrscher aus den Nationen sagen, dass seine Macht und Autorität ihm vom Himmel anvertraut worden sei. Auf diese Tatsache stützt auch der Apostel seine Belehrungen in Römer 13,1. Die damals herrschende Weltmacht war die vierte aus unserem Kapitel. Jede existierende weltliche Macht, wie sie auch immer sein mag, zu irgendeinem Zeitpunkt, besitzt ihre Autorität als anvertraut vom Gott des Himmels.
Über das zweite und dritte Weltreich werden nur kurze Erklärungen gegeben. Unsere Gedanken werden auf das vierte konzentriert, das sich durch Härte (Eisen) auszeichnet. Das römische Weltreich zerbrach alles Vorhandene und unterwarf sich tatsächlich die ganze zivilisierte Welt. Es bestand in dieser vereinheitlichten Form während Jahrhunderten. Obwohl die Einheit zerfiel, wie wir wissen, wird es im Traum als in einer gewissen Form fortbestehend betrachtet, bis zu seiner letzten Entfaltung als einer Vereinigung von zehn Königreichen, am Ende seiner Geschichte. Dann wird Eisen mit lehmigem Ton vermischt gesehen; das Reich wird teilweise hart und stark und teilweise brüchig sein.
Die Mischung aus Ton und Eisen stellt dies treffend dar, denn es sind zwei Materialien von ganz unterschiedlichem Charakter. Eisen ist ein Metall von geringerem Wert als Gold, aber härter; Ton ist kein Metall und weist in der Schrift immer auf den Gegensatz zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen hin (Hiob 10,9; 33,6, der Mensch ist wie Ton in der Hand Gottes, des Töpfers!).
Der Traum deutet also darauf hin, dass das vierte Weltreich in seinen letzten Tagen «Könige» haben wird, nämlich zehn, und dass sich, obwohl immer noch hart, ein brüchiges - ein menschliches - Element beigemischt hat. Dieses Element nennen wir in unseren Tagen Demokratie, das einst ein hochgestellter Mann wie folgt umschrieben hat: Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk. Nichts ist ungewisser und daher brüchiger, als der Wille des Volkes. Nun wird uns klar, dass wir in den Tagen leben, die den Schlussakt der Geschichte dieses Bildes darstellen.
Auf die Füße dieses Bildes fiel der Stein. Er riss sich los ohne Hände, d.h. ohne irgendein menschliches Dazutun. Es war das Wirken Gottes. Den ersten prophetischen Hinweis auf den Herrn Jesus, als dem Stein finden wir in 1. Mose 49,24, als der alte Jakob seine Söhne segnete und dabei folgenden Ausruf anfügte: «Von dannen ist der Hirte, der Stein Israels». Als Stein erscheint Er auch in Jesaja 28,16 und vielen anderen Stellen bis ins Neue Testament.
In dem Traum, der uns beschäftigt, wird der Stein als ein Königtum gedeutet, das ewiglich nicht zerstört wird. Wir wissen, wer der König dieses Reiches sein wird. Gerade so wie wir das Gesicht aus Habakuk 2,3, das sicher kommen und nicht verziehen wird, in Hebräer 10,37 auf eine Person konzentriert finden («es» in Habakuk wird zu «Er» in Hebräer), wird auch das Königreich, das Daniel erwähnt als der Stein aus Nebukadnezars Traum, eine Person zum Mittelpunkt haben: Gottes König der Könige.
Wir kennen Ihn als den «lebendigen Stein», zu dem wir schon gekommen sind (1. Pet 2,4.5). Wir gehören Ihm an und sind als lebendige Steine seiner Natur teilhaftig geworden. Als solche werden wir unter seiner Leitung aufgebaut zu einem geistlichen Haus, einem heiligen Priestertum. Als König dieses kommenden Reiches aus Daniel 2 wird Er in Gericht kommen, um zu vernichten. Während der Zeit, in der wir dies erwarten, kennen wir seine anziehende, aufbauende Macht. Was für eine Gnade und welch ein Segen, Ihn so zu kennen!
Es ist wirklich ein ernster Gedanke, dass dieses gewaltige Bild, das die Herrschaft der Nationen auf dieser Erde darstellt, vom Gericht getroffen und zu Staub zermalmt wird. Es sollte einen reinigenden Einfluss auf uns ausüben, wenn wir uns bewusst werden, dass nichts von all der Macht und äußeren Herrlichkeit des Menschen bestehen bleibt. Nicht nur das Eisen und der Ton werden zermalmt, auch das Gold, das Silber und das Erz. Der Wind Gottes wird alles wie Spreu hinweg treiben. Der Gott, der solches tun will, ist groß. Und Er ließ es den König wissen, der in den Augen der Menschen groß war. Die Größe Gottes bürgt für die Zuverlässigkeit der Dinge, die der Traum prophezeite.
Erinnert uns das nicht an 1. Korinther 1,19 und 2,6, wo der Apostel uns mitteilt, dass nicht nur die mächtigen Reiche der Nationen, sondern auch die Verstandesfürsten und ihre Weisheit zunichte werden, wenn Gott zum Gericht erscheinen wird?
Diese Offenbarung, die der König durch Daniel erhielt, hatte eine unmittelbare Wirkung auf ihn, wie wir das in den letzten Versen des Kapitels sehen. Anstatt sich über die Ankündigung der unabwendbaren Katastrophe zu ärgern, wurde ihm klar bewusst, dass er sich in der Gegenwart einer übernatürlichen Macht befand, einer Kraft, die den Chaldäern und seinen Magiern fehlte. Als Folge seiner heidnischen Erziehung war er aber mehr beschäftigt mit dem Mann, in dem sich diese Macht zeigte, als mit ihr selbst. Er anerkannte zwar, dass der Gott Daniels der Gott der Götter und Herr der Könige sei, aber sein Opfer richtete sich mehr an Daniel als an Gott, in dessen Namen dieser sprach. Es ist eine Illustration zu Römer 1,25, wonach die Heiden «dem Geschöpf mehr Verehrung und Dienst dargebracht haben als dem Schöpfer, welcher gepriesen ist in Ewigkeit. Amen.»
Daniel wurde nicht nur angebetet, sondern zu einem Herrscher gemacht und zum Obervorsteher über alle Weisen des Königs eingesetzt. Auf seine Bitte hin wurden auch seine drei Gefährten befördert. Sie wurden mit einem Schlag berühmt. Hatte diese wunderbare Entfaltung göttlicher Macht eine heilsame und bleibende Wirkung auf Nebukadnezar? Das nächste Kapitel überzeugt uns vom Gegenteil.