Unterredungen über den ersten Brief an die Korinther
Kapitel 12,31 - 14,1
Im letzten Verse des 12. und im ersten des 14. Kapitels fordert der Apostel die Heiligen in Korinth auf, „um die größeren geistlichen Gaben“ zu eifern. Christen führen oft diese Worte im Munde; aber es fragt sich, ob sie damit einen Wunsch aussprechen, der wirklich dem Grund ihrer Herzen und Gewissen entspringt. „Eifern“ bedeutet nicht einen einfachen Wunsch, sondern ein brennendes Bedürfnis. Es mag uns an Gaben in Form verschiedener Dienste nicht mangeln; hier aber ist die Rede von „größeren Gnadengaben“. Daß Christen, welche gewohnt sind, alles von einem von Menschen eingesetzten Mann zu erwarten, keinerlei ernstliches Verlangen nach geistlichen Gaben für sich selbst hegen, ist weiter nicht verwunderlich, denn sie haben ja, was sie wünschen. Aber die Frage ist, ob solche, die Besseres als das besitzen, solche, die die Gnade aus einem Kreise herausgeführt hat, wo die Gaben verkannt werden, ein wirkliches Verlangen danach haben. Laßt uns diesen Gedanken in unseren Herzen erwägen! Wir werden die größeren Gaben nur dann erlangen, wenn wir uns von unserer geistlichen Gleichgültigkeit freimachen und um jene eifern. Eine weitere Frage ist: Welche Beweggründe leiten uns bei solchem Eifern? Wir selbst? Das unserer Person gezollte Ansehen, oder unser eigener Ruhm? Dann würden wir nichts von dem verstanden haben, was das 12. Kapitel uns vorstellt. Oder leitet uns das Wohl unserer Brüder, der Nutzen für den Leib Christi, die Verherrlichung des Herrn? In diesem Fall betreten wir „einen weit vortrefflicheren Weg“. Gebe Gott, daß dieser brennende Eifer für Ihn und die Erbauung der Heiligen bei uns vorhanden sei! Das ist's, was der Apostel uns empfiehlt. Im 12. Kapitel haben wir gesehen, daß die Gaben verschieden sind, aber daß es größere unter ihnen gibt, besonders eine. Das 14. Kapitel belehrt uns diesbezüglich, daß der, welcher weissagt, größer ist als der, welcher in Sprachen redet. Nun war es eben diese letzte Gabe, welche die Korinther vor allem schätzten, weil sie ihnen Ansehen verlieh in den Augen der anderen. Niemals aber sind die Gaben, die den Menschen in den Vordergrund stellen, die größten. Selbst die Erkenntnis bläht auf; jemand, der viel im Wort geforscht und sich so ein großes Verständnis erworben hat, ist in Gefahr, von sich selbst etwas zu halten. Die Erkenntnis Christi allein macht demütig. Indem der Schreiber die Apostel gleichsam etwas beiseite stellt, als solche, die mit einer Aufgabe betraut waren, die andere nicht hatten, fährt er fort: „Zweitens Propheten“ (V. 28). Es ist hier nicht das gleiche wie in
Alles dies führt den Apostel dahin, die Liebe zu beschreiben. Er gibt nicht eine eigentliche Erklärung des Begriffs Liebe – Liebe ist das Wesen und die Natur Gottes selbst –, sondern beschreibt vielmehr die Liebe in ihrer Tätigkeit, und das ist es ja, was uns zu wissen not tut. Ähnlich ist es mit der Schilderung bezüglich des Glaubens in
Im Blick auf unseren eigenen Zustand mögen wir uns wohl fragen, ob wir, wenn auch nur unvollkommen, die Liebe, so wie wir sie in diesem Abschnitt dargestellt finden, praktisch ausüben. Müssen wir nicht, nachdem wir alle diese Punkte gelesen haben, mit tiefer Beugung bekennen, daß unser Verhalten nicht dementsprechend gewesen ist? Müssen wir nicht bei der Betrachtung jedes einzelnen Punktes sagen: Daran habe ich es fehlen lassen? Aber durch diese Selbstprüfung angesichts eines vollkommenen Vorbildes gewinnen wir an Erfahrung und werden angespornt, in unserer christlichen Tätigkeit mehr Liebe zu beweisen. Beachten wir die verschiedenen Eigenschaften der Liebe! Der Gesamtcharakter aller ist Selbstentäußerung. Neid, Großtuerei, Hochmut sind ebensoviele Züge der menschlichen Selbstsucht. Oft muß ich vor dem Wort stillstehen: „Sie gebärdet sich nicht unanständig.“ Ein Christ, der es an Takt fehlen läßt, wie man zu sagen pflegt, handelt sicherlich nicht in der Liebe. Infolgedessen findet man oft bei Christen ohne sogenannte Erziehung viel mehr Takt als bei anderen, die eine solche genossen haben. Aus dem einen Grund, weil die Liebe ihr Handeln leitet, reden sie nicht noch handeln sie unpassend. Weiter: „sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit“. Das sind Worte, die uns sehr zu denken geben. Sind wir nicht oft viel schneller bereit, die Fehler unserer Brüder ans Licht zu ziehen als ihre guten Seiten? Sind wir nicht, wenn wir von ihnen reden, gar leicht geneigt, sie herabzusetzen? Die Liebe tut nichts dergleichen. „Sie freut sich mit der Wahrheit.“ Oft findet man die Wahrheit ohne Liebe. Dann verwundet sie die Seelen, anstatt sie anzuziehen, hält ab und stößt zurück. Der Apostel verletzte niemand, weil er Liebe hatte. Anderseits findet man auch oft Liebe ohne Wahrheit. In diesem Fall ist es eine Liebe ohne Gegenstand, etwas, was nicht den Namen Liebe verdient, denn die Wahrheit ist Christus, Sein Wort, Sein Geist. Der Apostel schließt seine Aufzählung mit den Worten: „Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.“ Man findet in der Liebe nicht nur negative Züge, d. h. was sie nicht tut (wovon wir eben gesprochen haben), sondern auch eine positive (bejahende) Kraft, die befähigt, alles zu ertragen: Beschwerden, Mühen, Leiden; alles zu glauben. Alles glauben ist nicht Leichtgläubigkeit, die jeder Lüge glaubt, sondern Bereitwilligkeit, bei anderen das Gute anzunehmen, anstatt das Gegenteil. „Alles hoffen“ bedeutet, mit Vertrauen in die Zukunft schauen, darauf rechnen, daß man bei anderen das Gute verwirklicht sehen wird, anstatt ihnen zu mißtrauen, was im Grunde nichts anderes ist, als der Gnade zu mißtrauen. „Alles erdulden“ bedeutet, ohne zu klagen durch Verleumdung, Beleidigung und Mißachtung hindurchzugehen. Der Apostel schließt mit den Worten: „Die Liebe vergeht nimmer.“ Sodann zeigt er, daß alle Gaben und Sprachen, alle Erkenntnis und Weissagung weggetan werden wird, um dem Vollkommenen Platz zu machen. Dann werden auch wir wegtun, was kindisch ist. Das Kind redet (Sprachen), denkt (Prophezeiung), urteilt (Erkenntnis) wie ein Kind. Aber das alles wird ein Ende haben, wenn wir von Angesicht zu Angesicht sehen und erkennen werden, wie auch wir erkannt worden sind. Drei Dinge, fügt der Apostel noch hinzu, charakterisieren den Christen und bleiben inmitten so vieler vergänglicher Dinge bestehen: Glaube, Hoffnung, Liebe. Aber auch der Glaube wird einmal ein Ende finden und durch das Schauen ersetzt werden. Die Hoffnung wird ein Ende nehmen und durch den Besitz Christi, ihres Gegenstandes, ersetzt werden. Nur eins wird nie aufhören: „Die Liebe vergeht nimmer.“ Sie ist größer als die „größeren Gnadengaben“, größer selbst als Glaube und Hoffnung, die für die gegenwärtige Zeit bleiben. Wenn die Liebe das Wesen Gottes selbst ist, so anderseits auch Seine erhabenste Tätigkeit, ein Meer von Glückseligkeit, in welchem wir dereinst in Ewigkeit schwimmen werden, ohne je seine Ufer zu erreichen, denn es gibt keine. Wir werden Ihn sehen, wie wir gesehen worden sind, Ihn erkennen, wie wir erkannt worden sind, und Ihn endlich, endlich lieben, wie Er uns liebt, mit einer unaussprechlichen Liebe. Möchte dieser Gedanke unsere Herzen erfüllen und sie überströmen lassen!