Gerechtfertigt aus Glauben
Kapitel 7
Kapitel 7, 1–11
Nachdem der Apostel in dem Vorhergehenden die beiden großen Fragen der Rechtfertigung und der Befreiung behandelt und die Wirkung des Todes und der Auferstehung Jesu hinsichtlich beider entwickelt hat, kommt er jetzt zu einem neuen Gegenstand von größter Wichtigkeit. Gott hatte einst Seine Gebote dem Menschen gegeben. Sie waren unverbrüchlich und fanden ihre Anwendung – ich rede natürlich nur von dem Sitten-, nicht von dem Zeremonial-Gesetz – auf alle Menschen ohne Unterschied. Wenn auch zunächst nur für das Volk Israel bestimmt, enthielten sie doch die gerechten Forderungen Gottes an Sein Geschöpf, an den Menschen in seinem natürlichen Zustande. Jeder Mensch, der mit ihnen bekannt wurde, war verpflichtet, ihnen zu gehorchen, und sie bestehen heute noch für den Menschen als solchen in ihrer vollen Kraft (vgl. 1. Tim 1,8+9). Der heilige Gott kann Seine Forderungen nicht mildem, Seine Ansprüche nicht verringern.
Nun aber hatte der Apostel kurz vorher gesagt, dass die Gläubigen „nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ seien. Wie war dieser scheinbar unlösliche Widerspruch aufzuklären? dass sie nicht „gesetzlos“ geworden waren, d. i. nicht ihrem eigenen Willen, ihren Neigungen und Lüsten folgen durften, hatte er schon aufs deutlichste bewiesen. Wie waren sie nun von den Flüchen des Gesetzes befreit worden, wie seiner Botmäßigkeit entronnen? Die Antwort ist kurz und einfach. Sie lautet, wie im 5. und 6. Kapitel: durch den Tod.
„Oder wisset ihr nicht, Brüder, (denn ich rede zu denen, die Gesetz kennen,) dass das Gesetz über den Menschen herrscht, solange er lebt?“ (V. 1). Wenn ein zum Tode verurteilter Mörder hingerichtet ist, so hat er mit dem Gesetz, das ihn zum Tode verurteilt hat, nichts mehr zu tun; die Forderung desselben ist befriedigt, sein Recht erfüllt. Was könnte das Gesetz überhaupt noch mit einem toten Menschen anfangen? So ist auch der Gläubige gestorben, und zwar in und mit Dem gestorben, der am Kreuze für ihn zur Sünde gemacht wurde und den Fluch eines gebrochenen Gesetzes für ihn trug. Er ist also tot, dem Gesetz gestorben, und an die Stelle des Gesetzes ist Christus getreten. In Ihm, dem Auferstandenen, besitzt der Gestorbene ein neues Leben, in welchem er durch den Glauben das stets zur Sünde neigende Fleisch für gerichtet und sich selbst der Sünde für tot halten darf.
Ehe wir indes weitergehen, müssen wir uns einen Augenblick mit dem Wort „Gesetz“ beschäftigen. Wir begegnen ihm in unserem Kapitel in verschiedenartiger Bedeutung. Im 2. Verse lesen wir z. B. vom „Gesetz des Mannes“, oder dem Ehegesetz, im 21. und 23 Verse von einem „anderen Gesetz“, dem „Gesetz der Sünde“, das dem „Gesetz des Sinnes“ in den Wiedergeborenen widerstreitet. Ferner sagt der Apostel im 1. Verse: „Ich rede zu denen, die Gesetz kennen.“ Er spricht nicht von dem Gesetz (vom Sinai), sondern von „Gesetz“ in allgemeinem Sinne. Er sagt mit anderen Worten: „Ich rede zu Leuten, die da wissen, was das Wort Gesetz bedeutet.“ „Gesetz“ in diesem allgemeinen Sinne ist eine unveränderliche Regel, ein feststehender Grundsatz, dem Dinge oder Menschen unterstellt sind. Der Ausdruck „Naturgesetze“ ist uns allen geläufig, aber es gibt auch mancherlei andere Gesetze, die zu dem Menschen als solchem in Beziehung stehen, Gesetze, die ihm Verpflichtungen auferlegen oder Forderungen an ihn stellen, denen er sich nicht entziehen kann.
Nun, wer da weiß, was „Gesetz“ ist, der weiß auch, dass ein toter Mensch außerhalb des Bereichs aller Gesetze steht. Auch das Gesetz (das Gesetz vom Sinai) kann nur über den Menschen herrschen, solang er lebt. Der Tod hebt jede Verbindung, jede Verpflichtung ihm gegenüber auf. Der Apostel erklärt das noch näher durch das Beispiel von dem Ehegesetz, indem er sagt: „Denn das verheiratete Weib ist durchs Gesetz an den Mann gebunden, solang er lebt; wenn aber der Mann gestorben ist, ist sie losgemacht von dem Gesetz des Mannes. So wird sie denn, während der Mann lebt, eine Ehebrecherin geheißen, wenn sie eines anderen Mannes wird; wenn aber der Mann gestorben ist, ist sie frei von dem Gesetz, so dass sie nicht eine Ehebrecherin ist, wenn sie eines anderen Mannes wird“ (V. 2+3).
Der Gedanke ist so verständlich und einfach, dass er keinerlei Erklärung bedarf. Man fragt sich unwillkürlich: Wie war und ist es möglich, dass man trotzdem immer wieder versucht hat, schon zur Zeit der Apostel, den Christen unter das Gesetz zu stellen, oder Christum und das Gesetz miteinander zu verbinden, d. h. also neben der Rechtfertigung durch Christum noch eine solche durch Gesetz zu fordern? Zwei Männer zu gleicher Zeit haben, ist Ehebruch. Irgendeine andere Verbindung neben Christo eingehen, heißt Ihm untreu werden. War das Gesetz einst mein Ehemann, so ist das jetzt für mich als Christ nicht mehr der Fall. Der Eintritt des Todes hat die alte Verbindung für immer gelöst, so dass ich einem anderen Manne angehören darf, und dieser Mann ist Christus. So elend und arm ich mich unter der alten Verbindung gefühlt habe, – denn je mehr ich versuchte, mein Möglichstes zu tun, umso mehr verurteilte und strafte mich der erste Ehemann, – so wohl und reich fühle ich mich in dem neuen Verhältnis, unter Christo, dem zweiten Ehemann. Diese neue Verbindung wird im achten Kapitel durch zwei kostbare Dinge gekennzeichnet: in ihr gibt es „keine Verdammnis mehr“ (V. 1), und jede,,Scheidung“ ist unmöglich (V. 35–39).
„Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf dass wir Gott Frucht brächten“ (V. 4). Die Gnade nimmt also den Christen, selbst wenn er ehedem ein Jude war, aus dem alten Verhältnis heraus und bringt ihn in eine ganz neue Verbindung, die auf den Tod Christi gegründet ist, und in welcher er Gott Frucht bringen kann, was vorher ganz ausgeschlossen war.
Beachten wir indes, dass der Apostel bei der Anwendung das Bild umkehrt: nicht der alte Ehemann, das Gesetz, ist gestorben, was ganz unmöglich wäre, sondern wir sind als solche, die einst ihr Leben im Fleische hatten, durch den Leib des Christus, d. h. in Seinem Tode, dem Gesetz getötet worden. Als gestorben mit Ihm sind wir von unserer alten Verpflichtung gelöst, um nun Ihm allein anzugehören, und zwar nicht wieder in irgend einem gesetzlichen Geiste, vielleicht unter einer anderen Form, sondern in alleiniger Unterwerfung unter Christum, Ihm gleichsam angetraut, auf Ihn schauend, von Ihm lernend. Der Christ kann und darf in keiner Weise zwei Herren dienen, weder Christo und der Sünde (Kap. 6), noch Christo und dem Gesetz (Kap. 7). Zu leben ist für ihn Christus. (Phil 1,21) Nur so kann er wirklich fruchtbar sein für Gott; ja, indem er nicht nach dem Fleische, sondern nach dem Geiste wandelt, tut er mehr, als was das Gesetz fordert (vgl. Kap. 8,4).
Wird aber, so könnten wir wieder fragen (vgl. das zu Kap. 3,27 Gesagte), auf diesem Wege das Ansehen des Gesetzes nicht geschwächt, seine Autorität geradezu vernichtet? Keineswegs. Den Ansprüchen des Gesetzes ist voll und ganz Genüge geschehen, denn die Sünde wurde in Christo am Kreuze bestraft, und ich, der Schuldige, bin in Seinem Tode mitgetötet worden. Das Urteil des Gesetzes ist also zur Vollziehung gekommen. Der Gläubige ist, wie der Apostel es in Galater 2,19 ausdrückt, „durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“. Gott selbst hat diesen rechtmäßigen Weg der Befreiung vom Gesetz bereitet, einen Weg, der uns völlig und auf immerdar außer seinen Bereich stellt. Das Gesetz bleibt selbstverständlich nach wie vor in seiner unantastbaren Heiligkeit und Gerechtigkeit bestehen, aber wir sind nicht mehr für dasselbe vorhanden.
Das ist die Lehre bezüglich der Stellung, in welche der Gläubige gebracht ist. Was aber sagt unsere Erfahrung dazu? Nun, anstatt das Gesagte umzustoßen, bestätigt sie vielmehr den wichtigen Grundsatz unseres Gestorbenseins mit Christo und der aus ihm hervorgegangenen Befreiung der Seele von dem Gesetz. „Denn als wir im Fleische waren, wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, um dem Tode Frucht zu bringen. Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgemacht, da wir dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, so dass wir dienen in dem Neuen des Geistes und nicht in dem Alten des Buchstabens“ (V. 5. 6).
„Als wir im Fleische waren.“ Was will der Ausdruck „im Fleische sein“ sagen? Wir werden ihm noch wiederholt begegnen. „Im Fleische sein“ heißt: auf dem Boden oder in der Stellung des ersten Adam vor Gott stehen und Ihm dieser Stellung gemäß verantwortlich sein. Es handelt sich dabei nicht um das geringere oder größere Maß der persönlichen Schuld, sondern um den sündigen Zustand, in welchem wir uns von Natur ausnahmslos befinden, um das Joch der Sünde, unter dem wir alle stehen. Wir waren einst (um in der Sprache des Bildes zu reden) ehelich mit dem Gesetz verbunden; aber wie uns sattsam bekannt, verbietet das Gesetz wohl die Sünde und rechnet sie dem Übertreter zu, aber es gibt keine Kraft zum Halten seiner Gebote; im Gegenteil, es gibt der Sünde Anlass, in mir wirksam zu werden. Indem es uns sagt; „Lass dich nicht gelüsten“, bringt es gerade „die Leidenschaften der Sünden“ in uns zum Aufwachen und Wirken. So verstehen wir es, wenn der Apostel sagt, dass diese Leidenschaften „durch das Gesetz“ sind. Doch übersehen wir nicht: Die Quelle jener Leidenschaften ist nicht etwa das Gesetz; die Quelle liegt in uns, aber das Gesetz wirkt auf sie und setzt sie in Tätigkeit. Wenn ein Lehrer seinen Schülern verbietet, die Wände des Schulzimmers zu bekritzeln, so wird in vielen, die früher vielleicht nie an so etwas gedacht haben, die Lust erwachen, das Verbotene zu tun. Oder wenn ich etwas in einer Schublade verschließe und sage; „Niemand darf wissen, was in dieser Schublade ist“, so wird groß und klein die Lust verspüren, die Schublade zu öffnen.
Das also war unser Zustand, unsere traurige Lage. Aber Gott sei gepriesen! wir „waren einst im Fleische“, sind es aber nicht mehr. Wir sind vielmehr, wie wir später belehrt werden, „im Geiste“. (Kap. 8,9) Das ist unsere neue Stellung vor Gott. Wohl ist das Fleisch noch „in uns“, und deshalb können wir dem Fleische noch Raum geben, ja, selbst „fleischlich“ sein (1. Kor 3,1+3), aber wir sind nicht mehr „im Fleische“. Und obwohl das Fleisch noch in uns ist, stehen wir nicht mehr unter seiner Herrschaft, noch stellt das Fleisch, wie früher, unsere Stellung vor Gott dar.
Damals wirkten die Leidenschaften der Sünden, die durch das Gesetz sind, in unseren Gliedern, und die Frucht, die wir brachten, galt dem Tode; das Gesetz kann einmal nicht anders, es wird sich immer als „ein Dienst des Todes und der Verdammnis“ erweisen. Nachdem wir aber dem gestorben sind, in welchem wir festgehalten wurden, dienen wir nicht mehr „in dem Alten des Buchstabens, sondern in dem Neuen des Geistes“. Auch hier gilt das kostbare Wort des Apostels in 2. Korinther 5,17: „Wenn jemand in Christo ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden.“ Unser Dienst besteht nicht mehr in der Erfüllung buchstäblicher gesetzlicher Forderungen in eigener Kraft, sondern in der Nachfolge Christi in der Kraft des Heiligen Geistes. Als solche, die der göttlichen Natur und des Lebens Christi teilhaftig geworden sind, vermögen wir, durch den Geist geleitet und gestärkt, in alledem zu wandeln, was Gott wohlgefällig ist.
Wenn aber das Gesetz eine so verhängnisvolle Wirkung hat, dass unter ihm nur dem Tode Frucht gebracht werden kann, und man völlig von ihm losgemacht sein muss, um in Christo Jesu Gott dienen zu können, was soll man dann sagen? Ist dann das Gesetz nicht etwa selbst Sünde (V. 7)? Der Gedanke liegt nahe, aber der Apostel beweist in den folgenden Versen, dass das nicht nur nicht der Fall ist, sondern dass gerade das Gesetz die Tatsache ans Licht gebracht hat, dass Sünde in uns wohnt; zugleich hat es uns gezeigt, was Sünde ist. Ein natürlich aufrichtiges Gewissen weiß, dass Fluchen, Lügen, Stehlen usw. böse ist, und verurteilt diese Dinge; aber die Sünde als solche, die böse Quelle in unserem Innern, unseren sündigen Zustand, hätte niemand von uns erkannt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: „Lass dich nicht gelüsten!“ So hat sich denn auf diesem Wege einerseits der wahre Charakter des Gesetzes geoffenbart, andererseits die Sünde in ihrer ganzen Hässlichkeit gezeigt.
Der vorliegende Abschnitt hat indes Anlass zu den widersprechendsten Erklärungen gegeben, da die Ausleger, die wahre Stellung des Christen nicht kennend, mit seiner Befreiung von Sünde und Gesetz nichts anzufangen wussten. Die Hauptschwierigkeit liegt aber wohl darin, dass die eine Klasse der Erklärer von dem Standpunkt ausgeht, dass der Apostel von einem aufrichtigen, aber noch nicht bekehrten Menschen rede, die andere, dass er die Erfahrungen eines Christen beschreibe. Noch andere meinen, er berichte über seine eigenen Erfahrungen vor und nach seiner Bekehrung.
Es mag vielleicht anmaßend klingen, wenn ich der Meinung Ausdruck gebe, dass alle drei Erklärungsweisen irrig sind; aber wenn meine Leser ohne Voreingenommenheit die Worte des Apostels auf sich einwirken lassen wollen, so glaube ich, dass sie mir Recht geben werden. Dass der Apostel zunächst nicht von sich selbst redet, geht klar aus dem 9. Verse hervor. Wie könnte er, der einstige Pharisäer und glühende Verteidiger der Ansprüche des Gesetzes, von sich sagen: „Ich aber lebte einst ohne Gesetz“? Weiter beweist eine Vergleichung des 14. Verses unseres Kapitels mit Kapitel 6,14 und 18, sowie des 19. Verses mit dem ganzen 6. Kapitel und Kapitel 8,4 unwiderleglich, dass er unmöglich die regelrechten Erfahrungen eines Christen beschreiben kann. Dass er selbst für eine Weile ähnliches erlebt hat, dürfen wir annehmen, da wohl nur der, welcher selbst in dem beschriebenen Zustand gewesen ist, ihn so schildern wird, wie der Apostel es tut. Jedenfalls aber beschreibt er nicht Erfahrungen, die er in seinem späteren Leben gemacht hat, und die deshalb als Regel für den Christen dienen könnten oder sollten. Von einem natürlichen Menschen kann er schließlich auch nicht reden, denn ein solcher kann unmöglich sagen: „Ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen“ (V. 22). Wohl mögen wir ähnlich klingenden Ausdrücken in menschlichen Schriften, ja, selbst schon bei heidnischen Philosophen begegnen, aber eine unbekehrte Seele, deren Sinn und Wille noch nicht erneuert sind, weiß nichts von einem inneren Menschen, der Lust hat an den Geboten des Herrn.
Von wem spricht der Apostel denn? Er redet von einer wiedergeborenen oder (im Sinne der Schrift) bekehrten Seele, die Leben aus Gott besitzt, aber die im Evangelium geoffenbarte Gerechtigkeit Gottes und die kostbaren Folgen des Werkes Christi noch nicht erkannt und im Glauben ergriffen hat, deshalb auch noch nicht durch den Heiligen Geist versiegelt ist – von einem Menschen, dessen Gewissen ins Licht Gottes gebracht ist, und der nun für Gottes gerechte und heilige Ansprüche eifert, aber keine Kraft hat, ihnen gerecht zu werden.
Vielleicht wird man einwenden: Aber einen solchen Menschen kann man doch nicht bekehrt nennen! Nein, in dem Sinne, wie wir von einem Bekehrten zu reden gewohnt sind, nicht. Wenn wir sagen: „Der und der ist bekehrt“, so meinen wir damit: er ist ein Mensch, der errettet und sich seiner Errettung und Gotteskindschaft bewusst ist. Aber die Schrift redet nicht so: Bekehrung ist nach der Schrift Umkehr, aber noch nicht bewusste Errettung. Der verlorene Sohn war bekehrt, als er sich aufmachte, um zu seinem Vater zu gehen und zu ihm zu sagen: „Ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr würdig usw.“. Aber er wollte ein „Tagelöhner“ werden. Dass der Vater für ihn war, trotz des hinter ihm liegenden traurigen Lebens, und, wenn er ihn aufnahm, ihn nur als „Sohn“ ins Haus führen konnte, davon hatte er keine Ahnung. Das Bewusstsein der Annahme und der Vergebung seiner Sünden kam ihm erst, als er in den Armen des Vaters lag. So liegt zwischen der Bekehrung oder der Erweckung, wie wir sie zu nennen pflegen, und der Erlangung der Gewissheit des Heils meist (nicht immer) eine kürzere oder längere Übergangszeit. Von dieser Zeit oder richtiger von einem diese Zeit durchlebenden, wahrhaft oder göttlich erweckten, d. h. nicht nur in seinen Gefühlen angefassten, sondern von seinem bisherigen Wege umgekehrten Menschen redet der Apostel. Sobald man das verstanden hat, lösen sich die Hauptschwierigkeiten unseres Kapitels ganz von selbst.
Doch wieder wird man einwenden: Haben denn nicht viele wahre Christen, jüngere und ältere, die ihrer Errettung und Gotteskindschaft völlig gewiss waren, Erfahrungen durchgemacht, wie Römer 7 sie beschreibt? Ist es nicht selbst den meisten von uns so ergangen? Die Frage muss bejaht werden, aber nur aus dem einfachen Grunde, weil infolge der fast unausrottbaren gesetzlichen Neigung unserer Herzen die meisten von uns sich nur auf diesem schmerzlichen Wege belehren lassen. Man weiß und bekennt, dass man in und mit Christo gestorben ist, ist aber trotz alledem nicht befreit, sondern tut, als lebe man noch in dem alten Zustande, und als wäre noch irgend etwas Gutes von dem Fleische zu erwarten. Zugleich lassen sich viele durch die Erwägung leiten, dass so wie Römer 7 auf 5 und 6 folge, so auch die im 7. Kapitel beschriebenen Erfahrungen auf die Rechtfertigung (Kap. 5) und die Befreiung (Kap. 6) folgen müssten. Sie halten das für die in diesen Kapiteln festgelegte und darum göttliche Reihenfolge. Aber diese Folgerung ist falsch. Mit dem 7. Kapitel ist es ähnlich wie mit dem Gesetz selbst, das „daneben einkam“, um einen gewissen Zweck zu erfüllen. Jene Folgerung bringt manche aufrichtige, aber noch nicht in der Wahrheit befestigte Seelen in Verlegenheit. Indem sie nicht so wandeln, wie sie gern möchten und wie Gott es auch mit Recht von ihnen erwartet, fangen sie an zu zweifeln und zu fragen, ob sie nicht Heuchler sind, ob sie sich nicht getäuscht haben und wohl noch gar nicht bekehrt sind. In dem ernsten Verlangen, dass es anders werden möchte, nicht selten auch von anderer Seite belehrt, dass dies der richtige Weg sei, verlassen sie unbewusst den Boden der Gnade und betreten den des Gesetzes, und machen nun alles abhängig von ihrem Tun und von dem, was sie in sich selbst vor Gott sind. Wer die Lehre von Römer 5 und 6 wirklich verstanden hat, wird nicht leicht in die Gefahr kommen, in nutzlosen Anstrengungen sich abzumühen, um aus eigener Kraft eine Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen. Ein solcher weiß, dass der Leib der Sünde abgetan ist, dass die Gnade jetzt herrscht durch Jesum Christum und ihn von dem freigemacht hat, in welchem er einst festgehalten wurde.
Doch noch eins: wir sagten uns schon, dass nur ein Mensch, der in dem schmerzlichen Zustande von Römer 7 war, aber sich nun außerhalb desselben befindet, ihn so, wie es hier geschieht, beschreiben wird. Es ist schon von anderer Seite darauf hingewiesen worden, dass jemand, der noch im Sumpfe steckt, unmöglich mit solcher Ruhe erzählen kann, wie es ihm dabei zumute ist. In dem furchtbaren Gefühl, dass er rettungslos versinkt, kann er nur um Hilfe schreien. Jede Mühe ist umsonst, jede Bewegung verschlimmert seine Lage. Hebt er einen Fuß auf, um auf festen Boden zu gelangen, so sinkt er mit dem anderen nur umso tiefer ein. Sein verzweiflungsvoller Schrei: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten?“ ist darum mehr als verständlich.
Beachten wir hier auch, dass in diesem ganzen Kapitel weder von Gnade die Rede ist, noch von Christo, noch endlich von dem Heiligen Geist, sondern nur von dem Gesetz, von der Kraft der Sünde, von der Ohnmacht und Verderbtheit des Fleisches und von den vergeblichen Anstrengungen, aus der jammervollen Stellung, in der man sich befindet, herauszukommen. Christus wird erst im Schlussverse, nachdem der Verzweiflungsschrei ertönt ist, als die alleinige Zuflucht und Rettung des von dem Gesetz der Sünde und des Todes hoffnungslos Gefangenen eingeführt. Er ist die einzige, aber auch die völlig genügende Antwort auf die Frage: „Wer wird mich retten?“
Doch wir sind dem Gang unseres Kapitels vorausgeeilt. Kehren wir zu den Versen 7–11 zurück: An die ernste Ablehnung des Gedankens, dass das Gesetz Sünde sei, knüpft der Apostel die Worte: „Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch Gesetz. Denn auch von der Lust hätte ich nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: „Lass dich nicht gelüsten“.“ So ist gerade die Vortrefflichkeit des Gesetzes verhängnisvoll für den Sünder. Schon im 3. Kapitel hatte der Apostel gesagt: „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (V. 20). Hier: Die Sünde hätte ich nicht erkannt, von der Lust nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz mir die Augen darüber geöffnet hätte. Durch das Gesetz werden Sünde und Lust in ihrem wahren Charakter erwiesen und erkannt.
Die Sünde wird hier gleichsam personifiziert. Sie erscheint als eine im Fleische wohnende Macht, die Gott und Seinem Gesetz feindlich gegenübersteht. Sie wirkt, und zwar gerade das, was das Gesetz verbietet und weil es dasselbe verbietet. Die Lust ist die im Fleische aufsteigende Neigung oder Begierde. Da es sich hier nicht darum handelt, die Schuld des Menschen festzustellen, sondern seine böse, widerspenstige Natur ans Licht zu bringen, wählt wohl der Heilige Geist das letzte Gebot: „Du sollst nicht begehren“, oder: „Lass dich nicht gelüsten“ als das am meisten geeignete, um das Vorhandensein jenes bösen Grundsatzes, der Sünde im Menschen, zu beweisen. Denn „ohne Gesetz ist die Sünde tot“, aber „durch das Gebot Anlass nehmend, bewirkte sie jede Lust in mir“ (V. 8).
Das Gesetz hat nicht nur die bleibenden Pflichten des Menschen Gott und seinem Nächsten gegenüber festgestellt, sondern ihm auch durch die Forderung: „Lass dich nicht gelüsten“ einen untrüglichen Prüfstein für seinen Zustand in die Hand gegeben. Vor dem Gesetz war die Sünde da, aber sie war tot. Solang ein Mensch nichts tat, was sein natürliches Gewissen ihm verbot, hatte er kein Bewusstsein von ihr, kannte auch den Urteilsspruch des Todes nicht. Ebenso wenig wusste er etwas von dem Vorhandensein der Lust in seinem Innern. Erst durch Gesetz lernte er ihr Vorhandensein und das Verdammliche der Begierden seines Herzens kennen; zugleich aber erfuhr er auch, dass gerade das Gebot das leidenschaftliche Begehren in ihm weckte, das Verbotene zu tun, mit anderen Worten, dass seine Natur böse und eine Quelle des Bösen ist.
Wir verstehen jetzt auch die weiteren Worte des Apostels: „Ich aber – d. i. der Mensch in seinem natürlichen Zustande – lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf“ (V. 9). Anstatt dem Menschen Kraft zu geben, die Lust zu unterdrücken, das Fleisch zu verbessern, deckte das Gesetz nur sein völliges Verderben auf. Was der Mensch bedarf, ist eine neue Natur und ein ihn völlig umwandelnder Gegenstand, aber das Gesetz gibt weder die eine, noch offenbart sie den anderen. Die Gnade tut beides in Christo.
„Ich aber starb. Und das Gebot, das zum Leben gegeben, dasselbe erwies sich mir zum Tode“ (V. 10). Das Gesetz sagte: „Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben.“ (vgl. Gal 3,12) Da ich sie nicht getan habe, im Gegenteil, das Gebot erst recht die Lust in mir geweckt hat, den Begierden meines Fleisches zu folgen, so hat sich das Gesetz für mich als ein Werkzeug des Todes erwiesen. Es hat gerechterweise Tod und Verdammnis über mich gebracht, und mein aufgewachtes Gewissen kann sein Urteil nur bestätigen. „Ich aber starb.“
Welch ein Ergebnis! Wer trägt die Schuld daran? Das Gesetz? Nein, sondern „die Sünde, durch das Gebot Anlass nehmend, täuschte mich und tötete mich durch dasselbe“ (V. 11). So ist das Gesetz wohl, wie vorhin gesagt, ein Werkzeug des Todes für mich geworden, aber die Ursache von allem ist die in mir wohnende Sünde. Sie brachte mir durch das Gesetz den Tod.
Kapitel 7,12–25
Diesen Gedanken führt der Apostel vom 12. Verse bis zum Schluss des Kapitels noch weiter aus, indem er an den praktischen Erfahrungen eines wohl bekehrten, aber noch nicht befreiten Menschen, der das Gute will und das Böse hasst, in ergreifender Weise zeigt, wie das Gesetz sich in Wirklichkeit dem Menschen zum Tode erweist, aber auch wie Gottes Gnade ihm Erlösung und Befreiung bringt.
„So ist also das Gesetz heilig und das Gebot heilig und gerecht und gut“ (V. 12). Das Gesetz steht völlig gerechtfertigt da, alle seine Gebote sind heilig und gut. Nicht an ihm liegt es, wenn es nichts zur Vollendung bringen kann, sondern an der Natur des Menschen, an die es sich wendet.
„Gereichte nun das Gute mir zum Tode? Das sei ferne! sondern die Sünde, auf dass sie als Sünde erschiene, indem sie durch das Gute mir den Tod bewirkte, auf dass die Sünde überaus sündig würde durch das Gebot“ (V. 13). Immer wieder erhebt die Torheit des Menschen ihre Fragen. Nein, der Zweck des Gesetzes war nicht, mich zu töten, so gerecht sein Urteilsspruch über mich lauten mag. Es bezweckte etwas ganz anderes. Wir hörten schon in Kapitel 5,20, dass es „daneben einkam, auf dass die Übertretung überströmend würde“, hier: auf dass die Sünde in ihrem vollen Charakter offenbar würde, dass sie „als Sünde“ erschiene, ja, „überaus sündig würde“ durch das Gebot; denn an und für sich böse, wird sie durch das Tun des Verbotenen zu unmittelbarem Ungehorsam: überaus sündig. Beachten wir immer wieder, dass es sich hier nicht handelt um Tatsünden, sondern um die Sünde als solche, die als ein feststehender Grundsatz in uns wirkt.
Die schmerzliche Wahrheit des Gesagten beweist der Apostel an den vom 14. Verse an beschriebenen praktischen Erfahrungen eines erneuerten Menschen, die ihn zu der niederschmetternden Erkenntnis führen, dass in ihm, d. i. in seinem Fleische, „nichts Gutes wohnt“ (V. 18). Er beschreibt diese Erfahrungen so, wie sie sich ihm darstellen als einem Manne, der, selbst völlig frei, mit Ruhe die Kämpfe einer unter Gesetz stehenden Seele betrachtet, und der diese Kämpfe richtig beurteilen kann, weil er, von Gott belehrt, weiß, was „Gesetz“, „Sünde“ und „Fleisch“ ist. Er beginnt mit den Worten: „Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“ (V. 14).
Von vornherein sei hier auf den großen Unterschied zwischen den Ausdrücken: „Wir wissen“ und „ich bin“ hingewiesen. Das erste ist, kurz gesagt, allgemeine christliche Erkenntnis, das zweite persönliche Erfahrung. Wir, d. i. alle Christen, wissen mit Paulus, dass das Gesetz geistlich ist. Aber was sagt die Erfahrung des einzelnen dazu? Es heißt in unserer Stelle nicht; „Wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist, und dass wir fleischlich sind“, oder: „wir aber sind fleischlich“, sondern: „ich bin fleischlich, unter die Sünde verkauft“. Die einzelne Seele, die sich unter das Gesetz stellt, und zwar nicht nur unter seine unmittelbaren Gebote, sondern auch unter seine Verurteilung der Quellen des Bösen im Herzen, eine solche Seele wird zu der bitteren Erkenntnis geführt, dass sie, obwohl sie die Sünde hasst und Gottes Gesetz liebt, gleich einem Sklaven „unter die Sünde verkauft ist“. Das Gesetz ist geistlich, ich aber bin fleischlich; das Gesetz fordert mich auf: „Lass dich nicht gelüsten!“ und ich liege in solch einer Sklaverei der Sünde, dass das Gebot nur die böse Lust in mir weckt. Welch unversöhnliche Gegensätze! Die Seele erkennt sie rückhaltlos an. Was sie dahin bringt, sind die Erfahrungen, die sie auf dem in den Versen 15–23 beschriebenen Wege macht.
„Denn was ich vollbringe, erkenne ich nicht; denn nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus“ (V. 15). Die Enttäuschung ist groß. Anstatt nach der erfolgten Umkehr Erleichterung, Frieden und Freude zu finden, muss der Arme entdecken, dass in ihm eine Macht wirkt, von der er sich nicht befreien kann, und die ihn hindert, das Gute, das er tun möchte, zu vollbringen. Er stimmt „dem Gesetz bei, dass es recht ist“ (V. 16), indem es das Gute fordert und den verurteilt, der das Böse tut. Aber was nützt ihm diese Erkenntnis, was hilft's, dass er dem Guten beistimmt, wenn er das Gegenteil tut? Sein Wille ist zwar erneuert, er liebt das Gute und macht die größten Anstrengungen, es zu tun, aber er muss erfahren, dass er keine Kraft dazu hat, dass vielmehr die Sünde über ihn herrscht. Er möchte auch die Forderungen des Gesetzes keineswegs schwächen oder einschränken, sie sind ja gerecht, heilig und gut, aber er steht ihnen kraftlos gegenüber. Der Fehler liegt nicht in dem Gesetz, sondern in der Sünde des Menschen.
Nun ist es freilich wahr: wenn ich nach meinem neuen Menschen das Gute tun möchte und doch das Böse tue, so „vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde“ (V. 17); aber was für ein Trost liegt für mich darin? Diese Erkenntnis beweist ja gerade die Größe der Sklaverei, in welcher ich mich befinde: wenn ich selbst auch das Böse nicht mehr ausübe, sondern die in mir wohnende Sünde, so lasse ich mich doch gegen meinen Willen von ihr gebrauchen und vermag mich nicht von ihrer Gewalt freizumachen. Obwohl ich erkenne und bekenne, dass die Sünde überaus böse und hässlich ist, bin ich ihr doch völlig unterworfen. Ich möchte gern Gott dienen und setze alle meine Kräfte ein, um dieses Ziel zu erreichen; aber alle meine guten Vorsätze und Bemühungen scheitern an der unwiderstehlichen Macht der Sünde, die mich in ihren Banden hält. Je aufrichtiger ich es meine, und je ernster meine Anstrengungen sind, umso klarer tritt mein trostloser Zustand ans Licht, umso greller zeigt sich die Hässlichkeit der Sünde und mein hoffnungsloses Verkauftsein unter ihre Macht.
So komme ich auf Grund meiner Erfahrungen zu einem klaren, aber erschreckenden Bewusstsein: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische (als von Adam stammend), nichts Gutes wohnt.“ Denn obwohl ein ernstes, aufrichtiges Wollen bei mir vorhanden ist, „finde ich das Vollbringen dessen, was recht ist, nicht“. Der Wille ist, wie schon mehrfach gesagt, da, aber die Kraft fehlt. „Denn das Gute, das ich will, übe ich nicht aus, sondern das Böse, das ich nicht will, dieses tue ich“ (V. 18. 19). Wenn das aber so ist, „wenn ich dieses, was ich nicht will, ausübe, so vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die in mir wohnende Sünde“ (V. 20). Das im 17. Verse bereits Gesagte hat seine volle Bestätigung gefunden. Der Gläubige hat auf dem Wege der Erfahrung, außer der Wahrheit, dass nichts Gutes in ihm wohnt, und dass er ohne Kraft ist, das Gute zu tun, gelernt, dass er unterscheiden muss zwischen sich als dem erneuerten Menschen, der das Gute will, und der in ihm wohnenden Sünde; mit anderen Worten, dass es zwei Naturen in ihm gibt, zwei „Ich“. Zunächst ist da ein fleischliches „Ich“, das unter die Sünde verkauft ist, und dann ein zweites „Ich“, das nicht sein Fleisch ist, sondern der erneuerte innere Mensch, der die Sünde hasst. Damit ist er zugleich zu der Erkenntnis gekommen, dass nicht dieses zweite „Ich“ das Böse tut, sondern die in ihm wohnende Sünde 1.
Die kostbare Wahrheit, dass er mit Christo gestorben, dass das erste „Ich“ am Kreuze unter das Urteil des Todes gebracht worden ist, nicht kennend oder doch nicht verstehend, hat der Gläubige, in der Hoffnung, doch noch irgend etwas Gutes in seinem Fleische zu finden, nur an Gesetz und an sich selbst gedacht. Die Wörtlein „ich, mir, mich“ kommen in den Versen 7–24 etwa vierzigmal vor, während der Name Christi im 25. Verse zum ersten Mal genannt wird.
Es ist eine große Sache, so schmerzlich es anderseits ist, zu lernen, was das eigene Ich ist, was es heißt, als ein Mensch, der gar keine Kraft besitzt, unter Gesetz zu stehen, und so endlich dahin zu kommen, von dem elenden alten Ich abzublicken, alle eigenen Anstrengungen aufzugeben und das Auge allein auf Christum zu richten. Das ist der gesegnete Prozess, durch den in der letzten Hälfte unseres Kapitels der Gläubige geführt wird, in welchem aber leider, leider so viele teure Kinder Gottes Zeit ihres Lebens stecken bleiben und deshalb nie zu wahrer Freiheit und ungestörten Frieden gelangen. Frieden zu finden auf dem Wege eines allmählichen Fortschritts, so dass man schließlich mit sich selbst zufrieden sein kann, ist unmöglich. Nein, nicht Zufriedenheit mit sich selbst, sondern die Entdeckung, dass man der Befreiung durch das Werk eines anderen bedarf, ist das Ergebnis des Prozesses. Glücklich die Seele, die sich dahin führen lässt! An die Stelle der größten Not, ja, einer hoffnungslosen Verzweiflung tritt selige Ruhe, Freude und jubelnder Dank.
Doch wir müssen uns noch ein wenig eingehender mit dem Inhalt der Verse 21–23 beschäftigen. „Also finde ich das Gesetz für mich, der ich das Rechte ausüben will, dass das Böse bei mir vorhanden ist. Denn ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen; aber ich sehe ein anderes Gesetz (ein Gesetz von anderer Art) in meinen Gliedern.“ Über die verschiedene Bedeutung oder Anwendung des Wortes „Gesetz“ haben wir im Anfang unseres Kapitels schon ausführlich geredet, so dass wir wohl nicht noch einmal darauf zurückzukommen brauchen. Der Gläubige ist also auf dem Wege der Erfahrung zu der Erkenntnis gelangt, dass er unter einem Grundsatz, einer Regel oder Norm steht, die unausweichbar bestimmend für ihn ist, der nämlich, dass bei ihm, der das Gute tun will, das Böse vorhanden ist, dem er trotz aller Kraftanstrengung nicht entrinnen kann.
Er hat Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes und an Seinen heiligen Geboten, ist auch fest entschlossen, sie zu tun, aber er sieht in seinen Gliedern ein anderes Gesetz, das dem Gesetz seines (erneuerten) Sinnes widerstreitet und ihn in Gefangenschaft bringt unter das Gesetz der Sünde, das in seinen Gliedern ist (V. 23).
Immer wieder finden wir bestätigt, dass unser Kapitel nicht von der Schuldfrage redet, sondern von der Sünde als Grundsatz oder Macht, sowie von dem völligen Mangel an Kraft, ihr zu widerstehen. Zugleich aber auch, dass wir nicht einen Menschen in der Finsternis seines natürlichen Zustandes vor uns haben, sondern eine erneuerte Seele, die mit aller Kraft kämpft, um den Sieg über das Böse zu erringen, aber sehen muss, dass alles in hilfloser „Gefangenschaft“ für sie endet (V. 23). Sie muss erkennen, dass in den Gliedern des Menschen, trotzdem er wiedergeboren ist, eine Macht wirkt, der er nicht zu widerstehen vermag, so sehr er sie hasst und sich von ihren Einflüssen freizumachen sucht. Trotzdem macht die Seele Fortschritte, wenn auch die Finsternis um sie her immer dichter zu werden scheint. Mit dem Heißerwerden des Kampfes wächst die innere Erkenntnis, und das Licht dämmert. Aber wie immer, so geht auch hier dem Anbruch des Tages das tiefste Dunkel voraus.
Völlig zu Boden geworfen, keinen Ausweg mehr sehend, macht der Mensch seiner Seelenqual endlich Luft in dem Schrei: „Ich elender Mensch! wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?“ (V. 24). Die Wortstellung im Grundtext gibt hier dem Worte „Mensch“ besonderen Nachdruck. Der elende Zustand des Menschen ist der Seele zum Bewusstsein gekommen. Trotz der Erneuerung seines Willens und der Erkenntnis dessen, was er nach dem Gesetz sein sollte, ist der Gläubige doch nur ein Mensch, das ist ein gefallenes Wesen, mit bösen Lüsten und Begierden, unter die Sünde verkauft und ohne jegliche Kraft, das Böse zu überwinden! Der Ausdruck: „dieser Leib des Todes“ kennzeichnet treffend den hilf- und hoffnungslosen Zustand, in welchem er sich befindet. Aber wenn die Gnade – denn sie ist es, die sich mit dem Armen hier beschäftigt, ohne dass er es ahnt – ihn zu der klaren Erkenntnis dessen gebracht hat, was er ist, überlässt sie ihn nicht sich selbst, sondern vollendet ihr Werk, indem sie seinen Blick von seiner Person ab auf Gott richtet und ihm den Retter zeigt, nach welchem er verzweiflungsvoll ausschaut.
„ Ich danke Gott durch Jesum Christum, unseren Herrn!“ So kommt es mit einem male über die Lippen des eben noch mit Angst und Schrecken Erfüllten. Wie ist diese wunderbare Wandlung bewirkt worden? Durch die einfache, aber so wichtige Tatsache, dass der Mensch nicht mehr auf das blickt, was er für Gott ist, und darin Befriedigung sucht, sondern dass sein Auge sich auf das richtet, was Gott für ihn ist, und zwar was Er für ihn ist durch Jesum Christum! Wie durch einen Schlag ist alles verändert. Nicht dass der Gläubige jetzt wäre, was er gern sein möchte, oder dass fortan jeder Kampf für ihn aufhörte. Keineswegs! Aber anstatt, wie bisher, mit sich selbst beschäftigt zu sein, beschäftigt er sich mit Gott und – dankt!
Wir möchten noch einmal sagen: Welch eine Wandlung! Und wie unmittelbar ist sie erfolgt! Das Herz ist auf die göttliche Liebe hingelenkt, die den eingeborenen Sohn für solch elende Wesen dahingab und die Quelle der Befreiung für sie wurde, der Blick auf das Werk gerichtet, welches die Befreiung vollbracht hat, und damit auf Ihn, den Befreier selbst. Hat der Mensch früher gefragt: Wie kann ich mich bessern? Was kann ich tun, um Gott zu befriedigen und Ruhe für meine Seele zu finden?, so lautet jetzt seine Frage:
Wer wird mich, den Elenden, Kraftlosen, retten? Wer mich befreien von diesem Leibe des Todes? Zusammenbrechend unter der furchtbaren Last der Entdeckung, dass trotz alles Seufzens, Betens, Flehens und Ringens nur Fehler über Fehler, Enttäuschung über Enttäuschung sein Teil waren, gibt er endlich sich selbst als hoffnungslos böse auf und erkennt in Christo Den, der nicht nur seine Schuld getragen hat, sondern auch sein Erretter geworden ist aus dem furchtbaren Todeszustand, in welchem er lag.
Es ist in der Tat eine Rettung, Dessen würdig, der sie vollbracht hat. Aber ist mit ihr das Fleisch in dem Gläubigen verändert oder gar aus ihm entfernt? Trägt er die beiden Naturen, von denen wir hörten, nicht mehr in sich? Es wäre eine verhängnisvolle Täuschung, so etwas zu denken, und der Geist Gottes hat Sorge getragen, uns vor ihr zu bewahren, indem Er den Apostel sogleich die Worte hinzufügen lässt: „Also nun diene ich selbst mit dem Sinne Gottes Gesetz, mit dem Fleische aber der Sünde Gesetz“ (V. 25). Das will selbstverständlich nicht sagen, dass diese beiden Dienste bei dem Gläubigen nun stets nebeneinander herlaufen sollten, dass das sein regelrechter Zustand wäre, sondern vielmehr dass die beiden Naturen mit ihren entsprechenden charakteristischen Neigungen nach wie vor bei ihm vorhanden sind und in ihm bleiben werden bis ans Ende. Im Himmel werden wir die alte Natur (das Fleisch) nicht mehr an uns tragen, wir werden auf immer und ewig von ihr befreit sein; aber solang wir noch in diesem Leibe sind, geht sie mit uns, und so oft wir ihr zu wirken erlauben, „dienen wir mit dem Fleische der Sünde Gesetz.“ Gott sei gepriesen, dass wir in Christo heute schon von ihrer Macht befreit sind und als gestorben mit Ihm nicht länger unter Gesetz stehen! Ja, dass wir mit Petrus sagen können: „Die vergangene Zeit ist uns genug, den Willen der Nationen vollbracht zu haben“; was wir wünschen, ist, die im Fleische noch übrige Zeit dem Willen Gottes zu leben (vgl. 1. Pet 4,1–3).
Da wo göttliches Leben wirkt, kann es nicht anders sein. Das Verlangen der neuen Natur, ihr sehnliches Begehren geht dahin, Gottes Gesetz zu dienen, Seinen Willen zu tun. Und wie schön: das ist es, was der Gläubige jetzt als sein eigentliches Ich anerkennt und anerkennen darf! „Also nun diene ich selbst mit dem Sinne Gottes Gesetz.“ Freilich, der Kampf hört nicht auf. Es wird immer wahr bleiben, dass „das Fleisch wider den Geist gelüstet, und der Geist wider das Fleisch, und dass diese einander entgegengesetzt sind“; wenn wir aber im Geiste wandeln, werden wir die Erfahrung machen dürfen, dass wir die Lust des Fleisches nicht vollbringen. Statt der traurigen Werke des Fleisches wird die liebliche Frucht des Geistes hervorkommen zur Ehre Gottes. Denn „wenn ihr durch den Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter Gesetz“, d. h. nicht in dem traurigen Zustand, der in Römer 7 beschrieben wird; und: „die des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten“ (vgl. Gal 5,16–25).
Von der Kraft, die den Gläubigen nunmehr befähigt, mit seinem Sinne Gottes Gesetz zu dienen, ist in dem Schlussverse unseres Kapitels indes keine Rede. Er macht uns nur mit der Befreiung der Seele aus dem Zustande, in welchem sie lag, bekannt, und beschreibt den völlig veränderten Boden, auf welchen sie durch die Gnade gekommen ist, sowie den Charakter und die Gesinnung der neuen Natur in ihr.
Rufen wir uns zum Schluss noch einmal kurz die Wahrheiten ins Gedächtnis, die wir in diesem interessanten 7. Kapitel gelernt haben:
1. Die Befreiung vom Gesetz durch den Tod (V. 1–6)
2. Die Erkenntnis der Sünde durch das Gesetz (V. 7–13)
3. Den Zustand und die Erfahrungen einer erneuerten, aber noch nicht befreiten Seele unter Gesetz auf ihrem Wege zur Befreiung.
In Verbindung mit Punkt drei haben wir dann noch drei andere wichtige Dinge gelernt:
1. dass in unserem Fleische nichts Gutes wohnt; 2. dass wir unterscheiden müssen zwischen uns selbst, die wir das Gute wollen, und der in uns wohnenden Sünde; 3. dass es in uns, solang wir die Befreiung in Christo nicht im Glauben erfasst haben, keine Kraft gibt, um die Sünde im Fleische zu überwinden, dass wir vielmehr immer wieder durch sie überwunden werden.
Wir könnten als viertes, obwohl es eigentlich schon in der letztgenannten Wahrheit enthalten ist, noch hinzufügen, dass wir selbst uns nicht aus diesem elenden Zustand befreien konnten, sondern durch einen anderen befreit werden mussten.
Fußnoten
- 1 Wenn in unserer Stelle von diesem zweiten „Ich“ die Rede ist, so ist es im Grundtext besonders hervorgehoben, deshalb in der deutschen Übersetzung gesperrt gedruckt. (vgl. V. 17 u. 20.)