Eine Auslegung des Markusevangeliums

Kapitel 8

In dem zweiten Wunder der Speisung einer Volksmenge haben wir natürlich ein erneutes Zeugnis von Christus als dem Messias, dem Hirten Israels, gesehen in der Wohltätigkeit seiner Macht. Es war in Wirklichkeit eine Erfüllung der Vorhersage: „Seine Speise will ich reichlich segnen, seine Armen mit Brot sättigen“ (Ps 132,15). Das war ein sehr bedeutungsvolles Zeichen für Israel.

Bei anderen Herrschern besteht im allgemeinen die natürliche Notwendigkeit, dass ihr Volk zu ihrem Unterhalt und zu ihrer Pracht beisteuert. Doch der Messias sollte die Quelle für die Ernährung seiner Untertanen sein. Dieses Vorrecht kam Ihm allein zu und war nur von Ihm vorausgesagt. Es gab niemals einen anderen Herrscher – und wird es niemals geben –, der mit einem solchen Zeichen in Verbindung stand und zu dessen Kennzeichen der Regierung diese gnädige Quelle der Versorgung für sein Volk gehörte. Andere Herrscher versorgten sich durch Plünderung und Raub bei fernen Völkern mit den Mitteln, die sie dann mit ihrem eigenen Volk verschwendeten. Der Messias dagegen wird aus seiner allmächtigen Gewalt und seiner Liebe zu Israel heraus handeln. Das besagt eindeutig Psalm 132,15.

Die sittliche Kraft der Heiligen Schrift ist durch die schlechte Gewohnheit, sie zu vergeistlichen, stark abgeschwächt worden. Tatsächlich büßen wir jede richtige Deutung der Schrift ein, wenn wir sie auf solch eine Anwendung beschränken. Zweifellos dürfen wir den Sinn solcher Worte wie diese übernehmen und daraus ersehen, wie Christus für diejenigen sorgt, die an Ihn glauben. Auch heute noch entfaltet Er mehr als jemals zuvor in seiner liebenden Vorsorge für die Bedürfnisse der Seinen diese kennzeichnende Güte.

Doch welcher Gedanke scheint für die Mehrzahl der Kinder Gottes auf der Erde heute in der Verheißung von Psalm 132 zu liegen? Welche Bedeutung sehen sie, abgesehen von einer vorübergehenden Ausübung mitleidvoller Macht, in diesen Wundern? Es ist offensichtlich, dass der Geist Gottes dieser Wahrheit große Wichtigkeit beimisst; denn das einzige Wunder, das in allen vier Evangelien berichtet wird, ist die Speisung der Volksmenge, zumindest die erste, in welcher der Herr die Fünftausend versorgte. Es bleibt also bestehen, dass der Herr in diesen Wundern ein zweifaches Zeugnis davon gab, dass Er der Messias war – fähig und willens, all das auszuüben, was Ihn in besonderer Weise kennzeichnete. Kein anderer Fürst oder König konnte so handeln, weil dieser selbst normalerweise für seinen eigenen Staat auf Einkünfte aus seiner Lehnsherrschaft angewiesen ist.

Aber der Herr Jesus besitzt diese einzigartige Quelle und Versorgungsmöglichkeit der Gnade in sich selbst; und sein Königreich wird dadurch gekennzeichnet sein. Anstatt sein Volk Israel zu belasten oder der Welt ihren Wohlstand zu entziehen, um sich zu erhalten, wird der Herr Jesus Christus immer die Stellung des seligen und alleinigen Machthabers (1. Tim 6,15) festhalten, selbst dann, wenn die Erde Ihn als König anerkennt. Das wird ein Tag sein, an dem alle Last weggenommen ist und die Erde ihren Ertrag liefert. Zweifellos werden die Herzen der Menschen dann freigebig sein. „Eine Menge Kamele wird dich bedecken, junge Kamele von Midian und Epha. Sie alle werden aus Scheba kommen, Gold und Weihrauch bringen, und sie werden das Lob des HERRN [Jahwe] fröhlich verkündigen. Alle Herden Kedars werden sich zu dir versammeln, die Widder Nebajots werden dir zu Diensten stehen: Wohlgefällig werden sie auf meinen Altar kommen; und das Haus meiner Pracht werde ich prächtig machen. Wer sind diese, die wie eine Wolke geflogen kommen und wie Tauben zu ihren Schlägen? Denn auf mich hoffen die Inseln, und die Tarsis-Schiffe ziehen voran, um deine Kinder aus der Ferne zu bringen und ihr Silber und ihr Gold mit ihnen, zu dem Namen des HERRN [Jahwe], deines Gottes, und zu dem Heiligen Israels, weil er dich herrlich gemacht hat. Und die Söhne der Fremde werden deine Mauern bauen, und ihre Könige dich bedienen; denn in meinem Grimm habe ich dich geschlagen, aber in meiner Huld habe ich mich deiner erbarmt. Und deine Tore werden beständig offen stehen; Tag und Nacht werden sie nicht geschlossen werden, damit der Reichtum der Nationen und ihre weggeführten Könige zu dir gebracht werden können. Denn die Nation und das Königreich, die dir nicht dienen wollen, werden untergehen, und diese Nationen werden gewiss vertilgt werden. Die Herrlichkeit des Libanon wird zu dir kommen, Zypresse, Platane und Buchsbaum miteinander, um die Stätte meines Heiligtums zu schmücken; und ich werde herrlich machen die Stätte meiner Füße. Und gebeugt werden zu dir kommen die Kinder deiner Bedrücker, und alle deine Schmäher werden niederfallen zu deinen Fußsohlen; und sie werden dich nennen: Stadt des HERRN [Jahwe], Zion des Heiligen Israels. Statt dass du verlassen warst und gehasst und niemand hindurchzog, will ich dich zum ewigen Stolz machen, zur Wonne von Geschlecht zu Geschlecht. Und du wirst saugen die Milch der Nationen und saugen an der Brust der Könige; und du wirst erkennen, dass ich, der HERR [Jahwe], dein Erretter bin, und ich, der Mächtige Jakobs, dein Erlöser. Statt des Kupfers werde ich Gold bringen und statt des Eisens Silber bringen und statt des Holzes Kupfer und statt der Steine Eisen. Und ich werde den Frieden setzen zu deinen Aufsehern und die Gerechtigkeit zu deinen Vögten“ (Jes 60,6–17).

Doch das große unterscheidende Kennzeichen des irdischen Reiches des Messias im Vergleich zu allen anderen Reichen wird dieser Überfluss an Güte sein, wenn die göttliche Macht an jenem großen Tag der Verwirklichung des Sieges unseres Herrn über Satan alle Segnung des Menschen übernimmt. Im 1000-jährigen Reich wird der Mensch noch nicht in den ewigen Zustand versetzt sein; er wird noch einen Körper haben, der sterben kann. Das Böse wird in der Welt immer noch vorhanden sein. Obwohl das Böse noch nicht ausgerottet ist, in der Natur des Menschen immer noch die Sünde wohnt und die Macht des Todes in bestimmten Fällen als ein Gericht über schamlose Sünden ausgeübt wird, besteht die Besonderheit jener Zeit darin, dass die Macht des Guten durch Christus, den großen König, über das Böse die Oberhand hat. Das heißt nicht, dass das Böse gegen das Gute ankämpft, sondern dass die Überlegenheit der Segnung vom Jahwe-Messias aus über die ganze Erde ausfließt. Wenn es noch einen abgesonderten Flecken auf der Erde gäbe, einen einsamen Winkel, der von dem Strom des Segens „an jenem Tag“ nicht besucht würde, dann wäre das weitgehend ein Triumph des Bösen über das Gute.

Wir wissen aus Offenbarung 20, dass die Nationen nach dem 1000-jährigen Reich rebellieren werden. Keine Wohltätigkeit von Seiten des Herrn, keine Speisung seiner Armen mit Brot kann das Herz des gefallenen Menschen ändern. Nein, auch die Entfaltung der Herrlichkeit kann den Menschen nicht von seiner wahnsinnigen Feindschaft abbringen. Der traurige Beweis wird offenkundig, dass all jene, die im 1000-jährigen Reich nicht aus Gott geboren sind, Satan neuen Brennstoff geben, um die letzte Rebellion gegen den Herrn anzuzünden. Doch es wird Feuer vom Himmel fallen und jene im Gericht beseitigen, die so auf frischer Tat ertappt werden. Wie überwältigend ist der Beweis davon, dass der Mensch nichts wert ist! Sowohl zur Zeit, wenn die Herrlichkeit über der Erde aufgegangen ist, als auch in der gegenwärtigen bösen Zeit erweist sich die Nichtsnutzigkeit des Menschen, indem er die Gnade entweder verachtet oder missbraucht.

Der Herr zeigte, dass es sogar damals, als er in Schwachheit auf der Erde war, nicht an Kraft mangelte, um die Macht seines Königreiches zu entfalten. Wenn Er Fünftausend speisen konnte, dann auch genauso leicht Fünfmillionen. Es gefiel Ihm, die gewöhnlichsten Esswaren zu benutzen. Der Herr über alles nahm das, was vorhanden war. So wird es auch im 1000-jährigen Reich sein. Der Herr macht dann alles neu – zwar nicht im absoluten Sinn, sondern nur in einem gewissen Maß, und gibt so ein Bild von dem vollständigen Werk, das später alles abschließen wird.

Der Christ, welcher im Zusammenhang mit dieser Stelle nur an den Himmel denkt, löscht das Zeugnis eines großen Teiles der Bibel aus. Dabei wird die zukünftige Szene nicht nur verschwommen gemacht, sondern auch schwerwiegend verfälscht – und zwar nicht nur in ihrer Gesamtheit, sondern auch in ihren wichtigsten und bedeutungsvollsten Einzelzügen. Denn das kommende Zeitalter wird zum großen Teil ohne Beispiel sein. Die Gewohnheit, alles für unsere Zeit zurechtzubiegen, ist nicht gut für unseren Glauben, weil sie die Schrift verunehrt. Sie entspringt einem Geist des Unglaubens und fördert ihn vielleicht genauso wie jedes andere Vorurteil.

Als nächsten Gegenstand möchte ich die besondere Lehre der beiden Wunder betrachten. Warum werden uns zwei Ereignisse von nahezu gleicher Art vorgestellt? Kann man irgendetwas aus den Umständen entnehmen, dass der Herr in einem Fall Fünftausend speiste und dass zwölf Körbe mit Brocken aufgehoben wurden und dass im anderen Viertausend aßen und sieben Körbe voll übrig blieben? Es gibt Menschen, die schnell dabei sind zu sagen, dass eine solche Untersuchung zu vorwitzig sei und dass man nur die Einbildungskraft fördere, wenn man versucht, den genauen Sinn herauszulesen. Ich hoffe jedoch, dass nur wenige meiner Leser so niedrige Vorstellungen vom Wort Gottes haben, indem sie voraussetzen, dass wir neben den einfachen Tatsachen nicht auch in dem, was von ihm berichtet wird, eine Entfaltung Christi nach sittlichen Grundsätzen oder unter Gesichtspunkten der Haushaltungen finden. Wir sollten jeden einfachsten Vorfall berücksichtigen oder wertschätzen. Doch beschränke nicht die Schrift auf deinen oder meinen engen Horizont! Lasst uns jede Einzelheit würdigen! Doch lasst uns nicht irgendeine Lehre, die Gott uns dadurch übermittelt, verachten! Mögen wir allem Raum lassen, womit Er uns erfreuen will! So wenig wir – jeder von uns – auch wissen mögen, so wissen wir doch genug, um für die Wahrheit einzutreten, dass nicht nur alle Schrift von Gott eingegeben, sondern auch nützlich ist (2. Tim 3,16). Deshalb ist es die Aufgabe eines jeden Christen, sich davor zu hüten, seinen Lieblingsstellen oder -lehren zu frönen. Stattdessen sollte er nach geistlichem Verständnis über das ganze Wort und die offenbarten Gedanken Gottes trachten.

Wir dürfen also untersuchen, was wir neben der Bestätigung der Stellung des Messias in irdischer Herrlichkeit und seiner Sorge für sein Volk aus diesen Wundern zu lernen haben. Bei dem ersten Ereignis lesen wir zunächst von der Speisung der Volksmenge und danach von ihrer Entlassung. Außerdem erfahren wir, dass Er, soweit es seine körperliche Anwesenheit betraf, die Jünger verließ und sie unter dem Einfluss eines widrigen Windes über den aufgewühlten See sandte. Dort lavierten sie die ganze Nacht und kamen kaum voran, während Er auf einem Berg zu Gott betete. Ist das nicht ein deutliches Bild von dem, was stattgefunden hat, nachdem der Herr Israel sozusagen für eine Zeit weggeschickt und seine Jünger, was seine irdische Anwesenheit betrifft, verlassen hat? Er ist droben der Fürsprecher. Er hat eine völlig neue Stellung eingenommen. Und während seiner Abwesenheit in der Höhe sind die Jünger den widerstreitenden Elementen hienieden ausgesetzt. Was könnte die gegenwärtige Haushaltung besser beschreiben? Israel wurde, nachdem der Herr sein Zeugnis an das Volk abgelegt hatte, weggeschickt. Die Jünger sind jetzt von unserem Herrn in der stürmischen Welt zurückgelassen worden. Und Er selbst lebt, „um sich allezeit für sie zu verwenden“ (Heb 7,25). Als alle Mühe vergeblich zu sein schien, kam der Herr unerwartet zu ihnen, stieg zu ihnen ins Schiff und „sogleich war das Schiff an dem Land, zu dem sie hinfuhren“ (Joh 6,21). Was könnte als Bild einleuchtender sein? Als Folge des Unglaubens Israels verließ Er diese Welt, um in den Himmel zu gehen. Er nahm nicht den Platz eines Königs über die Erde ein, um die Bedürfnisse seines Volkes zu befriedigen, denn es war für Ihn noch nicht zubereitet. Stattdessen wurde Er der priesterliche Sachwalter im Himmel, bis Er wiederkommt und sich mit den sturmgeschüttelten Jünger vereinigt, um heilende Macht und Segnung überall einzuführen (vgl. Mk 6,34–56). Im Zusammenhang damit sehen wir in dem ersten Wunder „zwölf Handkörbe“. Das weist auf die Art hin, in welcher der Mensch hier von Bedeutung ist. Er wurde zum Mittel, um die Gedanken des Herrn auszuführen. So wird es bald geschehen.

Aber in der Geschichte von der Speisung, die wir in unserem Kapitel finden und bei der viertausend Menschen versorgt und sieben Körbe übriggelassen wurden, erkennen wir bemerkenswerte Unterschiede. Es ist kein Bild von der Handlungsweise des Herrn in Hinsicht auf Haushaltungen. Hier sehen wir den Herrn einfach, wie Er aus seiner reinen Gnade heraus für einen gewissen Überrest seines Volkes Sorge trägt. Es ist kein Zeugnis von der Reihenfolge der Ereignisse nach seiner Verwerfung durch Israel bis zu seiner Rückkehr in Macht und Herrlichkeit. Natürlich ist Er der Messias; doch Er zeigt jetzt die wohltätige Güte seines Herzens trotz seiner Verwerfung. Der Herr wird in den letzten Tagen, wenn die Masse des Volkes abgefallen sein wird, einen Überrest annehmen, für ihn sorgen und seine Bedürfnisse stillen. Inzwischen wendet Er sich in seiner Gnade an uns, die Nicht-Juden. Und was mangelt uns? Doch sei es, dass wir die Gespeisten als irdischen oder himmlischen Überrest betrachten – die Szene verdeutlicht, dass der Herr ganz gewiss jetzt, nachdem Er verworfen ist, liebevoll für sein Volk sorgt. In diesem Bild verlässt Er die Seinen nicht; Er bleibt die ganze Zeit bei ihnen.

„In jenen Tagen, als wieder eine große Volksmenge da war und sie nichts zu essen hatten, rief er die Jünger herzu“ (V. 1). Jetzt kamen nicht, wie im vorigen Ereignis, die Jünger zu Ihm, weil sie sich um die Volksmenge Sorgen machten. Er handelte hier aus seinem liebenden Herzen heraus. Er sagte zu ihnen: „Ich bin innerlich bewegt über die Volksmenge, denn schon drei Tage weilen sie bei mir und haben nichts zu essen; und wenn ich sie hungrig nach Hause entlasse, werden sie auf dem Weg verschmachten; und einige von ihnen sind von weit her gekommen“ (V. 23). Daraus können wir entnehmen, dass das Thema dieser Szene nicht darin besteht, ein Bild der Wege des Herrn zu liefern, in dem Er sich Israel vorstellte und Israel Ihn nicht haben wollte. Es geht hier einfach darum, dass Er den Überrest seines Volkes, die Armen, die Ihm nachliefen, ernährte. Sie mochten seine Herrlichkeit nur wenig zur Kenntnis nehmen; doch Er sorgte für sie. In diesem Fall ging es grundsätzlich um die Güte Christi, der über die Armen wachte und sie überreich versorgte, obwohl nichts umkommen durfte. Ihr Elend sprach zu seinem Herzen. Darum nahm Er alles in seine Hand. Trotzdem bevorrechtigte Er die Jünger, Kanäle seiner Freigebigkeit zu sein.

Als die Jünger Ihn fragten: „Woher wird jemand diese hier in der Einöde mit Brot sättigen können?“, fragte Er folglich: „Wie viele Brote habt ihr? Sie aber sagten: Sieben“ (V. 4–5). Die „Sieben“ am Anfang und am Ende des Ereignisses weist, wie mir scheint, nicht auf die Mitwirkung des Menschen hin. Dafür ist die „Zwölf“ das gewöhnliche Symbol in der Schrift. Hier geht es einfach um die Fülle der Vorsorge. In den Augen der Menschen erschien sie unzulänglich; doch in seinen Augen der Gnade und Macht war sie nicht nur ausreichend, sondern auch ein Hinweis auf das, was weit eine Begegnung ihres gegenwärtigen Bedürfnisses übertraf. Es zeigte die vollkommene Sorgfalt und das Mitleid des Herrn mit seinem Volk. Er stillte nicht nur ihre Not, sondern bezeugte auch die ganze Handlung mit Vollkommenheit zum Preise seiner Güte und Macht. „Und sie aßen und wurden gesättigt; und sie hoben auf, was an Brocken übrig blieb, sieben Körbe voll. Es waren aber ungefähr viertausend; und er entließ sie. Und sogleich stieg er mit seinen Jüngern in das Schiff und kam in das Gebiet von Dalmanuta“ (V. 8–10).

Das ist ein weiterer unterscheidender Punkt, auf den ich hinweisen möchte. Bei der früheren Gelegenheit verließ Er die Jünger und ging allein weg. Hier begleitete Er sie. Das bezieht sich nicht auf das, was in der gegenwärtigen Haushaltung abläuft, oder auf seine Himmelfahrt, um priesterliche Aufgaben im Himmel auszuüben. Hier beobachten wir, wie der Herr vollkommen für sein Volk sorgte und dann bei seinen Jüngern blieb, indem Er über sie wachte und sie inmitten der Schwierigkeiten eines verderbten Geschlechts – sei es abergläubisch oder zweifelnd, doch in beiden Fällen vor Gott gleich ungläubig – beschützte. Denn die Pharisäer kamen heraus und begannen mit Ihm zu streiten, „indem sie ein Zeichen vom Himmel von ihm begehrten“ (V. 10–11). Das war sehr schmerzlich; denn durch ihre Frage nach einem Zeichen offenbarten sie, dass sie die bemerkenswerten Zeichen, die der Herr bewirkt hatte, nicht ehrlich bedachten und kein Herz für sie hatten. Und doch sollten diese Wunder einen tiefen und weitreichenden Eindruck hinterlassen haben. Es ist unmöglich, dass zuerst fünftausend Männer, ohne die Frauen und Kinder, und danach viertausend auf diese Weise gespeist wurden, ohne dass diese Ereignisse weit im Land umher bekannt gemacht worden waren. Ich nehme an, dass die Frage der Pharisäer eine Folge der Spekulationen war, die durch die Ausführung dieser Wunder verbreitet wurden. Auf jeden Fall wünschten sie ein Zeichen von Dem, der schon dem Umfang und dem Wesen nach das größte vor ihren Augen bewirkt hatte. Konnten sie einen schrecklicheren Beweis vom Unglauben des Menschen liefern? Ein Zeichen! Was war denn der ganze Dienst des Herrn gewesen? Ein Zeichen vom Himmel! Der Herr selbst war das Brot Gottes, das vom Himmel herabkam. Und Er hatte in der Fülle seiner Liebe zu seinem Volk auf der Erde gezeigt, wer Er war. Das ist das launenhafte, widerspenstige Herz des Menschen – unzufrieden mit allem, was Gott gibt. Wenn Gott ihnen das vollständigste irdische Zeichen nach seinem Wort für ein irdisches Volk gab, dann wollten sie ein Zeichen vom Himmel.

Der Herr begegnete diesem Verlangen mit ungewohnter Schärfe. “Und in seinem Geist tief seufzend, spricht er: Was begehrt dieses Geschlecht ein Zeichen? Wahrlich, ich sage euch: Wenn diesem Geschlecht ein Zeichen gegeben werden wird! Und er verließ sie, stieg wieder [in das Schiff] und fuhr an das jenseitige Ufer“ (V. 1213). Die Weigerung des Herrn ist nach meiner Ansicht sehr auffallend. Wir wissen, dass ihr Verlangen nicht auf irgendein gefühltes Bedürfnis beruhte und auch nicht auf dem Wunsch, dass dieses Bedürfnis gestillt würde. Eine solche Bitte weist der Herr niemals ab. Er verweigerte sich ihnen nicht, weil sie elende Sünder waren oder weil sie Ihn zu sehr bedrängten. Sie hatten einfach die Form ihres Unglaubens gewechselt und blieben doch weiterhin beharrlich und erfinderisch verstockt, indem sie jedes Zeugnis, das Gottes Weisheit vorstellte, verwarfen. Es gab eine solche Menge und Mannigfaltigkeit an Zeichen, wie sie niemals vorher gesehen wurden. Die Summe jedes Zeichens war in der Person des Herrn anwesend. Doch es gab weder Augen, um zu sehen, noch Ohren, um zu hören, noch ein Herz, um anzunehmen, was Gott in Christus gab. Er wandte sich deshalb schroff von ihnen ab, betrat ein Schiff und fuhr zum anderen Ufer. In Wirklichkeit war die Zeit für Zeichen fast vorbei. Sie waren in Unzahl gegeben worden. Es ist jedoch nie die Weise Gottes, die Anzahl der Zeichen zu vervielfältigen, wenn der Anlass, für den die Zeichen bestimmt waren, nicht mehr vorliegt. Obwohl sie am Anfang eines Zeugnisses von Gott Personen erwecken können, vereitelt ihre Fortdauer später doch das sittliche Ziel, welches Er im Auge hat – falls sie nicht sogar ihren Charakter als Zeichen verlieren. Ein Wunder ist kein Wunder mehr, wenn es ständig geschieht.

Doch eines war noch wesentlicher als diese Fragen: Die Wahrheit Gottes war in jeder möglichen Form vorgestellt worden. Es waren alle möglichen äußeren Zeugnisse, Zeichen und Bestätigungen gegeben worden, um das auserwählte Volk zu wecken, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln und sie zum Herrn zu ziehen. Es mangelte nicht an Zeichen; es mangelte an Glauben. Darum gebot der Herr den Jüngern, als Er zur anderen Seeseite fuhr, sich vor dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes zu hüten. Wir müssen beachten, dass hier die Sadducäer nicht erwähnt werden! Das Sadducäertum ist zweifellos ein vernichtendes Übel; doch es ist nicht das gefährlichste. Der Sauerteig der Pharisäer, wenn nicht auch des Herodes, kann einen schlimmeren Charakter annehmen und ein größeres Hemmnis bei dem Bekennen Christi sein. Denn was ist der Sauerteig der Pharisäer? Er ist das Anhangen an äußeren religiösen Formen jeder Art, was praktisch den Herrn und seinen Christus verbirgt. Er ist eine Folge des Einflusses der Überlieferung und mag in vielem sehr rechtgläubig sein. Aber es ist eine Religion – das Ich –, das angebetet wird und nicht der wahre und lebendige Gott, der sich in seinem Sohn bekannt gemacht hat. Das Nächste ist der Sauerteig des Herodes. Hier handelt es sich um Weltlichkeit. Man sucht das, was in dieser Welt Ansehen verleiht oder sich ihr anpasst. Das sind zwei der großen Gefahren, gegen die Christen zu wachen haben. Die Jünger verstanden den Herrn nicht. Sie dachten, Er spräche von Broten. „Sie überlegten miteinander [und sprachen]: Weil wir keine Brote haben“ (V. 16). Manchmal wundern wir uns über eine solche Dummheit bei den Jüngern. Aber wenn wir über unsere eigene Lebensgeschichte nachdenken, entdecken wir dann nicht auch unsere eigene Schwerfälligkeit, das Wort Gottes zu verstehen, und unsere Trägheit, Seinem Willen zu folgen und in ihm zu wandeln?

Ach, es ist zu sehr ein Bild von unserem eigenen Hinken und von unseren Schwierigkeiten. Sie entstehen aus dem Mangel, die Wahrheit, Gnade und Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus wahrzunehmen. Und der Grund dafür liegt darin, dass wir mit so wenig Selbstgericht unseren Weg gehen. Unser verborgener Eigenwille verdunkelt uns Gottes Gedanken in der Bibel. Wenn unser Auge einfältig wäre und wenn wir im Geist einer demütigen Abhängigkeit wandeln würden, indem wir nichts anderes tun, als dem Herrn zu folgen, dann wären neun Zehntel unserer Schwierigkeiten zu Ende. Doch wir haben sowohl eine neue als auch eine alte Natur. Letztere sollten wir schonungslos richten. Durch die Barmherzigkeit Gottes sind wir nicht im Fleisch, sondern im Geist. Aber der alte Mensch sucht sich einzudrängen und die Oberhand zu gewinnen und so den Gläubigen zu hindern, Christus einfältig und völlig nachzufolgen.

Das war es, was unter den Jüngern wirkte. Sie hielten die Pharisäer für achtbare Menschen und waren auf die umfassende Verurteilung seitens ihres Meisters nicht vorbereitet. Nur in Christus gibt es eine Befreiung von diesen Hindernissen und Schlingen. Und wir können unmöglich praktisch in der Kraft Christi wandeln, wenn das Fleisch nicht gerichtet ist. Unser Herr tadelte die Jünger aufs nachdrücklichste. „Was überlegt ihr, weil ihr keine Brote habt? Begreift ihr noch nicht und versteht auch nicht? Habt ihr euer Herz verhärtet?“ (V. 17). Es war wirklich so. Unser Herr behandelte die Angelegenheit durchgehend als eine Sache des Herzens und nicht als ein Versagen des Verstandes. Für uns ist wichtig, dass wir uns daran gewöhnen, die Dinge entsprechend ihrer sittlichen Wurzeln zu richten. Wenn wir einen falschen Weg gehen – hüten wir uns vor jeglicher Entschuldigung! Falls wir es dennoch tun, dann erhalten wir weder auf dem Weg irgendeinen Gewinn noch am Ende einen Sieg. Wir müssen das ausfindig machen, was den Fehler verursachte. Was war seine Quelle? Was veranlasste uns dazu? Christus war nicht unser einziger Beweggrund!

Ich glaube, dass wir nie etwas falsch machen, wenn einzig und allein Christus vor uns steht. Das heißt nicht, dass das Fleisch nicht mehr in uns ist. Doch nicht das Fleisch, sondern der Heilige Geist wirkt in uns mächtig, wenn uns ausschließlich Christus als wirksame Quelle im Herzen antreibt. Welchen Wert haben Zügellosigkeit oder die Wertschätzung seitens der Welt für einen Menschen, der von Christus erfüllt ist? Das war es, was der Apostel so eifrig für die Heiligen in Ephesus wünschte: „Dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne“ (Eph 3,17). Es ging nicht einfach darum, dass sie Christus als ihren Retter besitzen, bzw. als ihrem Herrn gehorchen sollten, sondern dass sie Ihn durch den Glauben in ihren Herzen wohnen hatten. Dann ist die Seele so von Christus erfüllt, dass jeder andere Gegenstand ausgeschlossen wird. Christus wohnt dort als der Schatz des Herzens. Und welche Kraft ist dann vorhanden, um klar zu sehen und Christus entsprechend zu handeln, wenn diese Bedingung erfüllt wird! Was ist dagegen die Wirkung eines ungerichteten Willens? Wir sind jetzt Kinder des Lichts, Licht in dem Herrn. Das Licht für uns befindet sich jedoch nur in Ihm; und wir sehen es nicht, wenn wir praktisch weit vom Herrn entfernt denken oder sprechen oder handeln. Daran liegt es, wenn wir uns weder an seine Handlungen erinnern, noch Ihn selbst verstehen.

Die Heilung des Blinden von Bethsaida ist nicht nur eine treffende, sondern auch eine liebliche Belehrung. Unser gesegneter Herr zeigte, wie ich sagen möchte, schon vor der Ausführung des Wunders und auch in der Art der Heilung jedes mögliche Interesse an dem Fall. „Und er fasste den Blinden bei der Hand und führte ihn aus dem Dorf hinaus; und er tat Speichel in seine Augen, legte ihm die Hände auf und fragte ihn, ob er etwas sehe“ (V. 23). Er handelt wie jemand, der tief betroffen ist und herzlich auf jede Einzelheit eingeht. Dies ist das einzige Beispiel im Markusevangelium, wo die Heilung schrittweise erfolgte. So weit ich weiß, ist dies tatsächlich das große beständige Zeugnis bezüglich mehrerer Schritte bei der Heilung von Blindheit. Wir haben in Johannes 9 das berühmte Wunder, wo dem Blindgeborenen genauso wenig durch eine einmalige Handlung das Gesicht gegeben wurde. Doch in dem Fall vor uns liegt eine bemerkenswerte Besonderheit. Wir finden hier die Wahrheit, dass zwei Dinge nötig sind, damit ein Mensch sehen kann, der noch nie gesehen hat. Das eine ist die Fertigkeit zu sehen, das andere die Befähigung, diese Fertigkeit anzuwenden. Nehmen wir an, einem Blinden sei das Sehvermögen mitgeteilt worden – daraus folgt nicht, dass er hinterher richtig sehen kann. Er könnte keine Entfernungen abschätzen oder die verschiedenen Gegenstände vor seinen Augen genau einordnen. Um solche Gegenstände richtig bewerten zu können, muss man unbedingt das Sehen, Abschätzen, usw. gewohnt sein. Das gilt nicht nur für andere Geschöpfe, sondern auch für den Menschen. Wir erwerben diese Fähigkeit nach und nach. Allerdings, da wir in der Kindheit langsam heranwachsen, übersieht man das meistens. Die Ausübung des Sehens ist so bedeutsam und wichtig, dass jemand, der niemals gesehen hat und plötzlich das Sehvermögen erhält, zunächst nicht durch einfaches Anblicken entscheiden kann, ob ein Gegenstand eckig oder rund ist. Dabei mochte er durchaus gewohnt gewesen sein, diese Gegenstände durch Abtasten zu unterscheiden. Das ist ein interessanter Gesichtspunkt, welcher anscheinend hier in der Heilung des Blinden von Bethsaida angedeutet werden soll. Dieselbe Schlussfolgerung wurde vor kaum zweihundert Jahren1  als Deduktion der menschlichen Wissenschaft gezogen.2 Hier wird sie schon achtzehnhundert Jahre lang im Wort Gottes stillschweigend vorausgesetzt.3

Zuerst nahm der Herr den Mann bei der Hand und führte ihn aus der Stadt heraus. Danach wandte Er auf seine Augen das an, was aus seinem Mund kam, und legte seine Hände auf ihn; denn hier ist Er überall der wahre Knecht. Es genügte nicht, dass die Aufgabe ausgeführt wurde; die Art der Ausführung musste so sein, dass Gott verherrlicht und das Herz des Geheilten gewonnen wurde. Welch eine Aufmerksamkeit! Welche Herablassung! Welche Mühe nahm Er sozusagen auf sich! Ein Wort hätte genügt. Aber der Knecht-Sohn Gottes trat vollständig in den Fall ein und fragte den Patienten, „ob er etwas sehe“, obwohl allein Ihm in dieser Sache alles vollständig bekannt war (V. 23). Selbst in Johannes 9, wo die Augen mit einem Pflaster aus Erde gesalbt worden waren und der Blinde hinging, um sich im Teich Siloam zu waschen, folgte die Heilung unmittelbar. In dem Fall vor uns gab es einen besonderen Grund, nicht das übernatürliche Heilmittel, sondern seine Wirkung aufzuteilen. Der Herr zeigte eine Ausübung der göttlichen Macht, die auf den ersten Blick nicht so eindrucksvoll erscheint wie sonst, wo ein Wort oder eine Berührung genügte. Der Mann blickte auf und sagte, dass er Menschen sähe; denn er sah Personen, die wie Bäume umher wandelten. Es besteht kein geringer Unterschied zwischen einem Menschen und einem Baum; doch er konnte sie noch nicht unterscheiden, insbesondere da er, wie ich vermute, blind geboren worden war.4 Alles vor ihm war unbestimmt. Er konnte sicherlich – und tat es zweifellos auch – in seinem blinden Zustand leicht durch Anfassen einen Baum von einem Menschen unterscheiden. Er hatte jedoch noch nicht gelernt, seine neu gewonnene Sehfähigkeit zu gebrauchen; und das Wunder halbierte absichtlich den Heilungsprozess. Sein Verstand konnte kaum die Menschen, die sich bewegten, mit Bäumen verwechseln. Aber sein Sehvermögen zeigte, dass Menschen und Bäume in manchem gleich waren. Sie wandelten umher wie Bäume. Bis jetzt war für ihn alles nur verwirrend. Offensichtlich fehlte die Fähigkeit, die gerade erhaltene Gabe mit Unterscheidungsvermögen zu nutzen.

„Dann legte er wieder die Hände auf seine Augen, und er sah deutlich, und er war wiederhergestellt und sah alles klar“ (V. 25). „Er hat alles wohlgemacht“ (Mk 7,37). Das ist ein Satz, der besonders ins Markusevangelium gehört. Deshalb wird diese Wahrheit überall veranschaulicht. Und sie ist auch das große Thema, welches wir hier herausgestellt sehen. Der Herr handelte nicht nur in dem, was Er tat, mit nie nachlassender Energie, sondern die Art, in der Er wirkte, war auch nicht weniger bewundernswert „Er hat alles wohlgemacht“. Und nie wurde diese Wahrheit so deutlich gezeigt wie bei dem zweiten Auflegen der Hände des Herrn auf die halbgeöffneten Augen, durch welche der Blinde von Bethsaida die Fähigkeit erhielt, alle Menschen klar zu sehen. „Und er schickte ihn in sein Haus und sprach: Geh nicht in das Dorf“ (V. 26).

Als nächstes finden wir das gute Bekenntnis – nicht das des Herrn Jesus vor Pontius Pilatus (1. Tim 6,13), sondern das des Petrus vor dem Herrn im Gegensatz zu einem ungläubigen Geschlecht. Der Herr stellte seinen Jüngern die Frage: „Wer sagen die Menschen, dass ich sei? Sie aber antworteten ihm und sagten: Johannes der Täufer; und andere: Elia; andere aber: Einer der Propheten“ (V. 2728). Überall war Ungewissheit; und allein dahin kann der Mensch trotz all seiner Mühe und aller anstrengenden Versuche jemals gelangen. Die krampfhafte, mühselige Untersuchung von Dingen, die zu hoch für dasselbe sind, endet für ein Geschöpf nur in Verwirrung und bitterer Entmutigung. Sie erweist den Menschen als vollkommen in der Finsternis und völlig unfähig, das zu erkennen, was schließlich allein von höchster Bedeutung ist. Die einen sagen dieses, die anderen jenes. Aber wer von all diesen Söhnen der Menschen konnte das Richtige sagen?

„Und er fragte sie: Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei? Petrus antwortet und sagt zu ihm: Du bist der Christus“ (V. 29). Wir haben hier nicht wie im Matthäusevangelium den Ausspruch des Herrn: „Glückselig bist du, Simon Bar Jona“ (Mt 16,17). Wie kommt das? Wir haben hier auch nicht wie dort die bemerkenswerte Anrede an Petrus: „Du bist Petrus; und auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“ (Mt 16,18). Warum gibt es all diese Unterschiede? Weil Petrus hier vorgestellt wird, als hätte er nur gesagt: „Du bist der Christus. „Wenn hinzugefügt wird, dass er den Herrn als den „Sohn des lebendigen Gottes“ bekannte (Mt 16,16), wird auch besonders erwähnt, dass er glückselig sei, „denn Fleisch und Blut haben es dir nicht offenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist“. Ein so einzigartig herrliches Bekenntnis führte zu der Anerkennung der Gnade seines Vaters an Simon, Bar Jona, durch den Heiland. Daraufhin übte auch der Herr seine Rechte aus und gab ihm den neuen Namen „Petrus“ und fügte hinzu: „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“. Er war der Sohn des lebendigen Gottes. Wäre Er nur der Christus, der Messias Israels, gewesen, hätte das keine ausreichende Grundlage für die Kirche ergeben. Seine messianische Würde – in welcher Er nach Psalm 2 ebenso als Sohn Gottes angesprochen wird – wäre ein ausreichender Felsen für Israel gewesen; denn das war der Gegenstand ihres Glaubens und ihrer Hoffnung. Doch die Worte „der Sohn des lebendigen Gottes“ waren eine Offenbarung seiner Herrlichkeit, welche die messianische weit übertraf.

In dem Augenblick, als der Herr in dieser seiner erhabensten Herrlichkeit erkannt und bekannt wurde, begann Er zum ersten Mal den Bau seiner Versammlung (Kirche) anzukündigen. Jenes neue Bauwerk, das den Platz Israels, welches Christus verwarf, einnehmen sollte, ist gegründet auf Ihn, der nicht nur der Christus, sondern auch der Sohn des lebendigen Gottes ist. Deshalb folgen danach die Hinweise auf Tod und Auferstehung, die Ihn nicht nur als Sohn Gottes in Kraft erwiesen, sondern auch dem Christen und der Kirche ihren angemessenen Charakter mitteilen (2. Kor 5,15–19; Eph 1 und 2). Auf diesen Felsen ist die Versammlung gebaut. Was könnte klarer zeigen, dass diese etwas ganz und gar Neues ist? Der Versuch, die Bedeutung der Kirche in den Zeiten des Alten Testaments aufzuspüren, beweist nur, dass die wahre Natur des gegenwärtigen Tempels Gottes unbekannt ist.

Es ist wichtig, die Punkte des Unterschiedes und Gegensatzes zu sehen. Wenn man jüdische Pflichten, Erfahrungen und Hoffnungen mit der Offenbarung unseres Herrn, nachdem das Volk Ihn verworfen hat, verwechselt, löscht man zwar nicht jede Wahrheit aus, doch jeden Charakterzug der notwendigerweise zu dem „einen neuen Menschen“ gehört (Eph 2,15). Wenn man die volle Entfaltung der Person unseres Herrn im Neuen Testament und die daraus folgenden Verpflichtungen und Freuden des Christen nicht beachtet, nimmt man das weg, was insbesondere dem Christen und der Kirche Gottes obliegt. Diese Gedanken zeigen, wie wichtig es für unsere Seelen ist, auf die Schrift zu achten. Es gibt Gläubige, die so mit menschlicher Überlieferung angefüllt und so unbewandert in den haushälterischen Wegen Gottes sind, dass ihnen die Vorstellung, die Kirche als Teil des Geheimnisses, das vor den Zeitalter verborgen war und erst seit Pfingsten offenbart ist, zu sehen, wie eine Wiederbelebung des monströsen und bösen Irrtums der Manichäer5  erscheint. Das Wort Gottes drückt sich jedoch nichtsdestoweniger klar und eindeutig über diese Wahrheit aus. Und Christen sollten lieber die Schriften untersuchen als tadeln, damit sie nicht etwa als solche gefunden werden, die gegen Gott streiten.

Das war also der weite Ausblick, der auf das hohe Bekenntnis des Petrus im Matthäusevangelium antwortete. Der Geist Gottes berichtet im Markusevangelium nur einen Teil jenes Bekenntnisses. Da Er absichtlich den einzigartigsten Teil desselben („der Sohn des lebendigen Gottes“) auslässt, so finden wir auch, und mit gleicher Absichtlichkeit, die Antwort des Herrn nur zum Teil angeführt. Die Wahrheit, dass Er der Sohn des lebendigen Gottes ist, konnte, wie wir gesehen haben, zwar jetzt schon anerkannt, aber noch nicht frei und vollständig herausgestellt werden, bevor unser Herr durch Sterben und Wiederauferstehen sozusagen das Siegel auf diese großartige Wahrheit gelegt hatte. Darum war erst der Apostel Paulus der große Zeuge von ihr. Das erste Zeugnis, dass er in der Synagoge nach seiner Bekehrung ablegte, besagte nach Apostelgeschichte 9,20, dass Christus nicht nur zum Herrn gemacht wurde, sondern auch „der Sohn Gottes ist“. Folglich verkündigte er auch die Berufung, die Natur und die Hoffnungen der Kirche Gottes in einer Weise wie niemand sonst.

Ich möchte jedoch die Aufmerksamkeit auch darauf lenken, dass, obwohl Petrus hier nur sagt: „Du bist der Christus“, unser Herr ihnen dennoch befiehlt, niemand davon zu sagen. So handelt Er in allen drei synoptischen Evangelien. Diesen Gesichtspunkt der Unterweisung sollte man wohl beachten! Denn zuerst hatte Er sie gefragt: „Wer sagt ihr, dass ich sei?“ Dann, nachdem Er das Bekenntnis über seine Person von Petrus gehört hatte, verpflichtete Er sie, niemand davon zu erzählen. Wie kommt das? Dazu war es zu spät! Er hatte dem Volk ausreichend Beweise gewährt. Die Zeit war vorbei, Ihn weiter als den jüdischen Messias vorzustellen. Es war dem Volk genug erzählt worden; und wer sagte dieses Volk, dass Er sei? Etwas anderes steht jetzt vor Ihm, und Er macht es auch den Jüngern, seinen Freunden, bekannt. Er würde weggehen. Deshalb zieht Er sich zurück auf eine andere Herrlichkeit, die Ihm gehört. Wenn Er als „Sohn Davids“ verworfen wurde, dann wurde Er durch den Glauben als „Sohn des lebendigen Gottes“ anerkannt. Doch Er ist auch der „Sohn des Menschen“. Er stand im Begriff, bis zum Tod erniedrigt zu werden; und das konnte nur in seiner menschlichen Natur geschehen. So wird Er auch dereinst als Sohn des Menschen in seiner Herrlichkeit zurückkehren (vgl. V. 31 mit V. 38).

„Und er gebot ihnen ernstlich, dass sie niemand von ihm sagen sollten. Und er begann sie zu lehren, dass der Sohn des Menschen vieles leiden und verworfen werden müsse von den Ältesten und den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten und dass er getötet werden und nach drei Tagen auferstehen müsse“ (V. 30–31). So lässt Er den Titel „Christus“ fallen und besteht auf seiner Stellung als Sohn des Menschen, und zwar zuerst in seinen Leiden von Seiten der Häupter Israels. Er sollte getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. „Und er redete das Wort mit Offenheit“ (V. 32). Er verbot ihnen, Ihn als Messias bekannt zu machen; dieses Zeugnis war jetzt beendet. Es hatte keinen Zweck mehr, davon zu reden. Die Juden hatten Ihn als Messias verworfen und würden es noch unmissverständlicher tun. Er hatte ihnen in jeder möglichen Weise und in ausreichendem Ausmaß Zeugnis abgelegt. Die einzige Wirkung war, dass sie, und ganz besonders ihre religiösen Führer, Ihn immer erbitterter und ungläubiger ablehnten. Die Folge sollte sein Tod sein, wie Er seinen Jüngern öffentlich erklärte. Als Sohn des Menschen würde Er leiden, und als Sohn des Menschen sollte Er am dritten Tag auferweckt werden. Letzteres ist die wahre Voraussetzung für seine baldige Herrlichkeit. Folglich werden wir am Ende des Kapitels finden, wie der Sohn des Menschen in Herrlichkeit mit seinen heiligen Engeln wiederkommt und sich seiner Verwerfer und aller Ungläubiger schämen wird. Das wird die gerechte Vergeltung für diejenigen sein, die sich seiner Person und seiner Worte vor seiner Ankunft in Herrlichkeit geschämt haben.

Doch ein anderes Detail von großer Wichtigkeit muss, bevor wir das Kapitel abschließen, beachtet werden. Wir finden in den Juden, diesen bevorzugtesten Menschen, einen Beweis von dem, was der Mensch ist. Die Ältesten und Priester und Schriftgelehrten waren die rührigsten bei der Verachtung und Verwerfung des Sohnes des Menschen. Auch seine Jünger fanden keinen Geschmack an seiner Schande. „Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihn zu tadeln. Er aber wandte sich um, und als er seine Jünger sah, tadelte er Petrus, und er sagt: Geh hinter mich, Satan! Denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, sondern auf das, was der Menschen ist“ (V. 3233). Was für eine ernste Lehre! Der Herr fand es zu jener Zeit, als Er, wie Matthäus zeigt, den Simon glückselig nannte und besondere Ehre auf ihn legte, nötig, ihn so streng zu tadeln! Wie wertlos ist eine fleischliche Gesinnung selbst in dem Ersten der zwölf Apostel! Als Er Petrus wegen seines fleischlichen Abscheus vor dem Kreuz Christi tadelte, musste Er sagen: „Geh hinter mich, Satan!“; denn es waren der Unglaube, die Selbstsucht und die Anmaßung des Fleisches, die in Simon wirkten. Und sein Tadel war noch mehr nötig, weil sie sich unter einem frommen Äußeren verbargen. Er sagte allerdings niemals zu einem Heiligen: „Geh hinweg, Satan“. Das sagte Er zum Teufel, als Er die Anbetung, die allein Gott zustand, forderte (Mt 4,10).

Was war es, das diese Entrüstung des Herrn hervorrief? Die Schlinge, der wir alle ausgesetzt sind! Das Verlangen, uns zu retten! Das Vorziehen eines leichten Weges anstelle des Kreuzes! Stimmt es nicht, dass wir natürlicherweise gerne Versuchung, Schande und Verwerfung meiden möchten? Dass wir vor den Leiden zurückschrecken, welche die Ausführung des Willen Gottes in einer Welt wie dieser immer nach sich zieht? Dass wir es vorziehen, einen ruhigen, angesehenen Pfad auf dieser Erde zu gehen? Kurz gesagt: Lieben wir nicht, das Beste beider Welten genießen zu können? Wie leicht wird man von diesen Gedanken umgarnt! Petrus konnte nicht verstehen, warum der Messias diesen ganzen Weg des Leidens gehen musste. Wären wir dabei gewesen, dann hätten wir wahrscheinlich noch Schlimmeres gesagt oder gedacht. Der Einspruch des Petrus geschah nicht ohne starke menschliche Gefühle. Auch liebte er den Heiland von Herzen. Aber ihm selbst unbewusst war in ihm der ungerichtete Geist der Welt. Er konnte es nicht ertragen, dass ihr Meister so entehrt werden und leiden sollte. Er bezweifelte auch die Bosheit des Menschen. Konnten die Ältesten, Hohenpriester und Schriftgelehrten überhaupt so schlecht sein? Darüber hinaus mangelte es ihm an Verständnis darüber, dass es keinen anderen Weg gab, um den Menschen zu erretten, und dass nur durch dieses Mittel Gott in Bezug auf die Sünde des Menschen verherrlicht werden konnte (Joh 13,31). Der Herr musste bis zum Tod leiden, und zwar sowohl unter der Hand Gottes wie auch des Menschen. Sonst gab es keine Errettung. Gott verhüte, dass wir uns irgendwie rühmen außer in dem Kreuz, durch welches uns die Welt gekreuzigt ist und wir der Welt (Gal 6,14)!

Alle sollten diese Wahrheit kennen – das Volk, die Volksmengen und auch die Jünger. So sagte Jesus: „Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach. Denn wer irgend sein Leben erretten will, wird es verlieren; wer aber irgend sein Leben verlieren wird um meinet- und des Evangeliums willen, wird es erretten. Denn was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine Seele einbüßt? Denn was könnte ein Mensch als Lösegeld geben für seine Seele? Denn wer irgend sich meiner und meiner Worte schämt unter diesem ehebrecherischen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Sohn des Menschen schämen, wenn er kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln“ (V. 34–38).

Fußnoten

  • 1 Man muss bedenken, dass Kelly seine Auslegung vor mehr als hundert Jahren schrieb (Übs.).
  • 2 „Ich möchte hier ein Problem des sehr geistreichen und wissensdurstigen Förderers der wahren Erkenntnis, des gelehrten und würdigen Herrn Molineaux, einfügen, das er mir vor einigen Monaten in einem Brief zu schicken geruhte. Das Problem ist: Man nehme an, ein Mensch ist blind geboren worden und jetzt erwachsen. Er habe gelernt, durch Anfassen zwischen einem Würfel und einer Kugel aus demselben Metall und von ungefähr gleicher Größe zu unterscheiden, sodass er, nachdem er sie angefasst hat, sagen kann, was der Würfel und was die Kugel ist. Nehme man weiter an, der Würfel und die Kugel werden dann auf einen Tisch gelegt und der Blinde sehend gemacht. Die Frage ist: „Kann er sie, bevor er sie anfasst, durch einfaches Anblicken erkennen und kann er sagen, welches Gebilde der Würfel und welches die Kugel ist?“ Darauf antwortet der scharfsinnige und einsichtsvolle Fragesteller: „Nein! Denn obwohl der Blinde aus Erfahrung weiß, wie ein Würfel oder eine Kugel sein Tastgefühl anspricht, hat er doch noch nicht die Erfahrung gemacht, dass das, was sein Tastgefühl so oder so anspricht, sein Sehvermögen so oder so ansprechen muss. Er weiß nicht, dass die vorstehende Ecke eines Würfels, die seine Hand ungleichmäßig drückt, seinen Augen in einem Würfel so erscheint, wie er sie wahrnimmt.“ Ich stimme mit diesem Herrn ... in seiner Antwort auf dieses Problem überein. Ich bin der Überzeugung, dass der Blinde auf dem ersten Blick nicht mit Gewissheit sagen könnte, was die Kugel und was der Würfel ist, wenn er sie nur zu sehen bekäme. Trotzdem könnte er sie irrtumslos durch Betasten benennen und sie gewisslich aufgrund des gefühlten Unterschieds in ihrer Gestalt auseinanderhalten. Das habe ich hier niedergeschrieben, um meinem Leser die Gelegenheit zu geben, dass er bedenke, wie sehr er der Erfahrung, der Erziehung und den erlernten Ansichten zu Dank verpflichtet ist, wo er meint, dass er nicht den geringsten Nutzen oder irgendeine Hilfe daraus empfangen habe. Und es ist umso wichtiger, weil dieser aufmerksame Herr weiter hinzufügt, dass er aufgrund meines Buches diese Erkenntnis verschiedenen sehr geistreichen Männern vorgestellt habe. Doch er traf kaum auf jemanden, der ihm auf Anhieb die Antwort gab, die er für richtig hielt, bevor dieser nicht nach Anhörung der Argumente überzeugt wurde.“ – Locke's Works, vol. I, p. 124, Ed. 10 (W. K.). (John Locke (1632–1704): engl. Philosoph der Aufklärung) (Übs).
  • 3 „Eine interessante Bestätigung dieser „Deduktion der menschlichen Wissenschaft“, auf die sich W. K. im Text und seiner Fußnote bezieht, gibt der kürzlich berichtete Fall eines Patienten einer Londoner Augenklinik. Nach dreißig Jahren Blindheit von seiner Geburt an erhielt dieser Patient nach mehreren heiklen und schwierigen Operationen am Sehorgan das Sehvermögen. Dieser Fall wird als der erste bezeichnet, der in der Augenchirurgie bekannt ist. Wie in dem von Lock zitierten angenommenen Fall erschien dem Patienten, der bisher mit den Fingern „gesehen“ hatte, der Sehakt seltsam und verwirrend. Obwohl er durchaus eine rege geistige Kraft und eine geschulte Intelligenz besaß, erforderte, wie man fand, der Vorgang des Unterscheidens verschiedener Gegenstände, wie Gesichter, Blumen, Möbelstücke, Buchstaben und dergleichen eine schrittweise Ausbildung. Diesen Übergangszustand veranschaulicht der Mann aus dem Evangelium, welcher Menschen sah,,die wie Bäume umherwandeln'“ (W. J. H., 1934).
  • 4 Ich denke nicht, dass sein Vergleich der unklar gesehenen Menschen mit Bäumen, die Ansicht widerlegt, dass er blind geboren worden war, wie einige daraus schließen möchten. (W. K.)
  • 5 Manichäismus: Weltreligion der Antike und des frühen Mittelalters, die sich z. T. mit christlichen Lehren vermischte (Übs.).
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