Gerechtfertigt aus Glauben
Kapitel 6
In diesem Kapitel leitet der Heilige Geist den Apostel zu der Beantwortung einiger Einwürfe, die seitens des Fleisches oder des Unglaubens angesichts der soeben geschilderten Gnade Gottes erhoben werden konnten, und die uns wiederum die Abgründe des menschlichen Herzens zeigen, zugleich aber auch den Schreiber zur Entwicklung neuer wunderbarer Gedanken führen.
Der erste Einwurf lautet: „Was sollen wir nun sagen? Sollten wir in der Sünde verharren, auf dass die Gnade überströme?“ (V. 1) Was? Ist das die Folgerung, die wir aus dem Evangelium Gottes ziehen sollen? Sollten wir Sünde auf Sünde häufen, damit die Gnade in deren Vergebung sich nur umso reicher entfalten könne? Wir antworten entrüstet mit dem Apostel: „Das sei ferne!“ Was würden wir von einem Sohne sagen, der immer rücksichtsloser die Gebote seiner Eltern übertreten und ihre Herzen verwunden wollte, um ihnen dadurch Gelegenheit zu geben, ihm immer mehr zu vergeben! Welch eine Bosheit und Verhärtung würde das offenbaren! Doch die Frage des Apostels beweist, dass eine solche Entartung dem Menschenherzen nicht fremd ist. O wer könnte die Tiefen dieses Herzens kennen, wer seine Arglist verstehen!?
Indes gründet der Apostel die Beantwortung der Frage nicht auf die offenbare Gottlosigkeit eines solchen Grundsatzes; er führt uns vielmehr zu dem Ausgangspunkt des Weges eines jeden Menschen, der sich zu Christo bekennt, indem er die Gegenfrage stellt: „Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie sollen wir noch in derselben leben?“ (V. 2) Der Christ, der einst in der Sünde lebte, hat in dem Tode Christi weit mehr gefunden, als nur die Vergebung seiner Sünden und Übertretungen. Er ist mit Christo gestorben und damit aus der alten Stellung, in welcher er sich befand, ein für allemal herausgenommen worden. Er ist „der Sünde gestorben“ und steht fortan nicht mehr unter ihrer Herrschaft. Indem Christus am Kreuze für ihn zur Sünde gemacht wurde, ist mit dem alten Menschen, der sich als unveränderlich schlecht erwiesen hat, für immer ein Ende gemacht worden, und ein neuer Mensch, eine neue Schöpfung, ist ans Licht getreten, ein völlig neues Leben ist geoffenbart und dem Glaubenden geschenkt worden. Wie sollte, wie könnte er nun noch in der Sünde verharren, die ihn für ewig von Gott getrennt hätte, und die seinem Herrn und Heiland den Tod gebracht hat? Wie unfassbar und jedem sittlichen Gefühl hohnsprechend wäre ein solches Tun!
Zudem hatten die Gläubigen zu Rom ja schon durch ihre Taufe bekannt, dass sie mit dem Tode Christi einsgemacht worden waren. „Oder wisset ihr nicht, – mit anderen Worten: seid ihr so unbekannt mit der sinnbildlichen Bedeutung der Taufe? – dass wir, so viele auf Christum Jesum getauft worden, auf seinen Tod getauft worden sind?“ (V. 3) Die Taufe, die am Anfang des Weges eines jeden Gläubigen liegt, ist nicht nur das Zeugnis von dem für uns erfolgten Tode Christi, sondern auch von unserem Gestorbensein mit Ihm. Indem der Täufling in das Wasser hinabgesenkt wird, verschwindet er (im Bilde) nach seiner alten Natur; er wird gleichsam begraben, um als ein neuer Mensch aus dem Wasser wieder heraufzusteigen. „So sind wir nun mit ihm begraben worden durch die Taufe auf den Tod, auf dass, gleichwie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, also auch wir in Neuheit des Lebens wandeln“ (V. 4). Der Christ ist nicht mit einem auf Erden lebenden Christus in Verbindung gebracht worden – eine solche Verbindung war infolge seines hoffnungslosen Zustandes unmöglich (vgl. Joh 12,24) – auch setzt er seine Hoffnung nicht, wie der Jude, auf einen kommenden, auf Erden regierenden Messias; er bekennt im Gegenteil in der Taufe zugleich mit dem Tode Christi seinen eigenen Tod, das Ende seines hoffnungslosen Zustandes im Fleische, um fortan, gleichwie Christus nicht im Grabe geblieben, sondern aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, als ein mit Ihm auferstandener Mensch in Neuheit des Lebens zu wandeln.
Wiederum müssen wir sagen: Die Belehrung des Apostels ist einfach und von unwiderstehlicher Beweiskraft, und doch, welch törichte Dinge sind im Laufe der Jahrhunderte in Verbindung mit der Taufe gelehrt worden! Wie bedeutungsvoll ist diese Handlung, und wie ernst die aus ihr hervorgehende Folgerung für alle, die sich einfältig durch den Geist Gottes belehren lassen! Der Christ ist nicht berufen, allmählich der Sünde abzusterben und so nach und nach in eine neue Stellung der Heiligkeit hineinzuwachsen; nein, der Ausgangspunkt seines Weges und Lebens ist die Tatsache, dass er mit Christo gestorben ist und sich nun in Ihm, dem Auferstandenen, in einer ganz neuen Stellung vor Gott befindet. Und diese Tatsache wird in der Taufe bezeugt. Ein gestorbener Christus ist das Ende des alten Verhältnisses; der alte Mensch ist für immer gerichtet, und ein auferstandener Christus ist jetzt das Leben und die Gerechtigkeit des Gläubigen vor Gott.
Ganz naturgemäß und folgerichtig ergibt sich daraus ein Wandel in Neuheit des Lebens. Der Apostel sagt nicht, dass wir in Neuheit des Lebens wandeln müssen oder sollen, mit anderen Worten, er stellt uns nicht wieder unter ein Gebot, sondern betont nur die völlig veränderte Sachlage: „auf dass wir in Neuheit des Lebens wandeln“. Dass es in diesem Wandel ein Wachstum, ein praktisches Fortschreiten gibt, entsprechend der Treue des einzelnen, braucht kaum betont zu werden. Aber von diesem Teil der Wahrheit wird hier nicht gesprochen. Andere Stellen belehren uns ausführlich darüber.
Der Ausdruck „durch die Herrlichkeit des Vaters“ bedarf noch einer kurzen Erklärung. Er bedeutet wohl nicht einfach, dass Gott sich in der Auferweckung Jesu verherrlicht habe. Es ist der Vater, der als dem Sohne gegenüber handelnd hier eingeführt wird. Der Vater war, in aller Ehrfurcht sei es gesagt, es Seiner eigenen Herrlichkeit schuldig, den Sohn, der Ihn in allem verherrlicht hatte, nach vollendetem Werke aus den Toten aufzuerwecken. Alle die Ratschlüsse des Vaterherzens standen und stehen ja in Verbindung mit diesem Werke, und so kam gleichsam alles, was in Ihm ist, in dieser Verherrlichung Seines Sohnes zur Auswirkung.
Beachten wir indes, dass der Römerbrief das Auferwecktsein des Gläubigen mit Christo nicht als eine vollendete Tatsache betrachtet, sondern aus dem Gestorbensein mit Ihm nur die entsprechende Folgerung zieht: „Denn wenn wir mit ihm einsgemacht worden sind in der Gleichheit seines Todes, so werden wir es auch in der seiner Auferstehung sein“ (V. 5). Es findet dies wohl seine Erklärung darin, dass der Heilige Geist die Gläubigen in diesem Briefe als auf der Erde lebende Menschen betrachtet, nicht, wie z. B. im Epheserbrief, als in Christo in den Himmel mitversetzt. Nur der erste Teil der kostbaren Wahrheit von unserer Vereinigung mit Christo in Tod und Auferstehung wird hier entwickelt, der zweite nur gefolgert. Wenn wir teilhaben an dem Tode Christi, muss auch das daraus hervorgegangene Leben unser sein. Unser altes Ich ist tot, unser neues Ich ist Christus. Darum ist es nur folgerichtig für uns, in Neuheit des Lebens zu wandeln; als begraben mit Christo in der Taufe, geziemt es uns, nicht mehr uns selbst, sondern Gott zu leben, „indem wir dieses wissen 1, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist, auf dass der Leib der Sünde – unser ganzer früherer Zustand – abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen“ (V. 6).
Der natürliche Mensch dient der Sünde, das ist sein Wesen, seine Art; des Gläubigen Wesensart ist, der Sünde nicht zu dienen. „Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde“ (V. 7). Für einen Gestorbenen kann ein Sündigen nicht mehr in Frage kommen, er ist ja tot! Das ist die überaus wichtige Lehre, welche der Heilige Geist hier den Gläubigen gibt, eine Lehre allerdings – und das wird so wenig verstanden – die genau so im Glauben erfasst werden muss, wie die Wahrheit von der Errettung. Es handelt sich dabei um eine Tatsache, die sich außer uns vollzogen hat, um eine Befreiung, die dem Glaubenden von Gott ebenso bestimmt bezeugt wird wie die Vergebung seiner Sünden. Unsere praktischen Erfahrungen scheinen ihr freilich fortwährend zu widersprechen, sie stimmt aber mit der Weisheit und Heiligkeit Gottes ebenso überein, wie sie den einstigen Sklaven der Sünde die Gnade darreicht, fortan den heiligen Willen Gottes zu tun.
Im 8. Verse wird die Schlussfolgerung, die wir bisher behandelten, auf die Zukunft ausgedehnt.
Auch unsere Leiber werden an der Auferstehung aus den Toten teilhaben. „Wenn wir aber mit Christo gestorben sind, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, da wir wissen, dass Christus, aus den Toten auf erweckt, nicht mehr stirbt; der Tod herrscht nicht mehr über ihn.“ Indem wir auf Grund der innersten Überzeugung unserer Seelen wissen (vgl. Fußnote 1), dass Christus, einmal aus den Toten auferweckt, aus der Macht des Todes für immer herausgetreten ist, sie besiegt hat, haben wir die volle Glaubensgewissheit, dass wir auch mit Ihm leben werden. Dieses Auferstehungsleben, das jetzt schon seinen Ausdruck findet in einem neuen Wandel, der sich – wenn auch selbstverständlich immer unvollkommen – dem Wandel Christi gemäß gestaltet, wird erst vollendet sein in der Herrlichkeit, wenn wir „nach Leib, Seele und Geist tadellos“ vor Gott stehen werden.
Einen Augenblick schien freilich der Tod unseren Herrn und Heiland in seiner Gewalt zu haben. Sollte Gott verherrlicht, die Sünde gerichtet, Satans Macht zerstört und unsere Befreiung zur Tatsache werden, so musste Er in Tod und Grab hinabsteigen. Aber „was (nicht „dass“) er gestorben ist, ist er ein für allemal der Sünde gestorben, was er aber lebt, lebt er Gott“ (V. 10). Schien Satan auch für eine kurze Zeit zu triumphieren, der Sieg ist ein für allemal auf Seiten unseres Herrn. Aus den Toten auferweckt, stirbt Christus nicht mehr, der Tod herrscht nicht mehr über Ihn, und wir ernten die Frucht Seines Sieges.
Aber ach! was hat dieser Sieg Ihn gekostet! Wie erschütternd ist der Gedanke, dass der vollkommen Sündlose und Heilige, indem Er unsere Sache in Seine Hand nahm, auch voll und ganz an unsere Stelle treten, zur Sünde gemacht werden musste! Nicht dass Er persönlich je etwas anderes hätte werden können, als was Er war; aber indem Er sich freiwillig in Gnade für uns verantwortlich machte, musste Er seitens des göttlichen Richters so behandelt werden, als wäre Er in demselben Zustand gewesen, in welchem wir von Natur uns befinden, als Sünde. Das war das Furchtbare, das in Gethsemane vor Seine heilige Seele trat: Er musste als unser Stellvertreter der Sünde sterben, den Tod in seiner ganzen Schrecklichkeit als Sold der Sünde schmecken.
Gott sei gepriesen! das große Werk ist vollbracht. Der einmal um unsertwillen von Gott Verlassene thront jetzt verherrlicht zur Rechten Gottes. „Was er aber lebt, lebt er Gott“, und wir dürfen frohlockend sagen, dass wir mit Ihm teilhaben an diesem Leben. Auf Grund dessen kann der Apostel uns auch zurufen: „Also auch ihr, haltet euch der Sünde für tot, Gott aber lebend in Christo Jesu“ (V. 11). Wir würden, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein schweres Unrecht an dem Tode und der Auferstehung unseres Herrn begehen, wenn wir uns nicht in Ihm der Sünde für tot, Gott aber in Ihm lebend betrachten würden. Wir sind nicht nur berechtigt, sondern auch berufen, das zu tun und in der gläubigen Verwirklichung dieser Wahrheit zu wandeln. Ach, wenn die Kinder Gottes diese Wahrheit nur mehr im Glauben erfassen und ihre befreiende Kraft im Leben und Wandel erfahren möchten! Wie würde es Gott verherrlichen, Seinen Sohn ehren und ihre eigenen Herzen mit Dank und Freude erfüllen! Wer diese Wahrheit wirklich verstanden hat und darin wandelt, ist ein glücklicher, befreiter Christ, der die nunmehr folgende Ermahnung des Apostels dankbar begrüßt und eine innige Befriedigung darin findet, sie in all seinem Denken und Tun zur praktischen Wirklichkeit werden zu lassen.
„So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe, um seinen Lüsten zu gehorchen; stellet auch nicht eure Glieder der Sünde dar zu Werkzeugen der Ungerechtigkeit, sondern stellet euch selbst Gott dar als Lebende aus den Toten, und eure Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit“ (V. 12+13).
Betonen wir noch einmal, dass der Christ nicht der Sünde noch sterben muss, sondern dass er ihr, als mit Christo gekreuzigt, gestorben ist. Er ist nicht von einzelnen Sünden oder bösen Neigungen befreit, sondern der ganze alte Mensch ist beseitigt, am Kreuze gerichtet. Beachten wir aber zugleich, dass dieses Gestorbensein mit Christo nicht etwa die Entfernung der alten Natur, des alten Menschen, aus uns zur Folge hat. Die Sünde ist und bleibt in uns, solang wir in diesem Leibe wallen. „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die Überschwänglichkeit der Kraft sei Gottes und nicht aus uns“ (2. Kor 4,7). Wenn es anders wäre, brauchte uns nicht gesagt zu werden: „Haltet euch der Sünde für tot“, oder: „So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe“. Aber obwohl die Sünde noch in uns ist, sind wir nicht mehr ihrer Herrschaft unterworfen, ihre Kraft ist gebrochen. Ein Christ kann sündigen, aber er muss nicht sündigen; er ist nicht gezwungen, auch nur einen unreinen Gedanken zu haben. Er wird sündigen, wenn er nicht wachsam ist, wenn aber das neue Leben und die Kraft des Heiligen Geistes in ihm wirken, braucht er der alten Natur in keiner Weise mehr zu dienen, nicht einmal, wie gesagt, in Gedanken.
Welch eine Befreiung! Aber erinnern wir uns noch einmal daran, dass sie nur im Glauben erfasst und in heiliger Furcht verwirklicht werden kann. Doch wie gut: derselbe Mensch, der einst das Licht hasste, liebt es jetzt! Von seinem alten Herrn befreit, ist der Christ nicht nur fähig, sondern auch frei, sich einem neuen Herrn zu widmen. Und wen wird er wählen, wem sich widmen? Er sagt: „Die vergangene Zeit ist mir genug, den Willen des Fleisches getan zu haben.“ (vgl. 1. Pet 4,3) An Satans Stelle ist Gott getreten, an die Stelle der Sünde die Gerechtigkeit. Früher ein Sklave Satans, ein williger Diener der Lüste seines sterblichen Leibes, kann er jetzt sich selbst Gott darstellen als ein aus den Toten Lebendiggemachter, und seine Glieder: Auge, Ohr, Zunge, Hand, Fuß usw., die er früher als Werkzeuge der Ungerechtigkeit benutzte, darf er jetzt als Werkzeuge der Gerechtigkeit mit Freuden in Gottes Dienst stellen. Wunderbarer Wechsel! Wir verstehen freilich, dass geradeso wie nur die Macht der Gnade ihn herbeiführen konnte, auch nur die Gnade uns praktisch in der Verwirklichung der neuen Stellung erhalten und wachsen lassen kann. Aber diese Gnade ist für uns da, und wir dürfen täglich, stündlich aus ihrer Fülle nehmen.
Beachten wir indes, dass die hier (wie bei vielen anderen ähnlichen Ermahnungen) gebrauchte griechische Zeitform des Wortes „stellet dar“ im zweiten Falle nicht ein gegenwärtiges, gewöhnliches Tun, sondern eine geschehene, aber in ihrer Wirkung fortdauernde Tatsache andeutet. Das will sagen: es handelt sich nicht, wie man im allgemeinen so gern meint, um eine allmählich fortschreitende Verbesserung oder Veredlung der menschlichen Natur, sondern darum, dass wir in einer einmaligen, aber in ihrer Bedeutung stets fest gehaltenen Handlung uns selbst Gott übergeben haben als Lebende aus den Toten, und unsere Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: Jene Tatsache ist der Boden, auf den wir in Christo gebracht sind, und den wir unausgesetzt im Glauben einzunehmen und zu bewahren haben. „Denn“, fährt der Apostel fort, „die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (V. 14). Gott sei Dank für dieses Wort, besonders am Schluss eines Abschnittes, der so ernst vor einem Missbrauch der Güte Gottes und der Freiheit des Christen warnt!
Unserem menschlichen Denken und Empfinden würde es freilich mehr entsprechen, wenn der Apostel an dieser Stelle von dem ganzen Ernst der heiligen Gebote Gottes reden würde. Aber nein, so wie Gnade allein errettet, so gibt auch Gnade allein Kraft zu einem Gottes würdigen Wandel. Das Gesetz gibt weder Leben noch Kraft. In 1. Korinther 15,56 wird es gar „die Kraft der Sünde“ genannt, weil es bekanntlich gerade durch seine Verbote die Lüste und Leidenschaften des Fleisches anreizt. Wären wir unter Gesetz gestellt, so würde die Sünde nach wie vor ihre Herrschaft über uns ausüben; aber Gott sei gepriesen! wir sind unter Gnade. Darum kann uns zugerufen werden: „So herrsche denn nicht die Sünde in eurem sterblichen Leibe“, und das herrliche Trostwort folgen: „Die Sünde wird nicht über euch herrschen.“ Dieselbe Gnade, die uns von der Sünde freigemacht hat, gibt uns Kraft, nicht mehr den Lüsten des Fleisches zu dienen, sondern fortan in Neuheit des Lebens zu wandeln. Der Christ ist frei, sich Gott hinzugeben und Ihm zu dienen. Das ist die einfache und kostbare, aber vielfach leider so wenig verstandene und beachtete Belehrung des Wortes an dieser Stelle.
Doch man wendet ein; „Was nun? sollten wir sündigen, weil wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade sind?“ (V. 15). Der Apostel antwortet wieder zunächst mit seinem entschiedenen „Das sei ferne!“ Aber dann widerlegt er den Einwurf, nicht, wie bei der ersten Frage (V. 1), durch den Hinweis auf unser Gestorbensein mit Christo, sondern dadurch, dass er zeigt, welch eine böse, niedrige Gesinnung eine solche Handlungsweise verraten würde. „Wisset ihr nicht, dass, wem ihr euch darstellet als Sklaven zum Gehorsam, ihr dessen Sklaven seid, dem ihr gehorchet? entweder der Sünde zum Tode, oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit?“ (V. 16). Es gibt für den Christen nur ein ernstes Entweder-oder, keinen Vergleich, keinen Mittelweg. Einst ein Sklave der Sünde, ist er jetzt berufen, festzustehen in der Freiheit, zu welcher Christus ihn berufen, dem Beispiel zu folgen, das sein Herr ihm hinterlassen hat. Ein dankbares Herz begrüßt das auch mit Freuden, die Liebe wünscht es nicht anders. Aus der Sklaverei der Sünde, die zum Tode führte, befreit, nennt der Christ sich jetzt mit Lust einen Sklaven Jesu Christi, oder, wie der Apostel es hier ausdrückt, „des Gehorsams zur Gerechtigkeit“. Welch ein Leben, welch ein Ertrag desselben! Es ist genau das, was wir in Vollkommenheit bei unserem geliebten Herrn, dem wahren und einzig vollkommenen Diener, erblicken. So unvollkommen alles bei uns bleiben mag, Seinem Vorbilde folgend gehorchen wir, damit praktische Gerechtigkeit, ein Wandel dem Willen Gottes entsprechend, daraus hervorkomme.
Freudig stimmen wir deshalb ein in den Ausruf: „Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bilde der Lehre, welchem ihr übergeben worden seid!“ (V. 17). Wir sind in unserer neuen Stellung nicht auf uns selbst angewiesen. Als Geschöpfe können wir niemals unabhängig sein, uns nicht selbst genügen; wir bedürfen eines Gegenstandes, nach dem wir uns bilden, eines Vorbildes, dem wir nacheifern können. Dieser Gegenstand, dieses Vorbild ist Christus, so wie Gott sich in Ihm geoffenbart hat, samt allem, was uns in Ihm geschenkt ist. Der Heilige Geist, durch den wir mittelst des Wortes wiedergezeugt sind, ist allezeit bemüht, Christum vor unsere Blicke zu stellen, indem Er uns zugleich die Dinge genießen lässt, die Er uns im Worte mitgeteilt hat. So Christum anschauend und das Begehren im Herzen tragend, dem Bilde der christlichen Lehre, dem wir übergeben worden sind, zu gehorchen, wird Geist und Gesinnung, der ganze Mensch, diesem im Worte uns gegebenen Bilde gemäß umgewandelt und gestaltet.
„Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden. Ich rede menschlich wegen, der Schwachheit eures Fleisches“ (V. 18+19). Der Herr sagt: „Niemand kann zwei Herren dienen.“ So ist es auch in diesem Falle. Von dem ersten Herrn freigemacht, sind wir mit dem zweiten in ein nie wieder zu lösendes Verhältnis getreten. Was das Gesetz, wie schon so oft betont, nicht zu tun vermochte, das tut die Gnade, indem sie in dem praktischen Leben des Christen das hervorbringt, was in Christo in Vollkommenheit gesehen wird. Obwohl völlig frei, ist der Gläubige doch ein williger Knecht Christi, ein gleichsam mit Leib und Seele der Gerechtigkeit verschriebener Mensch. Anstatt die Freiheit, zu der er gebracht ist, zu missbrauchen, benutzt er sie, um gerade das (und mehr) zu tun, was das Gesetz mit allen seinen Drohungen und Verheißungen nicht hervorzubringen vermochte.
Hat er einst seine Glieder dargestellt zur Sklaverei der Unreinigkeit und Gesetzlosigkeit zur Gesetzlosigkeit, so stellt er sie jetzt dar zur Sklaverei der Gerechtigkeit zur Heiligkeit (V. 19). Der Apostel redet menschlich oder nach Menschenweise, wenn er so spricht, um des schwachen geistlichen Zustandes und Verständnisses der Römer willen. Würden sie vielleicht doch noch falsche Schlüsse aus seinen Belehrungen gezogen haben, wenn er sie nicht so eindringlich an ihre heilige und unverbrüchliche Verpflichtung zu einem heiligen Wandel erinnert hätte? Sie waren Freie und doch Gebundene, freigemacht von der Sünde, nicht aber um jetzt zu tun, was ihnen beliebte, sondern in heiliger Unterwürfigkeit und Furcht der Gerechtigkeit zu dienen. In beiden Zuständen gibt es ein Ziel, ein Wachstum. Das Ziel des einen war stets zunehmende Gesetzlosigkeit, Trennung von Gott in Hochmut und Eigenwille; das des anderen ist wachsende Heiligkeit, Absonderung für Gott in Demut und Gehorsam. Der natürliche Mensch liebt das Böse und hasst das Licht, der geistliche hasst das Böse und liebt das Licht.
„Denn als ihr Sklaven der Sünde wart, da wart ihr Freie von der Gerechtigkeit. Welche Frucht hattet ihr denn damals von den Dingen, deren ihr euch jetzt schämet? denn das Ende derselben ist der Tod“ (V. 20. 21). Die Sklaverei, in welcher die Gläubigen sich einst befanden, hatte jeden Dienst der Gerechtigkeit, ja, jegliche Beziehung zu ihr völlig ausgeschlossen. Und welche Frucht hatten sie damals von ihrem Tun gehabt? Was hatten die Dinge, die sie getrieben hatten, ihnen eingetragen? Nichts als Beschämung und Trauer. Und das Ende derselben war der Tod!
Fürwahr, wenn es Beweggründe zu einem Wandel in Heiligkeit gibt, dann sind sie hier mit bewunderungswürdiger Kraft und Weisheit zusammengestellt. Konnten die Gläubigen in Rom sich ihnen entziehen? Wollten sie, nachdem die Gnade sie um einen so hohen Preis aus ihrem früheren Zustande befreit hatte, wieder zu dem alten Leben mit seinen beschämenden Begleiterscheinungen und seinem furchtbaren Ende zurückkehren, sich wieder unter die Herrschaft der Sünde begeben? Unmöglich! Nein, „von der Sünde freigemacht und Gottes Sklaven geworden“, hatten sie jetzt ihre „Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben“ (V. 22).
„Gottes Sklaven geworden“, damit erreicht der Apostel wohl den Höhepunkt seiner Belehrung an dieser Stelle. Wir sind nicht nur dahin gebracht, die Gerechtigkeit zu lieben und ihr nachzustreben, sondern sind zu Gott selbst in die nächsten Beziehungen getreten. Ihm dürfen und sollen wir unverkürzt alle Kräfte des Leibes und der Seele weihen. Nicht eine Reihe von Geboten ist uns als Richtschnur für unser Handeln gegeben, nein, wir sind Ihm selbst unterworfen, wie Er sich in Seinem ganzen Worte geoffenbart hat, Ihm, dessen wohlgefälligen Willen wir durch Seinen Geist immer klarer zu verstehen und durch die Gnade zu tun lernen. So ist der Bereich, in welchem wir unseren Gehorsam offenbaren können, ohne Schranken und Grenzen, und indem wir in ihm wandeln, haben wir „unsere Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben“.
Seliger Wechsel! Einst kennzeichneten uns die finsteren Werke des Fleisches, heute dürfen wir die Frucht des Geistes bringen, lauter liebliche Dinge, wider die es kein Gesetz gibt. (Lies Gal 5,19–23.) Früher hatten wir keine Frucht, nur böse Gedanken, Worte und Werke, jetzt Frucht zur Ehre Gottes und zum Wachstum in der Heiligkeit. Als aus Gott geboren, sind wir unserer Stellung nach geheiligt durch das Opfer Jesu Christi, durch das Wort Gottes und durch die Innewohnung des Heiligen Geistes. Wir können deshalb „Heilige und Geliebte“ genannt werden. Aber wir bedürfen praktischerweise der Heiligung. Sie geschieht dadurch, dass wir unsere Herzen von Ihm erfüllen lassen, der das ganze Herz des Vaters ausfüllt, weil Er allezeit, bis zum Tode am Kreuze, das vor Gott Wohlgefällige tat.
„Gottes Sklaven!“ O möchten wir das Wort immer besser verstehen und verwirklichen lernen, damit unsere Frucht wachse, und dass wir auf dem Wege zur Herrlichkeit mehr und mehr in das Bild Dessen verwandelt werden, der selbst einst hienieden gewandelt und den Vater verherrlicht hat, und den wir mit aufgedecktem Angesicht jetzt droben anschauen in Seiner Herrlichkeit (2. Kor 3,18)!
„Als das Ende aber ewiges Leben.“ Das kostbare Ziel eines so gesegneten Pfades, die Krone, die unser wartet, ist diese Herrlichkeit selbst. Bald wird auch unser Leib, das „irdene Gefäß“, Seinem Leibe der Herrlichkeit gleichgestaltet werden, und wir werden dann voll und ganz, von Ewigkeit zu Ewigkeit, das Bild Dessen tragen, der uns geliebt und das ewige Leben für uns erworben hat (Kap. 8,29).
„Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christo Jesu, unserem Herrn“ (V. 23). Damit schließt der Schreiber seine wunderbaren Gedankengänge. Mit einem Wort stellt er noch einmal die Ergebnisse auf des Menschen und auf Gottes Seite vor unsere Blicke. Wir hatten den Tod verdient, als traurigen Lohn für traurige Arbeit; die Gnade hat uns das ewige Leben, Gottes freie, unverdiente Gabe, durch Jesum Christum, unseren Herrn, geschenkt. Wir besitzen es heute schon „im Sohne“. In Ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und wer den Sohn hat, hat das Leben. Anders wären wir völlig unfähig, mit Gott Gemeinschaft zu haben. Aber ewiges Leben bedeutet im Ratschluss Gottes noch mehr als das. Es ist vollkommene Gleichheit mit dem droben verherrlichten Menschensohne. Dort wird dieses Leben bald in Herrlichkeit völlig geoffenbart werden.
Das also liegt vor uns! „Die Gnadengabe Gottes ist ewiges Leben in Christo Jesu, unserem Herrn.“
Fußnoten
- 1 Das griechische Wort für „wissen“ ist hier ein anderes als in Vers 9. Während es sich dort um ein auf inneres Erkennen gegründetes Wissen handelt, ist es hier nur ein aus Belehrung hervorgehendes Wissen, das Kennen einer außer uns geschehenen Tatsache.