Eine Auslegung des Markusevangeliums
Anhang
Bemerkungen zur Echtheit und Glaubwürdigkeit von Markus 16,9–20
[Kelly war vollkommen davon überzeugt, dass diese umstrittenen Verse Teil des inspirierten Evangeliums bilden. Dieser Überzeugung gab er in vielen seiner Schriften Ausdruck. In „The Bible Treasury“ (Bd. 16 (1887) S. 335–336) antwortete er auf die Kritik an diesem Abschnitt von Dekan Alford. (W. J. H.) – Diese Abhandlung sei hier übersetzt wiedergegeben.]
Ich habe schon vor langer Zeit Einspruch gegen jene Bibelwissenschaftler erhoben, die diesen sehr interessanten Bibelabschnitt (nämlich Mk 16,9–20) sowie den Anfang von Johannes 8 mit Argwohn betrachten. Ich möchte hier meine Gründe dafür vorstellen, indem ich allerdings den Abschnitt im Johannesevangelium unberücksichtigt lasse, weil er schon von anderer Hand an anderem Ort verteidigt wurde.
Sogar Dekan Alford, der sich gewiss nicht gerade durch Leichtgläubigkeit auszeichnet, gibt in Hinsicht auf seine Bibelausgabe zu, dass die Echtheit des frühen Abschlusses des Markusevangeliums (bei V. 8) kaum bezweifelt werden kann. Der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius von Cäsarea (um 263–339) sowie die Codices Vaticanus und Sinaiticus lassen die Verse 9 bis 20 weg. Viele andere alten Schreiber bestätigen ihr Fehlen in manchen Abschriften; im Allgemeinen fügen sie jedoch hinzu, dass sie in den ältesten und besten Kopien stehen. Alle anderen griechischen Manuskripte, alle Evangelistarien1, alle alten Bibelversionen (außer der römischen Ausgabe der arabischen Version) und eine große Zahl der frühesten und vertrauenswürdigsten „Kirchenväter“ können zu ihren Gunsten angeführt werden. Lachmann2, der gewöhnlich den geringsten Abweichungen in den ältesten Kopien folgt, bringt diese Verse ohne Bedenken in seiner Bibelausgabe.
In seinen Anmerkungen macht Alford geltend, dass dieser Abschnitt nicht mit den anderen Evangelien übereinstimmt und zu den vorausgehenden Versen nicht passt. Außerdem gibt er zu bedenken, dass in ihm nicht weniger als einundzwanzig griechische Wörter und Ausdrücke (einige davon mehrmals) erscheinen, die nirgendwo sonst im Markusevangelium gebraucht werden. Dabei sei es doch gerade ein Kennzeichen von Markus, dass er an seiner Ausdrucksweise festhält. Folglich spräche auch ein innerer Beweis schwerwiegend gegen eine Autorschaft des Markus. Das heißt: Alford hält diesen Abschnitt für eine (gottgewollte) echte Ergänzung zum Markusevangelium, allerdings nicht von Markus' Hand.
Bevor ich diese Kritik genauer untersuche, muss ich auf Erwägungen eingehen, welche besagen (bzw. erlauben), dass etwas Teil der Bibel sein kann, was mit anderen Bibelstellen nicht übereinstimmt. Wenn jedoch die Autorität der Bibel festgehalten wird, muss jeder Gläubige empfinden, dass mit oder ohne Schwierigkeiten alles in ihr Geschriebene in voller Harmonie miteinander steht; denn Gott kann nicht irren.
Es wird jedoch gesagt, dass die Redeweise und die Gestaltung unserer Verse vom Rest des Evangeliums abweichen. Hat der Herr Dekan und die anderen, welche genauso wie er denken, erwogen, welche neuen und außergewöhnlichen Umstände in ihnen berichtet werden? Auch wenn Markus diese Verse geschrieben hat, muss man natürlicherweise neue Worte und Redewendungen erwarten (denn auch anderswo will er keineswegs beim άπαξ λεγόμενα3 bleiben). Der Schreiber eines Nachtrags hingegen würde, wie man sich denken kann, beim Entwerfen einer Ergänzung zum Markusevangelium streng die Sprache und die Schreibweise des Evangelisten kopiert haben.
So sollen die Worte „πρώτῃ σαββ“ (V. 9; „am ersten Tag der Woche“) ungewöhnlich sein. Zweifellos! Doch von den beiden Ausdrücken ist dieser weniger hebraistisch als „τῇ μιᾷ τῶν σαββ“ (V. 2; „am ersten Tag der Woche“). Die beiden Ausdrücke unterstützen einander im Verständnis für ein nichtjüdisches oder römisches Ohr. Außerdem, weit davon entfernt über die Art der Erwähnung von Maria Magdalene an dieser Stelle zu stolpern, liegt meiner Ansicht nach eine große Aussagekraft darin, dass Jesus derjenigen als erster erscheint, aus der Er sieben Dämonen ausgetrieben hatte. Wer war so passend, Ihn als ersten zu sehen und die Botschaft von seiner Auferstehung zu vernehmen? Hatte Er nicht durch den Tod dem die Gewalt genommen, der die Macht des Todes hat, das ist dem Teufel (Heb 2,14)? – Wenn das Pronomen (Fürwort) in den Versen 11 und 12 im absoluten Sinn benutzt wird – genügt es nicht, dass der Anlass hier etwas verlangte, was anderswo unnötig war? – Wenn „πορευ“ („ging“, „gingen“, „geht“) ausschließlich in den Versen 10,12 und 15 gefunden wird, dann deshalb, weil dieses einfache Wort am besten trifft, was der Heilige Geist sagen will. Dagegen benutzt der Evangelist sonst andere Vokabeln, um umso eindrücklicher das mitteilen zu können, was an den anderen Stellen zur Darstellung benötigt wurde. So gebraucht Markus acht Mal in seinem Evangelium das Wort „εἰσπορ“ („hineingehen“, „eintreten“, usw.), während Matthäus in seinem viel längeren Bericht das Wort nur einmal verwendet. Sollte das ein Grund sein, Matthäus 15,17 in Frage zu stellen? Außerdem steht das Wort „παραπορ“ („vorübergehen“, „gehen“, usw.) in vier verschiedenen Kapiteln des Markusevangeliums. Matthäus verwendet es nur einmal (Kap. 27,39), Lukas und Johannes überhaupt nicht.
Verlassen wir diese einfachen Punkte! – Der Ausdruck „τοῖς μετ αὐτοῦ“ (V. 10; „denen, die mit ihm gewesen“) ist für mich ein Argument für und nicht gegen die Autorschaft des Markus. Vergleiche hiermit Kapitel 1,36, 3,14 und 5,40! Hinsichtlich „ἐθεάθη ὑπ᾽ αὐτῆς“ (V. 11; „von ihr gesehen worden sei“) und seinem Unterschied zu „τοῖς θ. αὐτὸν“ (V. 14; „die ihn ... gesehen“) kann man nur sagen, dass das Wort gut hierhin passt und nicht in andere Bibelstellen. Wenn diese Unterschiede überhaupt irgendetwas beweisen sollten, dann die Tatsache, dass zwei Bearbeiter anstatt nur einem an diesem Zusatz zum Markusevangelium gearbeitet haben. In den Briefen des Apostels Paulus kommt das Wort nur einmal vor. Müssen wir deshalb Römer 15,24 mit Misstrauen betrachten? Andererseits finden wir zum Beispiel das Wort „θεωρέω“ („sehen“) nur zweimal bei Matthäus. Sollten wir aufgrund solcher Beweise, wie die dargelegten, spekulieren, dass Matthäus 27,55 und 28,1 von „einer anderen Hand“ eingefügt wurden? Wenn in unserem Abschnitt der Unglaube der Jünger mehrere Male erwähnt wird und der Herr den Unglauben der Elfe tadelt – was könnte lehrreicher und mit dem Thema des Kapitels und des ganzen Evangeliums besser übereinstimmen? Es war heilsam für jene, die bald anderen predigen sollten, dass sie ihre eigenen Herzen kennen lernten. Darum brachte unser Herr sie durch seinen Dienst in einen richtigen Herzenszustand, bevor Er ihnen ihren großen Auftrag gab. Wenn wir uns das Wort „ἀπιστία“ (V. 14; „Unglauben“) ansehen, so erscheint es außerdem noch in Markus 6,6 und 9,24. Das zugehörige Verb (Tätigkeitswort) finden wir nur in Kapitel 16,11 und 16. Wie erstaunlich ist es dann, dass Lukas dieses Wort ausschließlich in Kapitel 24,11 und 41 verwendet und das Substantiv (Hauptwort) weder in seinem Evangelium noch in der Apostelgeschichte!
Es stimmt, dass „μετὰ τὸ“ (V. 19; „nachdem“) und „ὕστερον“ (V. 14; „nachher“) nirgendwo sonst im Markusevangelium stehen. Doch die gewöhnliche Genauigkeit der Darstellungsweise durch Markus mag ein Grund dafür sein, warum der erste Ausdruck nicht häufiger vorkommt. Der zweite erscheint auch im Lukas- und Johannesevangelium nur einmal.
Es wird allgemein zugegeben, dass „τὸ εὐαγγέλιον πάσῃ τῇ κτίσει“ (V. 15; „Evangelium der ganzen Schöpfung“) Markus' Stil entspricht. Keines der beiden letzten Evangelien verwendet das Substantiv (Hauptwort) „εὐαγγέλιον“ („Evangelium“), während Matthäus immer vom „Evangelium des Reiches“ oder „diesem Evangelium“ spricht. Es ist dann egal, ob Markus in Kapitel 1,14 oder 14,9 auch diesen Ausdruck verwendet (die Manuskripte, usw. weichen hier voneinander ab); denn er benutzt jedenfalls an anderen Stellen wiederholt das Wort für Evangelium, wie z. B. in Kapitel 1,15; 8,35; 10,29 und 13,10. Diese Tatsache verringert also keineswegs die Wahrscheinlichkeit, dass unser Abschnitt ursprünglich von Markus geschrieben wurde und folglich authentisch ist.
„Παρακολ“ (V. 17; „werden ... folgen“) und „ἐπακολ“ (V. 20; „folgenden“) stehen sonst nirgendwo im Markusevangelium, und zwar aus dem einfachsten Grund. Die Genauigkeit der zusammengesetzten Wortformen ist hier nötig. In den früheren Teilen des Evangeliums genügen die einfachen Formen. Das überrascht umso weniger, weil das erste Wort sonst nur noch in der Vorrede des Lukasevangelium (V. 3) vorkommt und das zweite überhaupt nicht mehr in den Evangelien.
Hinsichtlich der Einmaligkeit von „καλῶς ἕξουσιν“ (V. 18; „werden sich wohl befinden“) – was könnte einfacher sein als die Begründung dafür, warum diese Verheißung (sowie auch die bezüglich der neuen Sprachen, Schlangen, usw.) nur hier erwähnt wird? Sie wurde zweifellos in der folgenden Kirchengeschichte verwirklicht. Es ist einfach der gegensätzliche Ausdruck für eine übliche schriftliche Bezeichnung („κακῶς ἕχοντες“), die Kranksein bedeutet. Und falls der Leser an dem Vorkommen des Wortes „ἀρρώστους“ (V. 18; „Schwachen“) Anstoß nimmt, so sei erwähnt, dass wir es zweimal im 6. Kapitel des Markusevangeliums (V. 5 und 13) finden. Matthäus (Kap. 14,14) und Paulus (1. Kor 11,30) benutzen es jeweils nur ein Mal.
Ein Einwand bleibt noch übrig, der erwähnenswert ist, nämlich die Anführung des Wortes „κύριος“ („Herr“) in den Versen 19 und 20. Ich nehme an, in Markus 11,3 bezieht es sich auf Jahwe, doch ich möchte auf diese Ansicht nicht fest bestehen. Das Fehlen eines solchen Titels in Bezug auf Jesus im Markusevangelium erscheint mir eher seine Schönheit zu erhöhen, anstatt ein Makel zu sein, da hier sein Dienst geschildert werden sollte. Aber jetzt, nachdem Gott seinen verworfenen Knecht durch die Auferstehung gerechtfertigt und sowohl zum „Herrn“ als auch zum „Christus“ gemacht hat (Apg 2,36) – was scheint natürlicher oder sogar notwendiger zu sein, als dass dasjenige Evangelium, welches Ihn bisher als Knecht-Sohn Gottes dargestellt hat, Ihn jetzt als „Herrn“ bekanntmacht?
Das ist noch nicht alles. Der Herr hatte seinen Auftrag an jene erteilt, die auf sein Verlangen hin als Knechte seinen Platz auf der Erde und in einem weltweiten Umkreis einnehmen sollten. Er wurde in den Himmel aufgenommen und setzte sich zur Rechten Gottes. Nun war es die Aufgabe des Markus – und seine allein – hinzuzufügen, dass der Herr, während sie ausgingen und überall predigten, mitwirkte. Jesus ist selbst als Herr, wenn ich so sagen darf, immer noch der Knecht.
Herrliche Wahrheit! Welche Hand war so passend, davon zu berichten, wie die des Mannes, der aus eigener trauriger Erfahrung wusste, wie schwer es ist, ein treuer Knecht zu sein! Doch er hatte auch gezeigt, dass die Gnade des Herrn ausreicht, den Schwächsten wiederherzustellen und zu kräftigen (vgl. Apg 13,13; 15,38; Kol 4,10; 2. Tim 4,11).
Es gibt keinen Zweifel, dass dieser Abschnitt schon während des zweiten Jahrhunderts seinen gegenwärtigen Platz im Evangelium hatte, das heißt, vor irgendeinem Zeugnis, welches ihn weglässt oder die Verfasserschaft anzweifelt. Sogar Tregelles4, der sich gewöhnlich den Lieblingsautoren aus dem Altertum beugt und Einzelpunkten großen Wert beilegt, erkennt an, dass gerade die Schwierigkeiten (welche, wie ich gezeigt habe, stark überbewertet werden), die diese Verse machen, die Wahrscheinlichkeit zu ihren Gunsten bedeutend erhöhen. Die Gedanken und Ausdrücke, die in dem Abschnitt enthalten sind, weisen auf Markus hin. Darum ist er sowohl echt als auch authentisch.
Fußnoten
- 1 Evangelistar (Evangeliar): Zusammenstellung von Evangelientexten zum Vorlesen im Gottesdienst (Übs.).
- 2 Karl Lachmann (1793–1851), deutscher Altphilologe und Herausgeber eines griechischen Neuen Testamentes (Übs.).
- 3 = einmal Gesagtem (Übs.).
- 4 Dr. Samuel P. Tregelles (1813–1875), Bibelwissenschaftler (Übs.).