Eine Auslegung des Markusevangeliums
Kapitel 12
Das Gleichnis, mit dem dieses Kapitel anfängt, zeigt in wenigen, klaren Worten und sehr bedeutungsvollen Pinselstrichen die sittliche Geschichte Israels unter den Handlungsweisen Gottes. Darauf folgend sehen wir die verschiedenen Klassen Israels, wie sie sich nacheinander bloßstellten bei ihren Versuchen, den Herrn zu verwirren. Sie wollten ihn richten; im Endergebnis wurden sie selbst gerichtet. Doch im Gleichnis, mit dem das Kapitel beginnt, stellt der Herr die Handlungen Gottes mit der Nation als ganzes vor (V. 1–12).
„Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und setzte einen Zaun darum“ (V. 1). Gott hatte alles getan, um ihm seine Segnungen zu geben und vom Rest der sündigen Menschheit abzusondern. So war Israel ausreichend vor der Verunreinigung durch heidnische Verderbnis gewarnt worden. Er „grub einen Keltertrog“. Jede Vorbereitung, um die volle Frucht zu erhalten, war gemacht worden. Außerdem gab es vollständigen Schutz; denn Er „baute einen Turm“. In diesem Zustand verpachtete der Besitzer ihn an Weingärtner und „reiste außer Landes“. Das veranschaulichte ihre Verantwortlichkeit. Das jüdische System der Vergangenheit zeigt den Menschen in der Erprobung.
„Und er sandte zur bestimmten Zeit einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern von den Früchten des Weinbergs in Empfang nehme“ (V. 2). Es geht hier um die sittliche Prüfung des Menschen am Beispiel des Verhaltens Israels. Der Mensch ist verpflichtet, entsprechend der Stellung, in die Gott ihn versetzt hat, Rückerstattung zu leisten. Den Israeliten war jeder mögliche Vorzug von Gott gegeben worden. Sie besaßen Priester, religiöse Anordnungen, Fastentage, Festtage, jedes äußere Hilfsmittel und sogar hin und wieder ein übernatürliches Zeugnis von Gott. Es fehlte nichts von dem, was der Mensch haben konnte, außer Christus selbst. Und sogar von Ihm besaßen sie die Verheißung und warteten, wie wir wissen, in einer gewissen Weise auf Ihn als ihren König. Ihnen waren Verheißungen fest versprochen worden; und mit ihnen bestand ein Bund Gottes. Falls es möglich gewesen wäre, irgendetwas Gutes vom Menschen zu empfangen, hatten sie die besten Voraussetzungen dazu, indem ihnen nichts fehlte, was ihnen irgendwie von Nutzen sein konnte.
Doch kann aus dem Herzen etwas Gutes hervorkommen? Ist der Mensch nicht ein Sünder? Ist er nicht völlig befleckt und unrein? Kann aus dem Unreinen etwas Reines entstehen? Es ist unmöglich, durch irgendein gewöhnliches Mittel auf den Menschen einzuwirken. Man kann etwas Reines unter die Unreinen bringen; wenn es sich jedoch nur um ein Geschöpf handelt, wird es verunreinigt. Wenn es der Schöpfer ist, dann kann Er befreien. Aber auch Er konnte es nicht einfach dadurch, dass Er in die Mitte der Menschen herabkam. Dazu war mehr erforderlich, nämlich sein Tod. Der Tod ist die einzige Tür zum Leben und zur Erlösung des Verlorenen.
Der Herr beschrieb ihnen dann die Geschichte dessen, was sie Gott zurück erstatteten. Der Knecht wurde ausgesandt. „Und sie nahmen ihn, schlugen ihn und sandten ihn leer fort“ (V. 3). Es gab keine Frucht für Gott – nur Bosheit. Man beleidigte Ihn und verwundete seine Knechte. „Und wiederum sandte er einen anderen Knecht zu ihnen; und den schlugen sie auf den Kopf und behandelten ihn verächtlich“ (V. 4). Eine Sünde führt zu einer noch größeren Sünde, wenn sie nicht verurteilt wird. „Und er sandte einen anderen, und den töteten sie; und viele andere: Die einen schlugen sie, die anderen töteten sie“ (V. 5). Sie schlitterten rasend schnell den Abhang zum Verderben hinab. Es blieb nur noch ein mögliches Mittel übrig, um auf das Herz des Menschen einzuwirken. „Da er nun noch einen geliebten Sohn hatte, sandte er ihn als letzten zu ihnen und sprach: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen“ (V. 6).
War Er nicht viel annehmbarer, der unendlich größer an Würde und völlig fehlerlos war? Denn selbst Propheten hatten Fehler. Obwohl in und mit ihnen eine große Kraft Gottes kam, waren sie doch wie andere Menschen von Schwachheiten umgeben. Doch im Sohn war Vollkommenheit. Was würde geschehen, wenn Er käme? Sie mussten gewiss fühlen, dass der Sohn Gottes ein unvergleichlich höheres Recht auf ihre Zuneigungen und ihre Ehrerbietung hatte! So wäre es auch geschehen, wenn der Mensch nicht ganz und gar verloren gewesen wäre. Das war die sittliche Lehre hinsichtlich des Menschen, die sich am Kreuz offenbarte. Der Mensch erwies sich dort als durch und durch verdorben. Gott ließ es zu, dass sich diese Wahrheit durch das Volk Israel bis zur letzten Konsequenz praktisch zeigte. Nichts erwies sie so vollständig wie die Sendung des Sohnes Gottes. Die Erprobung endete also mit seiner Verwerfung; aber seine Verwerfung war auch ihre Verwerfung vor Gott.
Egal, wie sehr er geprüft wird oder wie bevorrechtigt er ist – der Mensch endet immer damit, dass er seine vollständige Feindschaft gegen Gott und seinen hoffnungslosen Ruin in Gottes Augen beweist „Jene Weingärtner aber sprachen zueinander: Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, und das Erbe wird unser sein“ (V. 7). Es war eine Gelegenheit für den Willen des Menschen, keinen Verlust zu erleiden. Satan leitete sie an, die ganze Welt für sich selbst zu wünschen. Das schätzt der Mensch am meisten: Er möchte Gott aus seiner eigenen Welt ausschließen. Dieser Wunsch wurde nie so vollständig erfüllt, wie durch die Ermordung des Herrn Jesus am Kreuz. Das war die Verwerfung Gottes in der Person seines Sohnes durch den Menschen. Von da an wird der Mensch offensichtlich nicht mehr nur als schwach und sündig, sondern auch als Feind Gottes dargestellt. Sogar als Gott in Christus die Welt mit sich selbst versöhnte, zog es der Mensch vor – und war dazu entschlossen –, die Welt ohne Gott zu besitzen. In Wahrheit offenbarte sich, dass die Welt in dem Bösen liegt. Und Satan, der vorher schon wirklich der Fürst dieser Welt war, wurde nach dem Hinauswurf Dessen, der Gott ist, zum Gott dieser Welt. Der Mensch muss irgendeinen Gott über sich haben. Wenn er den wahren Gott in der Person Christi verwirft, wird Satan nicht nur sein wirklicher Gott, sondern er zeigt sich dann auch als ein solcher.
„Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn zum Weinberg hinaus“ (V. 8). Das beendete die Reichweite ihrer Erprobung. „Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg anderen geben“ (V. 9). Hier wird nicht erwähnt, wie im Matthäusevangelium, dass Ihm diese zu rechten Zeit die Früchte abliefern werden (Mt 21,41). Wir sehen einfach den Abbruch der alten Verbindungen zu Israel (und in Wirklichkeit zum Menschen als solchen) und die Übergabe der Vorrechte an andere. Doch darüber hinaus folgt die Vernichtung der alten Weingärtner. Das wurde zum Teil schon im Untergang des jüdischen Volkes und Jerusalems erfüllt.
Das ist jedoch nicht alles. „Habt ihr nicht auch diese Schrift gelesen:,Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, dieser ist zum Eckstein geworden; von dem Herrn her ist er dies geworden. Und er ist wunderbar in unseren Augen‘?“ (V. 10–11). Der Heilige Geist fügt hier nicht, wie im Matthäusevangelium, weitere Wahrheiten hinzu. Der Stein sollte geehrt und der verworfene Prophet zum erhobenen Herrn werden; das passt gut zum Thema des Markus. Durch Matthäus wird jedoch auch die andere Stellung des Steins dargelegt. Zunächst ist Er ein Stein des Anstoßes auf der Erde. Als nächstes sehen wir den Stein nach seiner Erhöhung, wie Er zuletzt auf seine Feinde fällt und sie zu Pulver zermalmt. Das steht in Verbindung mit den Prophezeiungen und ihrer Erfüllung in Hinsicht auf die Juden und die Welt. Die Juden stolperten über Ihn in seiner Erniedrigung, als Er auf der Erde war. Wenn sie dann zuletzt nicht allein im Unglauben, sondern auch in tödlicher Feindschaft den Platz von Widersachern Gottes einnehmen und wirklich die auserwählte Partei seines großen Feindes, des Antichristen, bilden, wird Er am Ende des Zeitalters voller Vernichtung auf sie stürzen. Im Markusevangelium hingegen wird der verworfene Stein einfach erhöht. Das erkannten seine Hörer sofort. „Und sie suchten ihn zu greifen; doch sie fürchteten die Volksmenge; denn sie erkannten, dass er das Gleichnis im Blick auf sie geredet hatte. Und sie ließen ihn und gingen weg“ (V. 12).
Danach kam die Prüfung der verschiedenen Parteien, in welche die Juden aufgeteilt waren. „Und sie senden einige der Pharisäer und der Herodianer zu ihm, damit sie ihn in der Rede fingen“ (V. 13). Welch ein unheilvoller Zusammenschluss; denn normalerweise waren die Pharisäer und Herodianer erbitterte Feinde! Die Pharisäer waren die großen Eiferer für die religiösen Formen. Die Herodianer waren mehr die Höflingspartei. Sie pflegten jedes Mittel, um ihre Interessen in der Welt voranzubringen, während die Pharisäer nur auf ihr religiöses Ansehen bedacht waren. Wenn es sich jedoch um Christus handelt, können sich die gegensätzlichsten Menschen gegen Ihn oder seine Wahrheit vereinigen.
„Und sie kommen und sagen zu ihm: Lehrer, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und dich um niemand kümmerst; denn du siehst nicht auf die Person der Menschen, sondern lehrst den Weg Gottes nach der Wahrheit“ (V. 14a). Sie erniedrigten sich bis zu Schmeichelei und Verstellung, um ihr arglistiges Ziel zu erreichen. Was sie sagten, war zweifellos den Worten nach richtig; doch es entsprach nicht ihren Gefühlen und ihrem Urteil über Ihn. „Ist es erlaubt, dem Kaiser Steuer zu geben, oder nicht? Sollen wir sie geben, oder sollen wir sie nicht geben?“ (V. 14b). Sie wünschten, den Herrn in ein Ja oder Nein zu verwickeln, damit Er sich entweder bei den Juden oder bei den Römern bloßstellte. Bei einem „Ja“ hätte Er offensichtlich die Hoffnungen Israels aufgegeben. Er hätte sein Siegel auf ihre Knechtschaft unter die Römer gelegt. Wie konnte Er ein aufrichtiger Jude, ja, sogar der Messias, der erwartete Befreier, sein, wenn Er sie wie bisher unter der Sklaverei der römischen Macht ließ? Sagte Er jedoch „nein“, dann würde Er sich bei jener misstrauischen Regierung unbeliebt machen und eine Handhabe gegen Ihn geben als Jemand, der aufrührerische Ansprüche auf den Thron Palästinas erhob.
Der Herr antwortete ihnen mit vollkommener und göttlicher Weisheit. „Da er aber ihre Heuchelei kannte, sprach er zu ihnen: Was versucht ihr mich? Bringt mir einen Denar, damit ich ihn sehe. Sie aber brachten einen. Und er spricht zu ihnen: Wessen ist dieses Bild und die Aufschrift? Sie aber sprachen zu ihm: Des Kaisers. Jesus aber sprach zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (V. 15–17). Diese Antwort war ausreichend und absolut vollkommen; denn in Wirklichkeit hatten sie kein Gewissen. Hätten sie ein richtiges Empfinden gehabt, dann wären sie beschämt darüber gewesen, dass das gültige Geld in ihrem Land römisches Geld war. Das war eine Folge ihrer Sünde; und während der Mensch Christus verwirft, weigert er sich, auf seine Sünde zu blicken. Der Herr Jesus ließ sie da, wo ihre Sünde sie hingebracht hatte, sodass sie fühlen mussten, dass sie durch eigenes Versagen und ihre Sünde unter die römische Oberherrschaft gekommen waren. Er sagte einfach: „Und sie verwunderten sich über ihn“ (V. 17). Wenn du durch eigenes Versagen und wegen deiner Sünden dem Kaiser unterworfen bist, dann erkenne auch die Wahrheit und die Ursache deiner Lage an, und zahle an den Kaiser, was ihm zusteht! Vergiss jedoch nicht, dass Gott niemals aufhört, Gott zu sein, und sieh zu, Ihm das abzuliefern, was Ihm gehört! Sie waren keine zuverlässigen Untertanen des Kaisers; noch weniger waren sie Gott ergeben. Wären sie Ihm gegenüber ehrlich gewesen, dann hätten sie den Herrn Jesus aufgenommen. In ihnen gab es weder ein Gewissen noch Treue.
„Und es kommen Sadduzäer zu ihm, die sagen, es gebe keine Auferstehung; und sie fragten ihn und sprachen: Lehrer, Mose hat uns geschrieben: Wenn jemandes Bruder stirbt und hinterlässt eine Frau und hinterlässt kein Kind, dass sein Bruder sie zur Frau nehme und seinem Bruder Nachkommen erwecke. Es waren sieben Brüder. Und der erste nahm eine Frau; und als er starb, hinterließ er keinen Nachkommen; und der zweite nahm sie und starb, ohne Nachkommen zu hinterlassen; und der dritte ebenso. Und die sieben hinterließen keinen Nachkommen. Als letzte von allen starb auch die Frau. In der Auferstehung, wenn sie auferstehen werden, welchem von ihnen wird sie zur Frau sein? Denn die sieben hatten sie zur Frau“ (V. 18–23).
Auch hier handelte es sich einfach nur um eine Schwierigkeit (und nicht um ein unlösbares Problem). Die Sadducäer waren die Partei der Ungläubigen. Die ganze Kraft des Unglaubens liegt darin, Schwierigkeiten aufzustellen, eingebildete Fälle, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, zu erdenken und von den menschlichen Dingen auf göttliche zu schließen. Seine allgemeine Grundlage beruht auf falschen Annahmen. „Jesus sprach zu ihnen: Irrt ihr nicht deshalb, weil ihr die Schriften nicht kennt noch die Kraft Gottes?“ (V. 24). Wie üblich offenbarten sie ihre Unkenntnis der Schriften trotz vieler Anmaßung. Anderenfalls hätten sie einen solchen Fall nicht vorgebracht. Was sind Schwierigkeiten für die Macht Gottes, auch wenn man voraussetzt, dass sie für Menschen Schwierigkeiten darstellen? Doch was jenseits der Kraft und des Vorstellungsvermögens des Menschen liegt, ist bei Gott möglich. Sogar dem, der glaubt, sind alle Dinge möglich. Es beruhte in Wirklichkeit auf vollständiger Unkenntnis, wenn sie annahmen, dass die vorgestellte Eventualität jemals im Auferstehungszustand auftreten könnte.
Außerdem setzte ihre Frage die Auferstehung voraus, die sie ja gerade leugneten. Der Skeptizismus ist gewohnheitsmäßig unehrlich und keineswegs weniger falsch als Aberglaube. Wem sollte jene Frau gehören, die nacheinander sieben Ehemänner hatte? Die Antwort lautet: In der Auferstehung gehört sie keinem. Im Auferstehungszustand werden die irdischen Bande nicht wieder aufgenommen. Die Menschen auferstehen nicht als Ehemänner und Ehefrauen, als Eltern und Kinder oder als Herren und Knechte.
Danach begegnet der Herr der Grundfrage nicht auf dem Standpunkt ihrer Schwierigkeit oder ihres Irrtums, sondern dem Boden des wahren Sachverhalts nach dem Wort Gottes. „Denn wenn sie aus den Toten auferstehen, heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel in den Himmeln. Was aber die Toten betrifft, dass sie auferstehen – habt ihr nicht in dem Buch Moses gelesen,,in dem Dornbusch‘, wie Gott zu ihm redete und sprach:,Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs‘? Er ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebenden. Ihr irrt sehr“ (V. 25–27).
Er nahm diesen Bibelabschnitt nicht darum, weil er die eindeutigste Schriftstelle im Alten Testament enthält, sondern weil die Sadducäer die fünf Bücher Mose besonders wertschätzten. Gott gab das Land Israel weder Abraham noch Isaak noch Jakob als ihren wirklichen Besitz, als sie in ihren natürlichen Leibern lebten, und doch hatte Er ihnen persönlich das Land verheißen und nicht nur ihren Kindern. Folglich müssen sie auferstehen, damit sie das verheißene Land empfangen können. Gott gab ihnen das Land als Verheißung. Sie besaßen es aber nie. Also müssen sie es an einem späteren Tag besitzen. Da sie es aber im Todeszustand nicht besitzen können, müssen sie wieder zum Leben erwachen, um wirklich das verheißene Land zu erhalten. Die Wirklichkeit der Auferstehung wird somit aus der Vorstellung Gottes an Mose, als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, bewiesen. Es ist unmöglich, dass die Verheißungen, die Er ihnen gegeben hatte, nicht erfüllt werden.
Es folgen dann die Schriftgelehrten. „Und einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander verhandelten, trat herzu, und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist:,Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein Herr; und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft.‘ Das zweite ist dieses:,Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Größer als diese ist kein anderes Gebot“ (V. 28–31). Der Schriftgelehrte war gezwungen, die Weisheit des Herrn anzuerkennen.
Der Herr fasste den Kern des Gesetzes Gottes in diese beiden Auszüge zusammen, nämlich die unbegrenzte Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, wobei letztere nicht mit ganzer Seele und Kraft erfolgen musste, sondern wie „dich selbst“. Zunächst soll man Gott mehr als sich selbst lieben, sodass jeder andere Gegenstand, der dazu in Wettstreit geraten könnte, zurücktritt. Als Zweites soll man seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Tatsächlich hat man, wenn man Gott und seinen Nächsten liebt, das ganze Gesetz erfüllt, wie der Apostel sagt. Die Gnade geht allerdings weiter, und zwar bis zur völligen Selbstverleugnung. Die Gnade Gottes, welche den Geist eines Christen entsprechend der Kraft seines Glaubens ihr selbst anpasst, bis er Gottes Offenbarung von Christus gleicht, führt einen Menschen sogar in den Tod um seines Bruders willen. „Auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben“ (1. Joh 3,16) – und noch viel mehr für Gott und die Wahrheit. „Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Recht, Lehrer, du hast nach der Wahrheit geredet; denn er ist einer, und außer ihm ist kein anderer; und ihn lieben aus ganzem Herzen und aus ganzem Verständnis und aus ganzer Kraft, und den Nächsten lieben wie sich selbst, ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer“ (V. 32–33).
In seinem Gewissen erkannte er an, dass eine solche Liebe zu Gott und zum Nächsten weit besser ist als alles, worauf die Juden soviel Nachdruck und Wert legten, d. h. die äußeren Formen und Zeremonien des Gesetzes. Aber hier endete er; er erkannte Christus nicht. Darum war ihm die Gnade unbekannt. So konnte der Herr nur zu ihm sagen: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (V. 34). Er war noch draußen; denn allein die Gnade bringt durch die Erkenntnis Christi in das Reich Gottes hinein. Ob jemand weit oder fern vom Reich Gottes ist, macht keinen Unterschied; beides bedeutet Verderben, wenn man nicht hineingeht. Dieser Schriftgelehrte anerkannte das, was im Gesetz stand; er wusste jedoch nicht, was in Christus war. Er wusste nichts von der Gnade Gottes, welche das Heil brachte. Er erkannte die Verpflichtung gegen Gott und seinen Nächsten an. Er besiegelte, dass das Gesetz gerecht und gut war (und das stimmt!); er erkannte aber nicht, dass Gott sich wirklich in Christus offenbart hat. Danach wagte niemand mehr, Ihn zu befragen. Alles war beantwortet, und sie waren zum Schweigen gebracht.
Jetzt stellte der Herr seine Frage. Sie war nur kurz und ganz anders als die, welche die Menschen gestellt hatten. Die Fragen des Menschen bezogen sich auf die Dinge dieser Erde, auf Unmöglichkeiten in ihren Augen oder auf die Spitzfindigkeit hinsichtlich rivalisierender Pflichten. Christi Frage bezog sich direkt auf die Schriften und darüber hinaus auf das Geheimnis seiner Person – jenem einzigen Band zwischen den Seelen und Gott. Die Frage Christi geschah nicht aus Neugier. Sie wandte sich auch nicht ausschließlich an das Gewissen. Es ging um die Untersuchung der Wege Gottes und die stillschweigend vorausgesetzte Beugung unter die Offenbarung über seine Person.
„Wie sagen die Schriftgelehrten, dass der Christus Davids Sohn sei?“ (V. 35). Das stimmte; der Herr leugnete nicht, dass die Schriftgelehrten hier die Wahrheit sahen. Doch Er stellte eine Frage, die, wenn sie ehrlich beantwortet worden wäre, indem man an den Schriften festhielt, sie zur Wahrheit über seine Person geführt hätte. Mit einem Wort gesagt, ging es darum: Wie kann Christus sowohl Davids Herr als auch Davids Sohn sein? Die Schriftgelehrten erkannten richtig genug, dass Er Davids Sohn war. David jedoch schrieb durch den Heiligen Geist, dass Er sein Herr sei. Wie konnten diese beiden Wahrheiten, die geringere, mit denen die Schriftgelehrten beschäftigt waren, und die größere, auf die der Heilige Geist insbesondere besteht, vereinigt werden? Wie konnte Christus Davids Sohn und Davids Herr sein? Die Verbindung und die Grundlage hiervon lag in der Tatsache, dass Er nicht nur ein Mensch war, und als solcher Davids Sohn; Er war viel mehr. Um Davids Herr sein zu können, musste Er eine göttliche Person sein; doch darüber hinaus wurde Er auch als Mensch bis zu jenem Platz erhöht. Der Titel „Herr“ beruhte nicht nur auf seiner Göttlichkeit, sondern auch darauf, dass Er als Sohn Davids verworfen wurde. Gott hat Ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht (Apg 2,36).
Das eröffnet die große Frage seiner Behandlung durch Israel sowie auch bezüglich des Verhaltens Jahwes gegen Ihn. In Psalm 110,1 lesen wir: „Der HERR [Jahwe] sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege als Schemel für deine Füße!“ Hier geht es nicht darum, dass Gott seinen vielgeliebten Sohn zum Weinberg Israels herabsandte. Stattdessen wird Er, nachdem Er hinausgeworfen worden war, von Ihm zu seiner Rechten im Himmel erhöht. Dieser Vers sollte also dazu führen, anzuerkennen, dass Israel seinen Messias verworfen und dass Gott Ihn, nachdem Er verworfen war, zu seiner Rechten im Himmel gesetzt hat. Das ist offensichtlich der Schlüssel zur gegenwärtigen Lage Israels und öffnete den Weg für die Berufung der Kirche (Versammlung). Kurz gesagt enthält diese Stelle das Geheimnis der Person Christi und die Ratschlüsse Gottes, die auf seine Verwerfung folgten.
Er sagte jedoch noch mehr. „Und er sprach in seiner Lehre: Hütet euch vor den Schriftgelehrten, die in langen Gewändern umhergehen wollen und die Begrüßungen auf den Märkten lieben und die ersten Sitze in den Synagogen und die ersten Plätze bei den Gastmählern“ (V. 38–39). Nicht nur die Lehre der Schriftgelehrten war äußerst mangelhaft, sondern auch in ihrem Verhalten gab es viel sittlich Unwürdiges und Schlechtes. Sie liebten die Ehre der Menschen, insbesondere religiöse Ehre, und deshalb die ersten Sitze in den Synagogen und die besten Plätze bei den Gastmählern. Alles, was zu ihrem Wohlbehagen und ihrer Ehre in dieser Welt beitragen konnte, wurde eifrig gesucht. Darüber hinaus verschlangen sie die Häuser der Witwen, d. h. sie zogen sogar aus den Leiden der Leute Nutzen, damit sie mehr unter ihren Einfluss gerieten. Das war begleitet von großem religiösen Gepränge; denn sie hielten zum Schein lange Gebete. „Diese werden ein schwereres Gericht empfangen“ (V. 40).
Aber jetzt wählte der Herr diejenigen aus, für die Er auf der Erde Anteilnahme empfindet. „Und [Jesus] setzte sich dem Schatzkasten gegenüber und sah zu, wie die Volksmenge Geld in den Schatzkasten legt; und viele Reiche legten viel ein. Und eine arme Witwe kam und legte zwei Scherflein ein, das ist ein Cent. Und er rief seine Jünger herzu und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr eingelegt als alle, die in den Schatzkasten eingelegt haben. Denn alle haben von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrem Mangel, alles, was sie hatte, eingelegt, ihren ganzen Lebensunterhalt“ (V. 41–44). Gott urteilt nicht nach dem Betrag. Er wertet nicht das, was eingelegt wird, sondern das, was man für sich selbst zurückbehält. In diesem Fall war das nichts; alles wurde gegeben. Diejenigen, welche aus ihrem Überfluss gaben, behielten den größeren Teil für sich. Doch die Probe der Freigebigkeit besteht nicht in dem, was man gibt, sondern in dem, was man für sich selbst übrig lässt. Die Menge, die man zur eigenen Nutznießung behält, beweist, wie wenig gegeben wurde. Wo jedoch nichts zurückbehalten, sondern alles in den Schatzkasten Gottes geworfen wird, sieht man die wahre Wirkung der göttlichen Liebe und außerdem Glauben.
Das ist das, was Gott schätzt, weil es nicht nur von einem großzügigen Geben zeugt, sondern auch von dem vollkommenen Vertrauen auf Ihn. Diese arme Frau war eine Witwe; und es mochte so aussehen, dass sie vor allen anderen berechtigt war, das wenige, was sie hatte, zu behalten. Doch nein! Das wenige, was sie hatte, war ganz und gar für Gott. Der Umgang mit einer solch kleinen Summe mochte Mühe für diejenigen bringen, welche das Geld zählen mussten. Aber Gott hatte sie zur Kenntnis genommen, sie gewürdigt und für uns aufgezeichnet, damit wir Gott vertrauen und alles geben, was den Gedanken Gottes entspricht.