Gerechtfertigt aus Glauben
Kapitel 3
Kapitel 3,1–20
Wenn Gott aber so ernst nach Wirklichkeit verlangt und jede äußere Form verwirft, war es dann nicht besser, ein unbeschnittener Heide zu sein, dessen Verantwortlichkeit doch ungleich geringer war, als die eines Juden? Ganz von selbst entsteht so die Frage: „Was ist nun der Vorteil des Juden? oder was der Nutzen der Beschneidung?“ Der Apostel antwortet: „Viel, in jeder Hinsicht. Denn zuerst sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden“ (V. 2). An anderer Stelle (Kap. 9,4+5) zählt er noch eine Reihe von weiteren Vorzügen des Juden auf, hier nennt er nur diesen einen, und zwar den hervorragendsten: sie besaßen das geschriebene Wort Gottes. Keinem anderen Volke auf Erden hatte Gott sich in solch unmittelbarer Weise geoffenbart wie Seinem Volke Israel.
Nur ihnen, den Nachkommen Abrahams, der einst durch die Beschneidung von allen anderen Menschen abgesondert worden war, hatte Er Sein gutes Wort gegeben. Aber wie hatten sie diesen Vorzug benutzt?
Israel hatte die Güte Gottes mit Füßen getreten. Es handelt sich hier nicht um die Frage, wie viele oder wenige von dem Volke persönlich bekehrt waren, sondern um die Vorrechte, die Israel als das Eigentumsvolk Gottes vor allen anderen Völkern besaß, und um die Frage, welchen Gebrauch es von diesen Vorrechten gemacht hatte. Nun, die Antwort war bekannt genug: Israel war untreu gewesen. Aber würde seine Untreue die Treue Gottes aufheben und die göttlichen Aussprüche ungültig machen? „Das sei ferne!“, erwidert der Apostel. „Gott aber sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner!“ Gott steht unverbrüchlich zu Seinem Wort. Er wird Seine Verheißungen erfüllen, wenn auch Israel durch seine Untreue alle Ansprüche daran verloren hat. Diesen Punkt verfolgt der Apostel hier aber nicht weiter, sondern kommt erst im 11. Kapitel ausführlich darauf zurück.
Gleichwie Gott aber Seine Verheißungen wahr macht, so hält Er auch Sein Urteil über die Sünde aufrecht. Schon David hatte nach seinem schweren Fall seine einzige Hilfsquelle darin gefunden, dass er seine Sünde rückhaltlos bekannt und Gott gerechtfertigt hatte, mochte es ihn selbst kosten, was es wolle. Er sagt: „Ich habe getan, was böse ist in deinen Augen, damit du gerechtfertigt werdest in deinen Worten, und überwindest, wenn du gerichtet wirst“ (V. 4; Ps 51,4). Wie könnte auch jemals in Gottes Reden oder Richten ein Fehler gefunden werden? Am Ende wird alles zu Seiner Verherrlichung und zur Beschämung des Menschen ausschlagen. Gott wird in jeder Beziehung als „Überwinder“ dastehen.
Aber – wir werden diesem „Aber“, das der Menschengeist Gottes Aussprüchen gegenüber immer wieder erhebt, in unserem Briefe noch oft begegnen – wenn des Menschen Untreue die unfehlbare Treue und Wahrhaftigkeit Gottes nur umso glänzender hervortreten lässt, „wenn unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was wollen wir sagen?“ Ist Gott dann nicht ungerecht, wenn Er an denen Gericht übt, die durch ihr Tun Seine Treue in ein umso herrlicheres Licht stellen? Der Apostel sagt, dass er „nach Menschenweise“ rede, d. h. so wie Menschen in ihrer Unwissenheit unüberlegt sprechen und urteilen. Aber wieder antwortet er: „Das sei ferne!“ Denn wenn dieser Einwurf berechtigt wäre, dann könnte Gott überhaupt niemand richten, auch die Heiden nicht (V. 6). Dass Gott aber der gerechte Richter der ganzen Erde sei, hatte schon Abraham ausgesprochen (1.Mose 18,25), und die Juden waren durchaus der Meinung, dass die Gottlosigkeiten der Heiden Gericht verdienten.
Wie töricht und sinnlos also ist der Schluss, dass infolge der Tatsache, dass durch die Untreue des Menschen Gottes Treue sich umso herrlicher erweist, die Sünde und Schuld des Menschen geringer werde, Gott sich gar gehindert sehe, als Richter der ganzen Erde Recht zu üben! Mit anderen Worten: dass Gott den Sünder nicht bestrafen dürfe, sondern gar noch belohnen müsse, weil seine Lüge die Wahrhaftigkeit Gottes umso mehr ans Licht stellt. Nein, Gott bleibt stets treu, unveränderlich derselbe, „Er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2.Tim 2,13). Seine Verheißungen wie Seine Gerichtsandrohungen werden unausbleiblich in Erfüllung gehen. Trotz aller Einwendungen des Menschen werden Juden wie Heiden dem Gericht des heiligen Gottes verfallen.
Schließlich fragt der Apostel noch einmal: „Denn wenn die Wahrheit Gottes durch meine Lüge überströmender geworden ist zu seiner Herrlichkeit, warum werde ich auch noch als Sünder gerichtet?“ Aber er überlässt jetzt die Antwort den Hörern oder Lesern. Ein natürlich aufrichtiges Gewissen kann bezüglich der Antwort auch nicht in Verlegenheit kommen. Könnten, selbst in menschlichen Beziehungen, die vielleicht günstigen Folgen eines Vergehens den Täter von Schuld und Strafe befreien, oder das Vergehen selbst gar in etwas Lobenswertes verwandeln? Dieser ganz widersinnige Gedanke erinnert den Apostel dann an den bösen Grundsatz, der den Gläubigen von ihren Feinden in den Mund gelegt wurde. Man sagte nämlich, dass sie sprächen; „Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme!“ (V. 8). Innerlich entrüstet über eine solche Beschuldigung, die schließlich nur die eigene innere Stellung der Redenden verriet, fügt er hinzu: „deren Gericht gerecht ist“. Wer so redet, spricht sich selbst das Urteil. Aber die Gnade wird immer angegriffen und verunglimpft werden, solang das Gewissen nicht von der Sünde überführt ist; wo das aber geschieht, da wird sie verstanden und dankbar begrüßt.
Mit dem 9. Verse nimmt der Apostel seinen Gedankengang wieder auf und fragt, an Vers 1 anknüpfend: „Was nun? Haben wir einen Vorzug?“ Die Antwort lautet: „Durchaus nicht; denn wir haben sowohl Juden als Griechen zuvor beschuldigt, dass sie alle unter der Sünde seien.“ Beide Klassen waren widerspruchslos der Sünde überführt. Die Juden, obwohl völlig bereit, das im Blick auf die Heiden zuzugeben, hätten sich selbst gern diesem Urteil entzogen. Darum führt Paulus jetzt eine Reihe von Stellen aus ihren eigenen Schriften an, die in schlagender Weise dartun, dass sie nicht nur selbst Sünder waren, sondern dass sie es in der Sünde weiter getrieben hatten als die Heiden. Diese Beweisführung ist zu Boden schmetternd. Gerade die Aussprüche Gottes, die den Juden anvertraut waren und deren sie sich, als ihnen allein gehörend, so gern rühmten, entwarfen ein furchtbares Bild von ihrem sittlichen Zustand. Die Schilderung der Sünden und Schändlichkeiten der Heiden im ersten Kapitel ist erschütternd, aber die Täter waren eben Heiden, die ohne Gott in der Finsternis ihrer Herzen dahinlebten. Aber hier handelt es sich um Juden mit ihren mannigfaltigen, großen Vorzügen!
Da war nicht ein Gerechter unter ihnen, nicht einer, der nur nach Gott gefragt hätte. Allesamt waren sie abgewichen und untauglich geworden, keiner war da, der Gutes getan hätte, auch nicht einer. Alle ihre Glieder hatten sie als Werkzeuge der Ungerechtigkeit benutzt; alles an ihnen war verderbt, durch Sünde und Gewalttat befleckt: ihr Schlund, ihre Zunge, ihre Lippen, ihr Mund, ihre Füße, ihre Wege. Keine Furcht Gottes gab es vor ihren Augen. Die Zeugnisse von diesem schrecklichen Verderben sind aus den Psalmen und Propheten zusammengetragen. Was konnten die Juden darauf erwidern? Nichts. Denn „wir wissen, dass alles, was das Gesetz sagt, es denen sagt, die unter dem Gesetz sind“. Der Beweis der Schuld, der doppelt großen Schuld der Juden war also unwiderleglich erbracht.
Und nun kommt die geradezu überwältigende Schlussfolgerung. Sie lautet: „auf dass jeder Mund verstopft werde und die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen sei“. Jeder Mund, auch der des Juden, verstopft, ja, noch wirkungsvoller verstopft, als der des Heiden; die ganze Welt, Juden und Heiden, unrettbar dem Gericht Gottes verfallen – das ist in der Tat ein Ergebnis, wie man es sich furchtbarer nicht denken könnte. Die gesamte Menschheit dem Gericht Gottes verfallen! Alle, ob religiös oder gottlos, gut oder böse, verstummen vor dem Richterstuhl des heiligen Gottes! Welch eine Demütigung für den Stolz und die Selbstgefälligkeit des eitlen Menschen! Und umsonst lehnt er sich mit aller Macht dagegen auf. So steht es mit der Welt nach Gottes Urteil.
Der Apostel schließt den ganzen Abschnitt mit den Worten: „Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden; denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (V. 20). Wenn es irgendwie eine Möglichkeit gegeben hätte, durch Werke Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen, so wäre sie dem Volke Israel in dem Gesetz vom Sinai gegeben gewesen. Aber genau das Gegenteil war eingetreten: der Zustand der Juden hatte sich, wie wir gesehen haben, so schlimm erwiesen, dass sie zu einem Sprichwort unter den übrigen Völkern geworden waren. Ihre Schuldbarkeit war also durch die Übertretung des Gesetzes, dessen Unverletzlichkeit sie anerkannten, riesengroß geworden.
Doch hätte es anders sein können? Nein; denn das Gesetz überführt nur von der Sünde, lässt sie in ihrer ganzen Hässlichkeit erscheinen – sie wird „überaus sündig durch das Gebot“ (Kap. 7,13) – aber es kann niemals Heiligkeit hervorbringen, niemals den Sünder vor Gott rechtfertigen. Indem es ihn die Sünde in ihrem wahren Charakter erkennen lässt, verurteilt es ihn in seinem Gewissen, so dass nichts anderes für ihn übrig bleibt, als Beugung und Selbstgericht, oder, wenn er die Gnade versäumt, am Ende ein schreckensvolles Verstummen.
Kapitel 3,21–31
„Jetzt aber“ – mit diesem kurzen Wort leitet der Apostel einen ganz neuen Abschnitt ein, der uns mit lieblicheren Gegenständen beschäftigen soll, als der lange, von Kapitel 1,18–3,20 sich hinziehende Zwischensatz. Hat er in diesem von dem traurigen Zustand des Menschen gesprochen, von den schrecklichen Folgen seines Falles, die in dem Endergebnis gipfeln, dass die ganze Welt dem Gericht Gottes verfallen ist, führt er uns jetzt zu dem, was Gott dem hoffnungslosen Verderben des Menschen gegenüber getan hat – zur Offenbarung Seiner Gerechtigkeit im Evangelium. Das Gesetz hatte diese Gerechtigkeit nicht offenbaren, hatte nicht einmal eine menschliche Gerechtigkeit schenken können – denn durch das Gesetz ist nur Erkenntnis der Sünde gekommen. Aber in dem Evangelium der Gnade wird Gottes Gerechtigkeit geoffenbart „aus Glauben zu Glauben“.
Damit kommt der Apostel auf den 17. Vers des ersten Kapitels zurück. Diese Gerechtigkeit hat mit dem Gesetz nichts zu tun, obwohl sie durch das Gesetz bezeugt worden ist: „Jetzt aber ist, ohne Gesetz, Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten: Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesum Christum gegen alle und auf alle, die da glauben.“ Welch eine wunderbare Wahrheit, ja, welch eine Fülle von Wahrheit in so wenigen Worten! Wir haben schon weiter oben ein wenig von der Gerechtigkeit Gottes gesprochen. Sie findet ihren Maßstab nicht in der Verantwortlichkeit des Menschen, sondern in Gott selbst, in Seiner Natur. Gott richtet den Menschen nach dessen Verantwortlichkeit, aber Seine Gerechtigkeit offenbart sich in Seinem Tun; und wo und wie Er sich offenbaren mag, da kann es nur zu Seiner Verherrlichung ausschlagen. Gottes Offenbarung ist immer auch Seine Verherrlichung.
Gottes Gerechtigkeit ist also ohne Gesetz geoffenbart worden. Das Gesetz war dem Menschen und seinem Verhältnis zu Gott angepasst. Es gebot ihm, Gott über alles zu lieben, aber Gott blieb bei alledem im Dunkel, und das Gesetz erwies nur die Schuld und völlige Hilflosigkeit des Menschen. Wo ein aufrichtiges Gewissen war, musste es anerkennen, dass die eigene, auf gesetzlichem Boden erwachsene Gerechtigkeit nur aus schmutzigen Lumpen bestand. Gottes Gerechtigkeit steht ganz und gar außerhalb jedes Gesetzes und hat sich, wie wir sahen, zunächst darin erwiesen, dass Er Jesum auf Grund Seines vollbrachten Werkes zur Rechten Seiner Majestät mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat. Wohl haben das Gesetz und die Propheten des Alten Bundes von dieser Gerechtigkeit geredet, sie bezeugt, aber mehr als das konnten sie nicht tun. Wir lesen in Jesaja 46,13: „Ich habe meine Gerechtigkeit nahe gebracht, sie ist nicht fern, und mein Heil zögert nicht“, und im 56. Kapitel desselben Propheten: „Mein Heil steht im Begriff zu kommen, und meine Gerechtigkeit, geoffenbart zu werden“ (V. 1; vgl. auch Kap. 51,5+6+8; Dan 9,24). So haben diese alten Zeugen Gottes Gerechtigkeit angekündigt, ihre Offenbarung als nahe bevorstehend bezeichnet, damit aber zugleich bekundet, dass sie in ihren Tagen nicht geoffenbart war.
Jetzt aber ist sie geoffenbart worden, und zwar durch Glauben an Jesum Christum, den gekreuzigten und verherrlichten Heiland. Das Gesetz wusste nichts von einem Stellvertreter und Bürgen für den schuldigen Sünder, es konnte nur in schwachen Schatten und Vorbildern auf den Kommenden hinweisen. „Jetzt aber“ – Gott sei gepriesen für dieses Wort! – ist in Jesu Christo Gottes Gerechtigkeit geoffenbart worden. Die Gnade zeugt von einem Eintreten und Eingreifen Gottes in Seinem geliebten Sohne, dessen Er nicht geschont hat, um unser schonen zu können. Das Kreuz auf Golgatha redet indes nicht nur von dem Vorrecht Gottes, da, wo alle Hoffnung verloren war, in Gnaden eingreifen zu können, sondern auch von Seiner Gerechtigkeit, die sich darin kundgibt, dass Er jetzt jeden rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. Anderseits bekennt der Mensch durch sein Glauben an das Zeugnis Gottes über Seinen Sohn, dass er schuldig und sündig ist, jeder eigenen Gerechtigkeit entbehrt und nur durch das Sühnungswerk Christi der Gerechtigkeit Gottes teilhaftig werden kann.
Stände diese Gerechtigkeit irgendwie mit dem Tun des Menschen in Verbindung, so wäre sie durch Gesetz, könnte also nur für Israel in Betracht kommen. Aber weil es Gottes Gerechtigkeit ist, so findet sie Anwendung auf alle Menschen ohne Unterschied, es ist „Gottes Gerechtigkeit gegen alle“, d. h. sie ist allen zugewandt, ist für alle da. Gerade weil es sich um eine Gerechtigkeit handelt, die gegründet ist auf das Werk Christi, der für alle starb, hat sie Bezug auf die ganze Welt, auf alle Menschen, ob Juden oder Heiden. Aber – beachten wir es wohl! – obwohl sie allen zugänglich gemacht ist, kommt sie doch nur auf alle, kommt nur denen zugute, welche glauben. Nur wer in persönlichem Glauben mit Christo in Verbindung kommt, hat teil an ihr und genießt alle die Vorrechte, die mit ihr in Verbindung stehen.
„Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (V. 23). Der gefallene Mensch wurde durch die Herrlichkeit Gottes aus dem Garten Eden vertrieben, und seine weitere Geschichte ist nichts als Sünde und wachsende Entfremdung von Gott. Er ermangelt alles dessen, was ihm einen Platz in Gottes heiliger Nähe geben könnte. Die Herrlichkeit Gottes muss ihn verzehren. Und da ist kein Unterschied, alle haben gesündigt, keiner erreicht (oder reicht hinan an) die Herrlichkeit Gottes. Aber, Gott sei gepriesen! gerade so wie alle Menschen von Natur in derselben Stellung vor Gott sich befinden, so ist auch für alle ohne Unterschied die gleiche Gnade da; alle, die da glauben, „werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christo Jesu ist“ (V. 24). Alles ist Gottes Werk und deshalb so vollkommen; alles gründet sich auf die Erlösung, die in Christo Jesu ist, und steht deshalb so unerschütterlich fest. Alle Glaubenden standen und stehen auf demselben Boden vor Gott: gestern unterschiedslos Sünder und Verlorene, heute unterschiedslos Gerechtfertigte und Begnadigte.
Doch wie ist die Erlösung zustande gekommen? Selbstverständlich konnte es nur auf einem Wege geschehen, der den Forderungen der Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes völlig Genüge leistete. Schon im Alten Bunde hatte Gott diesen Weg vorbildlich dargestellt. Einmal im Jahre, am Versöhnungstag, ging der Hohepriester in das Allerheiligste, um das Blut des Opfertieres auf den goldenen Deckel, der auf der Bundeslade lag, zu sprengen und so Sühnung vor Gott zu tun. Das Blut befand sich nunmehr zwischen den Cherubim, den heiligen Wächtern über die Ausführung der gerechten Regierungswege Gottes, und dem gebrochenen Gesetz, das, von Gottes Finger unauslöschlich eingegraben, auf den beiden in der Bundeslade liegenden Steintafeln stand. So war das Blut gleichsam an die Stelle der Sünde getreten, der Thron des Gerichts auf gerechter Grundlage in einen Gnadenstuhl umgewandelt. Nur das Blut eines von Gott anerkannten und angenommenen Opfers konnte so etwas tun.
Heute ist das Vorbild in Erfüllung gegangen. Gott hat Christum Jesum „dargestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut“ (V. 25). Das kostbare Blut des Sohnes Gottes ist in die Gegenwart Gottes gebracht und dort in seinem ganzen Werte vor Gott gesprengt worden. Christus ist sowohl der Hohepriester, der mit Seinem eigenen Blute gekommen und ins Heiligtum eingegangen ist, als auch der von Gott aufgerichtete Gnadenstuhl. Sein Blut hat eine vollkommene Sühnung gebracht. Wer zu diesem Blute seine Zuflucht nimmt, tritt als ein Gerechtfertigter auf den Boden der Erlösung. Seiner Sünden will Gott nie mehr gedenken, und das nicht nur auf Grund Seiner Gnade, sondern „zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesum ist“ (V.25+26).
Gott konnte die Sünden der Seinigen in alttestamentlichen Zeiten in Nachsicht tragen, weil Er auf das Opfer vorausblickte, das auf Golgatha gebracht werden sollte. Er sah das kostbare Blut, das von aller Sünde reinigt, und konnte unbeschadet Seiner Gerechtigkeit, nein, zur Erweisung derselben, an diesen Sünden mit Nachsicht vorübergehen. Die spätere Aufrichtung des Gnadenstuhls, die Er voraussah, und die in den Opfern des Alten Testamentes fortwährend vorgebildet wurde, hat Ihn in diesem Tun gerechtfertigt. Doch überdies erweist sich Gottes Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit darin, dass Er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesum ist. Es handelt sich nicht länger um Nachsicht. Die Schuld ist bezahlt, das Sühnungsblut ist geflossen. Gottes Gerechtigkeit steht nicht länger in Aussicht, sie ist in Christo ans Licht gebracht, geoffenbart worden, so dass Gott heute Seine Gerechtigkeit gerade darin erweisen kann, dass Er jeden Sünder rechtfertigt, der an Jesum glaubt. Er ist nur gerecht, wenn Er das tut.
Wunderbare Wahrheit! In der Tat, sie ist eines Gott-Heilandes würdig, sie verherrlicht Ihn und Den, der da kam, um Gottes Heilsplan auszuführen, während sie für den Menschen keinerlei Raum zu seiner Verherrlichung lässt. Darum fragt der Apostel auch in Vers 27: „Wo ist denn der Ruhm? Er ist ausgeschlossen worden.“ Gott will Seine Ehre keinem anderen geben, am allerwenigsten dem hochmütigen, selbstgerechten Menschen.
Doch wie ist dem Menschen jeder Ruhm genommen worden? „Durch was für ein Gesetz? Der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.“ Der Leser ist vielleicht erstaunt, das Wort „Gesetz“ hier zu finden. Aber er wolle bedenken, dass Paulus dieses Wort oft gebraucht, um eine bekannte Regel, einen durch Erfahrung festgestellten Grundsatz zu bezeichnen. Er denkt bei dem Worte keineswegs immer an das Gesetz vom Sinai (vgl. z. B. Kap. 7,21+23; 8,2). Ähnlich reden wir von Naturgesetzen, vom Gesetz der Schwere usw. Was ist es nun, das im vorliegenden Falle den Ruhm ausgeschlossen hat? Die einfache, klar festgestellte Tatsache, dass kein Mensch durch sein Tun gerechtfertigt werden kann, dass das vielmehr nur auf dem Grundsatz des Glaubens möglich ist. Man sagt zwar oft: „Keine Regel ohne Ausnahme.“ Aber hier ist eine Regel, die keine Ausnahme zulässt. Wenn wir urteilen müssen – und da ist kein anderes Urteil möglich – „dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke“, so fällt unbedingt aller Ruhm Dem zu, an welchen man glaubt. „Das Gesetz des Glaubens“ verschließt ein für allemal jedem Selbstruhm die Tür. Das mag tief beschämend und demütigend sein für den selbstgerechten Menschen, aber es ist überaus kostbar für den bußfertigen, verlorenen Sünder.
Ist dies aber der einzige, von Gott bereitete Weg zur Rechtfertigung, so folgt daraus, dass Gott nicht Gott der Juden allein ist, oder auch nur mehr Gott der Juden, als der Heiden. Nein, Er ist der „einige“ Gott. Er war das freilich schon im Alten Testament, wenngleich Er, als alle Völker der Erde dem Götzendienst verfallen waren, in Abraham und seinen Nachkommen sich ein Volk erkor, das die Erkenntnis des einen wahren Gottes auf Erden bewahren sollte. Jetzt aber hat Er in Gnaden Seinen Platz als Gott über alle Menschen, Juden und Heiden, eingenommen, und Er rechtfertigt einen beschnittenen Juden nicht etwa auf Grund seiner Werke, auf dem Boden des Gesetzes, sondern nur „aus Glauben“, d. h. auf dem Grundsatz des Glaubens, und einen unbeschnittenen Heiden, der kein Gesetz kennt, nur „durch Glauben“, d. h. mittels des Glaubens. Ein anderes Mittel der Rechtfertigung gibt es nicht.
So ist denn jeder Unterschied aufgehoben. Alle Menschen sind verlorene, ohnmächtige Sünder, die nur durch Gnade, durch den Glauben an das Werk eines Anderen errettet werden können. „Gott hat“, wie der Apostel im 11. Kapitel es ausdrückt, „alle zusammen (Juden und Heiden) in den Unglauben eingeschlossen, auf dass er alle begnadige“, oder unter die Begnadigung bringe. „O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes!“ (V. 32+33)
Aber, könnte man fragen, wird nicht die Autorität des Gesetzes durch eine solche Lehre geschwächt? Werden nicht seine heiligen Rechte dadurch beiseite gesetzt? „Das sei ferne!“ antwortet der Apostel. Anstatt das Gesetz aufzuheben, bestätigen wir es (V. 31). Das Gesetz hat niemals eine unzweideutigere Bestätigung gefunden, als gerade durch das Wort vom Kreuz. Das Evangelium lehrt nicht nur die ganze Verdammungswürdigkeit des Menschen, sondern auch die Notwendigkeit einer vor Gott gültigen Gerechtigkeit. Das Gesetz gibt freilich keine Gerechtigkeit, aber es fordert sie. Der „Glaube“ erkennt beides an, sowohl das völlige Verderben des Menschen als auch die Notwendigkeit der Gerechtigkeit, und siehe da, anstatt einer menschlichen Gerechtigkeit, wie das Gesetz sie verlangt, empfängt er dankbar die ihm umsonst geschenkte Gerechtigkeit Gottes! Zugleich lehrt das Evangelium, dass Christus uns von dem Fluch des Gesetzes losgekauft hat, indem Er ein Fluch für uns geworden ist. Da der heilige Gott den Grundsatz der Verpflichtung gegen das von Ihm gegebene Gesetz selbstverständlich in keiner Weise schwächen konnte, „sandte er seinen Sohn, geboren von einem Weibe, geboren unter Gesetz, auf dass er die, welche unter Gesetz waren, loskaufte, auf dass wir die Sohnschaft empfingen“ (Gal 4,4+5).
Wir fragen: Hätte das Gesetz jemals deutlicher bestätigt oder seine Autorität vollkommener festgestellt werden können?