Betrachtung über Prediger
Kapitel 10
Es ist zu bemerken, daß der eigentliche vom Prediger behandelte Gegenstand mit dem 9. Kapitel endet und erst wieder mit den Schlußfolgerungen am Ende des 12. Kapitels aufgenommen wird. Die letzte Feststellung des 9. Kapitels war, daß der arme, weise Mann, der eine große Errettung bewirkt hatte, verworfen wurde und niemand mehr seiner gedachte. Wie vollkommen stimmt dies mit den trüben Erfahrungen des Predigers und dem Grundgedanken des Buches überein, das uns nicht in die Zukunft eindringen läßt! Die Folgen der Verwerfung des „armen Mannes“, die für uns Christen die Ergebnisse des Werkes Christi sind, werden hier schweigend übergangen.
Die Kapitel 10 und 11 nehmen wieder in ganz besonderer Weise den sprichwörtlichen Charakter an, der schon von Kapitel 4, 5 bis Kapitel 7 hervortrat. Dieser Charakter herrscht hier vor, um uns in Kapitel 11,8-10 von neuem zu dem Urteil gelangen zu lassen, daß ,,alles, was kommt, Eitelkeit ist“. Die besondere Belehrung dieser beiden Kapitel besteht darin, daß man die Unterweisungen der Weisheit nicht ohne ernstliche Gefahren unbeachtet lassen kann.
Das 10. Kapitel betrachtet speziell die Stellung der Könige und solcher, die in Würden eingesetzt sind. Die Weisheit legt den Maßstab an ihren sittlichen Wert, läßt jedoch jeden an seinem Platze dieser Autorität gegenüber.
Vers 1
„Tote Fliegen machen das Öl des Salbenmischers stinkend und gärend: ein wenig Torheit hat mehr Gewicht als Weisheit und Ehre.“ Ein wenig Torheit, ein anscheinend unbedeutender Mangel an Weisheit genügt, um die Stellung dessen zu beeinträchtigen, der bis dahin in der Leitung der Menschen seiner Weisheit wegen anerkannt war. Diese Feststellung gilt für alle Zeiten. Die Lust zu irgendeinem unbedachten Entschluß, der nicht der gewohnten Weisheit und dem bisherigen guten Ruf entspricht, läßt die Laufbahn eines zur Macht gekommenen Menschen zusammenbrechen. Ein ganzes ruhmvolles Leben wird so vernichtet und erscheint nutzlos.
Verse 2 - 3
„Des Weisen Herz ist nach seiner Rechten, und des Toren Herz nach seiner Linken gerichtet. Und auch wenn der Tor auf dem Wege wandelt, fehlt ihm der Verstand, und er sagt allen, er sei ein Tor.“ Der Weise hat sein Herz dort, wo es normalerweise nicht ist, an seiner Rechten, um den Entschlüssen seines Herzens unverzüglich die Tat folgen zu lassen. Der Tor jedoch, dem es an Weisheit mangelt, hat sein Herz an der natürlichen Stelle; er macht es aber nicht zur Triebfeder seiner Handlungen und verleiht seinem Tun keinen nützlichen Zweck. Selbst sein gewöhnliches Verhalten, das jedem Menschen Selbstverständliche, verrät dieselbe Unbeständigkeit und beweist öffentlich seine Torheit.
Vers 4
Jetzt wendet sich die Weisheit zu ihrem Kinde und schreibt ihm das Verhalten vor, das ihm der Obrigkeit gegenüber geziemt. „Wenn der Zorn des Herrschers wider dich aufsteigt, so verlaß deine Stelle nicht; denn Gelassenheit verhindert große Sünden.“ Hier, wie überhaupt in dem ganzen Kapitel, ist der Herrscher im Unrecht. Die Ursache seines Zornes wird nicht genannt, doch wird seine Erregung als etwas sehr Schlechtes hingestellt, dem gegenüber sich das Kind der Weisheit gelassen zeigt. Soll es unwillig sein über die Ungerechtigkeit oder seine Rechte geltend machen vor dem, der sie mit Füßen tritt? Im Gegenteil, es hat nur zweierlei zu tun: 1. seinen Platz ehrerbietiger Unterwürfigkeit unter eine Obrigkeit zu bewahren, deren Handlungen „große Sünden“ genannt werden, 2. Sanftmut zu zeigen, diesen Seelenzustand, der nicht auf seinen Rechten besteht, sondern diese den Händen dessen überläßt, der uns Unrecht zufügt. Nichts tut den Ausbrüchen der bösen Natur mehr Einhalt als ein solches Verhalten. Der Christ selbst sammelt so feurige Kohlen auf das Haupt derer, die ihm übelwollen.
Verse 5 - 7
„Es gibt ein übel, das ich unter der Sonne gesehen habe, gleich einem Irrtum, welcher von dem Machthaber ausgeht: Die Torheit wird in große Würden eingesetzt, und Reiche sitzen in Niedrigkeit. Ich habe Knechte auf Rossen gesehen, und Fürsten, die wie Knechte zu Fuß gingen.“ Auch hier liegt das übel auf Seiten des Herrschers. Er versteht es nicht, die Würdenträger auszuwählen, die nach einem englischen Sprichwort „der richtige Mann am richtigen Platze“ sein sollten. Hohe Stellungen sind Unfähigen anvertraut, weil der Machthaber nach seinem Belieben handelt, sei es aus Mangel an Menschenkenntnis, sei es aus dem Wunsche heraus, seine Günstlinge zu bevorzugen, oder aus irgend einem anderen Grunde. Die Folge davon ist, dass jene, die infolge ihres Vermögens in der Führung der Geschäfte weit geeigneter zur Uneigennützigkeit wären, „in Niedrigkeit“ sitzen. Die Rollen sind somit vertauscht: Knechte tragen ihren Hochmut und ihre Macht zur Schau, und Fürsten haben ihre Stellung verloren, in der sie nützlich sein und andere führen könnten.
In den Versen 8-15 verlässt der Prediger den Gegenstand der Könige und Herrscher, um zu zeigen, wohin die Absichten und Wege des Menschen im Gegensatz zu der von Gott gegebenen Weisheit führen.
Verse 8 - 9
Zunächst behandeln diese Verse schlechte und gute Absichten in unseren Handlungen dem Nächsten gegenüber. „Wer eine Grube gräbt, kann hineinfallen; und wer eine Mauer einreißt, den kann eine Schlange beißen. Wer Steine bricht, kann sich daran verletzen; wer Holz spaltet, kann sich dadurch gefährden.“ Eine Grube graben heißt eine Falle stellen. Wie oft ist man selbst schon in einer Schlinge gefangen worden, in die man andere geraten lassen wollte! (vgl. Sprüche 26,27) Eine Mauer einreißen heißt die Grenzen beseitigen, eine heimtückische Tat, die es dem Bösen eines Tages ermöglicht, Eingriffe in das Besitztum seines Nächsten zu tun. Der Teufel benutzt diese Dinge, um den zugrunde zu richten, der sich auf Kosten anderer zu vergrößern trachtet. - Andererseits können die Absichten auch lobenswert sein, aber die Ereignisse hängen von den Mitteln ab, die man gebraucht. Solche Anstrengungen werden anderen nicht nützlich sein und uns selbst in Gefahr bringen.
Vers 10
„Wenn das Eisen stumpf geworden ist, und er hat die Schneide nicht geschliffen, so muß er seine Kräfte mehr anstrengen; aber die Weisheit ist vorteilhaft, um etwas in Stand zu setzen.“ Man kann ein stumpf gewordenes Werkzeug in Händen haben, um sich dessen zu bedienen; es ist jedoch nur dann wirklich nützlich und erfordert beim Gebrauch keine Anstrengung, wenn man die Schneide geschliffen hat. Kann dieses Wort nicht angewandt werden auf die Art und Weise, in der man das Wort Gottes gebraucht? Die Vernunft und der Verstand des Menschen machen die Schneide nur stumpf. Die Weisheit, die Gabe des Geistes Gottes, ist es, die es schärft, ihm seine Nützlichkeit verleiht und es in das Gewissen eindringen läßt.
Man kann nicht oft genug wiederholen, daß alle diese Sprüche eine moralische und eine geistliche Seite haben und daß ihre Erklärung allein der Weisheit zukommt. Die Weisheit von oben hat sie uns durch den Menschen gegeben, und dieselbe Weisheit legt sie auch aus. Wir haben hier ein Beispiel davon.
Vers 11
„Wenn die Schlange beißt, ehe die Beschwörung da ist, so hat der Beschwörer keinen Nutzen.“ Dieses Wort spielt auf die Zunge des Menschen an. Sie ist eine Schlange, die nur durch die Macht des Beschwörers, des Geistes, der sie im Zaume hält, am Beißen verhindert werden kann (Jak. 3,8).
Verse 12 - 15
„Die Worte des Mundes eines Weisen sind Anmut, aber die Lippen eines Toren verschlingen ihn. Der Anfang der Worte seines Mundes ist Torheit, und das Ende seiner Rede ist schlimmer Unsinn. Und der Tor macht viele Worte: doch weiß der Mensch nicht, was sein wird; und was nach ihm sein wird, wer wird es ihm kundtun? Die Mühe des Toren macht ihn müde, ihn, der nicht einmal nach der Stadt zu gehen weiß.“ Hier werden die Gedanken fortgesetzt, mit denen wir uns seit dem 10. Verse beschäftigt haben. Wir finden hier von neuem, wie heilsam die Worte des Weisen sind, im Gegensatz zu denen des Toren, die ihn ins Verderben bringen, denn sie beginnen mit Torheit und enden mit Unsinn. Der Tor macht viele Worte, sieht die Ereignisse nicht voraus, kennt die Zukunft nicht und weiß selbst den Weg nicht, der ihn dorthin führen würde, wo er das notwendige Wissen erlangen könnte. Sich danach zu erkundigen, ist für ihn eine zu große Mühe.
Verse 16 - 17
Diese Verse führen uns zu dem Hauptgegenstand dieses Kapitels zurück. Sie reden von dem Unglück, das die Herrschaft eines unerfahrenen Königs im Gefolge hat, dessen Fürsten ihre hohe Stellung zur Befriedigung ihrer eigenen Begierden benutzen. Dann stellen sie uns das Glück eines Landes vor Augen, das von einem edlen König regiert wird, dessen Fürsten nur darauf bedacht sind, ihre Kräfte zu erhalten, um sie für das Wohl des Staates einzusetzen.
Verse 18 - 19
Dagegen führt die Faulheit des Regierenden bald zum Ruin des Hauses. Ihre Sucht nach den materiellen Genüssen macht sie gierig nach dem Geld, wodurch man sie sich verschaffen kann.
Vers 20
Das Kind der Weisheit indessen wird niemals das Gebot des Gehorsams gegenüber dem König übertreten, noch die schuldige Ehre denen verweigern, die das Vorrecht des Reichtums haben. Es wird weder dem einen noch dem andern fluchen, denn das Gerücht würde sich schnell ausbreiten und bald zu den Ohren der Machthaber gelangen.