Der erste Brief an die Korinther
Kapitel 16
Der praktische Zustand der Versammlung in Korinth war, wie wir bei Betrachtung dieses Briefes deutlich gesehen haben, sehr schwach. In ihrer Mitte fand man Spaltungen, Weltlichkeit, fleischliche Begierden, Missstände beim Mahl des Herrn und falsche Lehre. Satan suchte alles zu verderben, zuerst das Leben und dann die Lehre; zuerst die Gerechtigkeit und dann den Glauben. Es ist deshalb wohl zu begreifen, dass das Herz des Apostels über sie besorgt und beschwert war, umso mehr, wenn wir an die väterliche Liebe und Zärtlichkeit für die Gläubigen denken. Ihr Zustand war in der Tat ein höchst trauriger; aber er diente dazu, alle die Gefühle und Liebe seines Herzens, die er besonders zu den Korinthern hatte, hervorströmen zu lassen, wie dies vor allem im zweiten Brief deutlich wird. Auch in diesem Kapitel redet er sie auf eine sehr liebevolle und Vertrauen erweckende Weise an, gibt ihnen Anordnungen hinsichtlich eines Dienstes für die bedürftigen Heiligen in Jerusalem und ermuntert sie dazu. Er gibt ihnen die Anweisung, für jene eine Kollekte zu veranstalten, was die Apostel angeordnet hatten, zur Zeit, als Paulus, als anerkannter Apostel der Nationen, Jerusalem verließ. Er bittet sie, an jedem ersten Wochentag nach ihrem Vermögen etwas bei sich zurückzulegen; und später, wenn er bei ihnen war, wollte er einige Brüder, die sie für tüchtig erachteten, mit Briefen nach Jerusalem senden, um ihre gesammelte Gabe der Liebe hinzubringen; auch war er bereit, selbst hinzureisen, wenn es gut war (Verse 1–4).
Ungeachtet ihres traurigen Zustandes wollte der Apostel dennoch von ihrem Dienst Gebrauch machen; und dies ist sehr tröstlich und lehrreich für unsere Herzen. Er betrachtet und behandelt sie noch immer als Christen; sie standen noch immer auf dem Boden der Wahrheit und bildeten die Versammlung Gottes in Korinth; und diese Tatsache veranlasst den Apostel, ihnen mit umso größerem Ernst zu schreiben. Doch obwohl sein Herz durch das Schreiben dieses Briefes einigermaßen erleichtert worden war, indem er vertraute, dass der Herr es an ihren Herzen segnen würde, so konnte er sich doch nicht entschließen, dort hinzukommen, was zuerst sein Vorhaben gewesen war. Er wollte nämlich durch Korinth nach Mazedonien reisen und sie dann auf der Rückkehr von dort zum zweiten Mal sehen (2. Kor 1,15.16). Er unterlässt es aber, ohne ihnen einen weiteren Grund darüber anzugeben; auch spricht er mit Ungewissheit über seinen Aufenthalt bei ihnen: „Vielleicht aber werde ich bei euch bleiben oder auch überwintern... denn ich hoffe, einige Zeit bei euch zu bleiben, wenn der Herr es erlaubt“ (Vers 7). Im zweiten Brief teilt er ihnen mit, dass ihr gegenwärtiger Zustand die Ursache gewesen, warum er nicht zu ihnen gekommen war. Paulus beabsichtigte bis Pfingsten in Ephesus zu bleiben; „denn“, sagte er, „eine große und wirkungsvolle Tür ist mir aufgetan, und die Widersacher sind zahlreich“ (Verse 8.9). Diese beiden Tatsachen, die geöffnete Tür und die vielen Widersacher, waren für ihn eine Ursache zu bleiben, und sie sind zu jeder Zeit ein sehr beachtenswertes Kennzeichen für den Arbeiter im Werk des Herrn. Die geöffnete Tür ist ein Beweis, dass Gott da ist und die Wirksamkeit gutheißt, und die Tätigkeit des Widersachers macht das Bleiben um des Feindes willen notwendig. Man hält oft den Widerstand für eine geschlossene Tür; allein diese ist nur dann geschlossen, wenn kein Bedürfnis da ist, um das Wort zu hören, und Gott nicht wirkt, um die Aufmerksamkeit zu erwecken. Wenn aber Gott wirkt, so ist der Widerstand des Feindes nur eine Ursache, um das Werk nicht aufzugeben. Es scheint, dass Paulus schon viel in Ephesus gelitten hatte (Kap. 15,32), und dennoch setzte er das Werk fort. Der Aufruhr, den Demetrius hervorrief (Apg 19), schloss die Tür und ließ Paulus von dort weggehen.
Wir wissen aus Apg 19,22, dass Paulus Timotheus nach Mazedonien gesandt hatte und wie wir in diesem Kapitel sehen, der Meinung war, dass er bis Korinth durchreisen würde. Er gibt deshalb die Ermahnung: „Wenn aber Timotheus kommt, so seht zu, dass er ohne Furcht bei euch sei, denn er arbeitet am Werk des Herrn wie auch ich. Es verachte ihn nun niemand. Geleitet ihn aber in Frieden“ (Verse 10.11). Zu dieser Ermahnung gab wohl besonders die Jugend des Timotheus Veranlassung. Paulus musste befürchten, dass sie ihren Mangel an Unterwürfigkeit, wie dies leider oft geschieht, durch die Jugend des Arbeiters zu rechtfertigen suchen würden. Deshalb erinnert er sie, dass Timotheus, wie er selbst, am Werk des Herrn arbeitete; und wahrlich, er arbeitete mit großer Treue. Und dies allein ist genug, uns für unsere Unterwürfigkeit völlig verantwortlich zu machen. Was Apollos betraf, so hatte der Apostel ihn gebeten, dass er mit den Brüdern nach Korinth gehen möchte, und dies bewies, wie frei seine Seele von allem Neid war. Er wusste, dass Apollos unter den Korinthern im Segen gewirkt hatte, und dies erwartete er auch weiterhin. Apollos war bis jetzt noch nicht entschlossen, dorthin zu reisen. Wie es scheint, wollte er nicht durch seine Gegenwart Veranlassung geben zu denken, dass er das Wegbleiben des Apostels tadle, besonders da sich etliche dort nach seinem Namen nannten (Vers 12).
Nach diesen verschiedenen Anordnungen und Mitteilungen wendet sich dann der Apostel noch einmal mit einer liebevollen, aber zugleich sehr ernsten Ermahnung an die Korinther: „Wacht, steht fest im Glauben; seid mannhaft, seid stark! Alles bei euch geschehe in Liebe“ (Verse 13.14). Wie weit umfassend sind diese wenigen Worte! Es war der dringende Wunsch des Apostels, dass sie bis zum Ende fest und treu bleiben und dass die Liebe die Quelle aller ihrer Handlungen sein möchte. Er liebte die Korinther mit väterlicher Liebe, denn sie waren seine Kinder, die er durch das Evangelium gezeugt hatte; und so groß auch ihre Probleme sein mochten, so blieben sie doch stets wertvoll für sein Herz.
Weiter finden wir in diesem Kapitel einen deutlichen Beweis dafür, dass sich jeder, ohne besondere Berufung, allein durch die Kraft des Heiligen Geistes zum Dienst der Versammlung widmen kann, und dass, wenn ein solcher treu dient, die anderen schuldig sind, ihn anzuerkennen und sich ihm unterzuordnen. „Ich ermahne euch aber, Brüder: Ihr kennt das Haus des Stephanas, dass es der Erstling von Achaja ist und dass sie sich selbst den Heiligen zum Dienst verordnet haben - dass auch ihr euch solchen unterordnet und jedem, der mitwirkt und arbeitet“ (Verse 15.16). Der Herr selbst erkennt solche freiwilligen Arbeiter an, die, getrieben durch die Liebe des Christus und geleitet durch den Heiligen Geist, sich dem Dienst der Heiligen widmen, und Er erwartet auch von uns die Anerkennung eines solchen Dienstes und die Unterordnung unter solche Arbeiter. Dies ist von großer Wichtigkeit, besonders auch für die gegenwärtige Zeit, in der man oft einen solchen freiwilligen Dienst nur als einen Eingriff in irgendein geistliches Amt betrachtet, und nicht an Anerkennung und Unterordnung denkt, indem man nur solche zu jenem Dienst berechtigt glaubt, die durch eine besondere Berufung und Einweihung vonseiten der Menschen dazu gelangt sind. Im Wort Gottes aber finden wir das Gegenteil. Ebenso hören wir nichts von einer besonderen Berufung Apollos. Er war in Bezug auf andere ein ganz und gar unabhängiger Arbeiter. Zum Teil durch andere Arbeiter unterwiesen, handelte er frei nach der empfangenen Gnade, wie er es vor Gott für wohlgefällig hielt.
Zugleich möchte ich hier noch auf eine andere, sehr beachtenswerte Sache aufmerksam machen, die mit dem vorhin Gesagten mehr oder weniger in Verbindung steht. Dieser Brief, obwohl er auf alle Einzelheiten des inneren Zustandes der Versammlung in Korinth eingeht, erwähnt mit keinem Wort die Ältesten oder andere angestellte Personen, die doch im Allgemeinen vorhanden waren. Gab es nun auch in Korinth solche, so hätte man erwarten sollen, dass der Apostel, bei den vielfachen Mängeln und Problemen in der Versammlung, sich besonders an jene gewandt und sie zur Treue und Wachsamkeit ermuntert und an ihre Verantwortlichkeit erinnert hätte; aber im Gegenteil, er machte sie alle verantwortlich; und dies ist sehr zu beherzigen. Wir haben das Wort, und in diesem Wort hat Gott für den Wandel einer Versammlung zu aller Zeit gesorgt und hat auch, wie wir gesehen haben, darin Ermahnungen gegeben, alle anzuerkennen und sich allen unterzuordnen, die sich durch die Kraft des Geistes zum Dienst der Heiligen mit Treue widmen, ohne auf eine besondere Weise berufen oder angestellt zu sein. Weder der allgemeine Verfall der Kirche noch der Mangel solcher angestellten Personen wird diejenigen, die dem Wort gehorchen wollen, hindern können, es in allen Dingen, die für die christliche Ordnung nötig sind, zu befolgen. Der Herr wird uns zu aller Zeit, auch inmitten aller Verwirrung und Trennung, das geben, was wir zu unserer Erbauung nötig haben, wenn wir uns nur einfach an sein Wort halten und uns durch seinen Geist leiten lassen.
Der Apostel erwähnt hier drei Personen, die durch ihre persönliche Teilnahme und ihren persönlichen Dienst sein Herz erfreut und erquickt hatten. „Ich freue mich aber über die Ankunft von Stephanas und Fortunatus und Achaikus, denn diese haben erstattet, was eurerseits mangelte. Denn sie haben meinen Geist erquickt und den euren; erkennt nun solche an“ (Verse 17.18). Es scheint nach diesen Versen nicht, dass sie sein Herz durch angenehme Berichte über die Versammlung oder durch einen Beweis ihrer Liebe zu ihm erfreut hätten. Sein Herz war vielmehr durch jene persönlich ermuntert worden; und er wollte die Korinther daran teilnehmen lassen, indem er voraussetzte, dass sie Liebe genug für ihn besaßen, um durch seinen Trost mitgetröstet zu werden. Ihre Liebe hatte vorher nicht daran gedacht; aber er spricht sein Vertrauen aus, dass sie sich darüber, dass er ermuntert worden war, freuen würden. Es ist rührend zu sehen, wie die Liebe des Apostels bemüht ist, in den Herzen der Korinther das Gefühl der Liebe und der Gemeinschaft durch die Mitteilung zu erwecken, dass diese drei Brüder der Versammlung ihm gedient hatten, und wie er seine Freude mit der ihren zu verbinden sucht, um auf diese Weise das Band der Gemeinschaft zu erneuern und zu befestigen.
Wie groß auch die Missstände in der Versammlung in Korinth sein mochten, so erkennt dennoch der Apostel, wie wir schon bemerkt haben, ihre Glieder als wahre Christen an, und er will, dass sie sich auch untereinander durch den Kuss der Liebe, der allgemeine Ausdruck der brüderlichen Zuneigung, als solche anerkennen sollen. „Grüßt einander mit heiligem Kuss“ (Vers 20). Es mag hier auch bemerkt werden, dass andere für den Apostel, wie wir in Vers 21 und an anderen Stellen sehen, schrieben. Der Brief an die Galater ist eine Ausnahme. Er bestätigte seine Schreiben an die Versammlungen dadurch, dass er die Grüße am Ende mit eigener Hand schrieb.
Am Schluss des Briefes haben wir noch einmal Gelegenheit zu sehen, wie völlig der Apostel die Korinther anerkannte. Er sprach ein feierliches Anathema über alle aus, die den Herrn Jesus nicht lieb hatten (Vers 22). Wenn es solche gab, so wollte er sie nicht anerkennen; aber weit davon entfernt, dies bei ihnen vorauszusetzen, schreibt er ihnen im Gegenteil im letzten Vers: „Meine Liebe sei mit euch allen in Christus Jesus!“ (Vers 24). Wenn nun schon das Herz des Apostels mit einer solchen innigen Zuneigung an einer Versammlung hing, deren Zustand doch so schwach und mangelhaft war, wenn es ihm ein großer Trost war, fähig zu sein, sie alle in Liebe anzuerkennen, wie viel mehr konnten sie dann und wir mit ihnen, überzeugt sein von der Liebe dessen, der, um uns vom ewigen Verderben zu erretten, sein teures Leben in den schmachvollen Kreuzestod hingegeben hat, und der, obwohl Er mit heiligem Ernst uns ermahnt und züchtigt, uns zu gleicher Zeit mit so viel Geduld, Liebe und Sanftmut trägt und leitet. Auch dieser Brief ist ein Zeugnis seiner innigen Liebe und Fürsorge gegen uns. Er hat die traurigen Zustände in Korinth benutzt, um uns verschiedene Unterweisungen zu geben, und uns in vielen Stücken, sowohl in Bezug auf uns selbst als auch in Bezug auf die Versammlung seinen Willen verstehen zu lassen. Möchten unsere Herzen durch die Gnade willig und bereit sein, nicht allein mit Eifer seinen Willen zu erforschen, sondern ihn auch durch die Kraft des Heiligen Geistes mit Treue zu erfüllen!