Eine Auslegung des Markusevangeliums
Kapitel 7
In diesem Kapitel ist die Szene völlig verändert. Wir sehen nicht länger die Erfüllung der Verheißungen, noch nicht einmal das Zurückziehen vor der tyrannischen Grausamkeit dessen, der damals die weltliche Autorität innehatte. Hier beschäftigt sich der Herr in sittlicher Hinsicht mit den religiösen Häuptern von Jerusalem und richtet sie. In ihrer Selbstsicherheit und ihrem Stolz unternahmen sie es, seine Jünger und damit Ihn selbst zu tadeln.
Dabei waren sie selbst es, die das Wort Gottes durch ihre Überlieferung ungültig gemacht hatten. So befinden wir uns auf einem Boden, der von besonderer Bedeutung für die gegenwärtige Zeit – und für alle Zeiten – des Christentums ist. Denn es gab niemals eine Zeit, seitdem das Wort Gottes teilweise oder vollständig der Kirche (Versammlung) Gottes übergeben worden war, in der diese Gefahr nicht bestand. Die Überlieferungen vermehrten sich schnell, nachdem die Apostel abgeschieden waren. Da das Wort Gottes, und vor allem das Neue Testament, nicht einfach in der Form von Geboten abgefasst war, stand das Christentum dem Einfluss der Tradition besonders offen. Im jüdischen System wurde alles durch Vorschriften geregelt. Es war in der jüdischen Haushaltung ganz natürlich und unverkennbar, dass Gott das ganze Zusammenleben des Volkes regulierte. Er gab ausdrückliche Anweisungen zum Staatswesen und überließ kaum etwas dem Ermessen seines Volkes. Stattdessen schrieb Er ihm seine privaten und öffentlichen Verpflichtungen, sei es hinsichtlich des persönlichen, familiären und sozialen Lebens, sowie ihre religiösen und politischen Pflichten vor. Tatsächlich wurde alles zu einer Angelegenheit eines eindeutigen Gebotes gemacht. Und dennoch blieb sogar in jenem System das Abweichen vom lebendigen Gott im Herzen des Menschen so eingewurzelt, dass die Führer der Juden das Volk von den ausdrücklichen Geboten Gottes wegleiteten, indem sie dasselbe unter die Autorität ihrer Überlieferung stellten.
Wie kommt es, dass ständig das Bestreben im Herzen der Menschen, und vor allem jener, welche die Stellung von Führern des Volkes Gottes – egal, wann und wo man sie betrachtet – einnehmen, dahin geht, das Wort Gottes durch ihre Überlieferung zu ersetzen? Weil die Überlieferung dem Menschen Bedeutung verleiht und dem Ich einen Vorzug gibt! Infolgedessen lieben es die religiösen Führer, ihren Selbstwert durch das Aufbürden eigener Vorschriften zu erhöhen. Doch auch das Volk hat sie gern. Diese schmerzliche Wahrheit wird im ganzen Wort Gottes herausgestellt. So sind im Alten Testament nicht nur die Priester überall widerspenstig, sondern auch das Volk. Der Mensch war Gott gegenüber niemals unterwürfig, sondern wich ständig von Gott ab, auf welche Weise Gott ihn auch immer erproben mochte. Dieses Verhalten führte also zu einer Streitfrage zwischen dem Herrn und den jüdischen Religionisten.
„Und es versammelten sich bei ihm die Pharisäer und einige der Schriftgelehrten, die von Jerusalem gekommen waren ...“ (V. 1). Soweit es diese Erde anging, hatten sie die höchste Autorität. Sie kamen aus der heiligen Stadt einer sehr alten Religion und waren mit dem Ansehen des göttlichen Gesetzes und seiner Autorität bekleidet. „und sie sahen einige seiner Jünger mit unreinen, das ist ungewaschenen Händen Brot essen“, fanden sie etwas zu tadeln (V. 2). Zweifellos lag in diesem Verhalten kein sittlicher Fehler, nichts, was ihre Seele berührte, bzw. das Verhältnis eines Menschen zu Gott beeinflusste. Doch es widersprach ihrer Überlieferung, und darum ärgerten sie sich. Es ist leicht zu verstehen, dass diese Überlieferung einen frommen Ursprung hatte. In den Gedanken dieser Führer bestand wahrscheinlich eine Vorstellung davon, dass man die Bedeutung einer persönlichen Reinheit vor dem Volk aufrechterhalten müsse; denn das Waschen der Hände könnte dann ein ganz natürliches Zeichen davon sein, dass Gott in den Werken seines Volkes Reinheit sucht und auf Heiligkeit wert legt. Es kommt nicht darauf an, ob es diese Auffassung war oder eine andere, nach der sie den Israeliten ihre Pflicht in den Dingen Gottes vorstellen wollten – auf jeden Fall wurde dieser Brauch von jedem religiösen Bekenner erwartet.
Sie konnten auch indirekt ihre Meinung verteidigen. Zweifellos hatten sie diese dem Wort Gottes entnommen; denn dort gab es gewisse Waschungen, welche die Menschen schon immer ausführten. So sollten die Priester die zu Gott gebrachten Opfer waschen. Sie selbst waren bei ihrer Weihe gewaschen worden und mussten immer ihre Hände und Füße waschen, bevor sie in das Zelt der Zusammenkunft gehen durften. Es erschien vernünftig und folgerichtig, dass dieser gleicherweise einfache wie ausdrucksvolle Ritus von jedem Menschen aus dem heiligen Volk in seinen tagtäglichen gewöhnlichen Verrichtungen beobachtet werden sollte. Wer könnte sich wirklich die Notwendigkeit einer persönlichen Reinheit zu oft vor Augen halten?
Aber genau hier irrten die Menschen sich. Der große Grundsatz des Wortes Gottes besteht darin, dass da, wo der unendlich weise und heilige Gott keine ausdrückliche Anordnung gegeben hat, ein Mensch diese Freiheit nicht verletzen darf. Im Widerspruch hierzu nutzt der Mensch diese Lücke, und macht sich da, wo Gott kein Gesetz gegeben hat, ein eigenes. Gott hat jedoch keine Vollmacht erteilt, auf diese Weise Gesetze zu erlassen. Die Hälfte aller Meinungsverschiedenheiten und Kirchenspaltungen in der Christenheit sind auf diese Ursache zurückzuführen. Die Eile des Menschen, eine Schwierigkeit zu lösen, nimmt zu solchen Maßnahmen ihre Zuflucht. Eine weitere Ursache ist das Verlangen des Menschen, seinen eigenen Willen dort durchzusetzen, wo Gott nicht ausdrücklich etwas bestimmen wollte, sondern die Dinge als eine Probe für das Herz offen gelassen und absichtlich von einem Gebot Abstand genommen hat. Es kann niemand überraschen, dass das, was auf eine solche Weise eingeführt wurde, fast immer böse ist. Doch angenommen, die auferlegte Bestimmung erscheine noch so wünschenswert, so ist das zugrundeliegende Prinzip immer falsch.
Mein Verlangen ist, sehr großen Nachdruck darauf zu legen, dass man außer dem Wort Gottes, wie es jetzt geschrieben vorliegt, keiner Regel irgendeine Autorität gibt. Es ist gut, auf Menschen Gottes zu hören, sich von Knechten Gottes helfen zu lassen und eine Auslegung der Wahrheit zu schätzen – doch das ist etwas ganz anderes als ein verbindliches Regelwerk oder ein Glaubenbekenntnis, welches die Menschen als bindend auf das Gewissen legen. Es ist niemals richtig, etwas, das vom Menschen kommt, anzunehmen. Allein Gott und sein Wort verpflichten das Gewissen. Seine Knechte sollen lehren; und wenn sie richtig lehren, dann ist es die Wahrheit Gottes. Sie sorgen dafür, dass das Wort Gottes seinen Einfluss auf das Gewissen ausübt. Deshalb wird auch niemand, der die Stellung eines Knechtes Gottes versteht, wünschen, eine solche vermischte Verpflichtung hervorzurufen, indem er seine eigenen Gedanken und Worte für verbindlich erklärt. Seine richtige Aufgabe als Knecht Gottes besteht vielmehr darin, die unverhüllte Oberhoheit des Wortes Gottes aufrechtzuerhalten, sodass das Gewissen unter ein zunehmend wirksameres Gefühl seiner Verpflichtung gestellt wird. Wann immer ein Werk gut ausgeführt und durch die Gnade Gottes gesegnet worden ist, sind alle weiteren Fragen gelöst.
Das ist das wahre Ziel eines Dienstes, wie ihn die Schrift anerkennt. Sie stellt ausreichend heraus, dass die Gewissen der Menschen geweckt werden sollen. Der Geist Gottes gibt ihm die göttliche Kraft, sodass den Seelen keine Entschuldigung mehr bleibt. Sogar bei der Predigt des Evangeliums steht jeder unbekehrte Mensch unter der Verantwortung, das Zeugnis Gottes anzunehmen. Das gilt in göttlichen Dingen noch mehr, nachdem wir die Wahrheit angenommen und den Platz und den unschätzbaren Wert des Wortes Gottes entdeckt haben. Welche Hilfestellung auch immer Menschen gegeben haben und wie stark das Licht Gottes auch immer durch die Werkzeuge, die Gott benutzte, schien – es ist von allumfassender Bedeutung, dass unsere Seele festhält, dass es dennoch Gottes Licht, Gottes Wahrheit, ist. Nichts außer dem Wort Gottes darf als verbindlich anerkannt werden.
Sicherlich ist es jetzt nicht die Aufgabe eines Christen, eines Knechtes Gottes, zwischen dem Menschen und Gott zu stehen. Das war die Stellung des Priesters im Judentum. Der Christ soll die verhüllenden Hindernisse wegräumen, damit der Mensch sich der Wahrheit, und in Wirklichkeit Gott selbst, gegenübergestellt sieht, ohne ausweichen zu können, und damit das Licht, das von Gott ausgeht, voll auf das Gewissen und das Herz des Menschen scheinen kann. Das gefällt dem sich selbst überlassenen Menschen nicht. Es missfällt der Welt, die eine gewisse Zurückhaltung vorzieht. Und diese Pharisäer und Schriftgelehrten waren, obwohl sie aus Jerusalem kamen, in Wirklichkeit von der Welt. Darum überlegten sie in göttlichen Dingen einfach, wie Menschen es normalerweise tun, und nach Grundsätzen, die in irdischen Dingen zu Recht gültig sind. Das Wort war in ihren Herzen nicht mit dem Glauben verbunden (Heb 4,2).
Zweifellos überlässt Gott den Menschen in der natürlichen Welt weitgehend sich selbst, außer dass Er durch die Vorsehung eine gewisse Kontrolle über ihn aufrechterhält. Die Regierung auf der Erde ist in menschliche Hände gelegt. Der Mensch steht unter der Verantwortung, diese Regierung auf der Erde auszuüben bzw. ihr zu gehorchen. Deshalb soll er entsprechend den Mitteln, die Gott ihm gegeben hat, richten. Gott hat dazu gewisse Orientierungszeichen gesetzt. Ein Beispiel ist die Heiligkeit des menschlichen Lebens, welche Gott schon vor der Berufung Abrahams herausstellte und die als Grundsatz damals wie heute verpflichtend ist: „Wer Menschenblut vergießt, durch den Menschen soll sein Blut vergossen werden“ (1. Mo 9,6). Diesen Grundsatz stellte Gott zur Zeit der Sintflut auf. Doch abgesehen von wenigen gleichartigen Ausnahmen ist der Mensch frei, den Umständen entsprechend seine verschiedenen Strafen und Belohnungen in dieser Welt auszuteilen.
In göttlichen Dingen geht es jedoch darum, dass Gott durch sein Wort und seinen Geist mit dem Gewissen, welches Ihm unmittelbar unterworfen ist, handelt. Daraus folgt, dass alles, was die direkte Einwirkung der Schrift von Seiten Gottes auf seine Kinder unterbricht, ein schlimmes Unrecht ist. Der Mensch stellt sich auf den Platz Gottes. Dieses Kennzeichen liefert einen sicheren Hinweis bei der Unterscheidung, ob etwas von Gott ist oder nicht. Wenn man mir von Hilfsmitteln erzählt, um das Wort Gottes zu verstehen, dann weiß ich, dass es diese gibt und dass Gott sie gegeben hat. Es handelt sich um Gegenstände des Dienstes, den Gott eingesetzt hat, um seinem Wort Wirksamkeit zu verleihen. Aber nichtsdestoweniger ist sein Wort das Mittel, um sich mit Sündern zu befassen oder seine Kinder aufzuerbauen. Sicherlich stützen diese Hilfsmittel den Dienst Gottes in seinem Wort und stellen keine konkurrierende oder seinem Wort gleichrangige Autorität dar.
Die Überlieferung ist notwendigerweise anders. Sie geht nicht von Gott, sondern vom Menschen aus. Wir finden schon im Neuen Testament und während der Apostel Paulus noch mitten in seiner Arbeit stand, den Versuch, sie einzuführen. Die Versammlung in Korinth zeigte vielleicht den ersten Versuch des Feindes, menschliche Überlieferung einzuschmuggeln. Die Korinther hatten erlaubt, dass Frauen in den öffentlichen Versammlungen predigten. Der Apostel musste es öffentlich tadeln. Man konnte viel zu Gunsten ihrer Handlungsweise anführen. Die Menschen mochten überlegt haben: Wenn Frauen Gaben haben – warum sollen diese nicht genutzt werden? Wenn Gaben vorhanden sind, um die Wahrheit Gottes herauszustellen – warum sollte man in einer christlichen Versammlung nicht den größten Nutzen daraus ziehen? Das Wort Gottes verbietet das aber ausdrücklich. Es erlaubt, dass eine Frau weissagt; denn die vier Töchter des Evangelisten Philippus, zum Beispiel, weissagten zweifellos (Apg 21,9). Es erheben sich nun die Fragen: Wo und wie? Zu allererst einmal weissagten sie nicht Männern; denn das würde die Ordnung Gottes umkehren. Es ist einer Frau nicht erlaubt, zu lehren oder zu herrschen (vgl. 1. Kor 14,34). Wenn ihnen also erlaubt war, alles an Licht, das sie hatten, und sei es von höchstem Charakter, vorzustellen, dann sollte es in Unterwürfigkeit unter das Wort des Herrn geschehen. Ein Mann ist, wie der Apostel zeigt, Gottes Herrlichkeit (1. Kor 11,7). Hingegen ist die Frau in einer Stellung der Unterordnung. Der Mann hat öffentlich die Stellung des Vorranges vor der Frau (1. Kor 11,3). Es konnte demnach niemals vorausgesetzt werden, dass Gott einer Frau eine Gabe gab, damit sie in einer so wichtigen Angelegenheit den Unterschied aufhob, der vom Anfang der Schöpfung an bestand und der im Neuen Testament anerkannt und auf den dort großer Wert gelegt wurde.
Zudem wurde in einer öffentlichen Versammlung, das Reden der Frau in jeder Form – sogar das Stellen von Fragen – verboten (1. Kor 14,34–40). Sie sollen zu Hause ihre Ehemänner fragen. Gerade die Zulassung des Frauendienstes war es, die den Apostel veranlasste, die Überlieferung zu verurteilen. Die Korinther hatten nämlich anscheinend diesen begabten Frauen erlaubt, in der Versammlung zu reden, und kämpften für diese Freiheit. Doch der Apostel weist sie zurecht und stellt ihnen vor Augen, dass, wenn einige von ihnen wirklich geistlich oder Propheten wären, sie sich dem Wort des Herrn unterwerfen würden. Andererseits, wenn jemand von ihnen unwissend sei, dann sollte er eben unwissend sein. Was für ein Schlag gegen diese möchte-gern weisen Theoretiker, als sie hören mussten, dass ihre Theorien als vorsätzliche Unwissenheit abgetan wurden! „Wenn aber jemand unwissend ist, so sei er unwissend“ (1. Kor 14,38). Diese hochtrabenden Männer waren wirklich unwissend über die Gedanken Gottes.
Offensichtlich ist diese Erkenntnis außerordentlich wichtig, denn sie führt uns zu jener großen Wahrheit, welche die Kirche Gottes vergessen und in allen Zeitaltern mit Füssen getreten hat. Denn das Wort Gottes ist nicht von uns ausgegangen. Wir brauchen das Wort, das von Gott zur Kirche (Versammlung) gelangte, und nicht das, was die so genannte Kirche sich anmaßte auszusprechen. Die Kirche sollte niemals lehren oder herrschen. Was vom Menschen oder von der Kirche kommt, hat überhaupt keine Autorität. Im Gegenteil, die Kirche ist berufen, den Platz der Unterwürfigkeit unter Christus einzunehmen. Sie nimmt nicht die Stellung des Hausherrn, sondern den der Gemahlin ein. Jesus ist der Herr. Er befiehlt der Kirche, welche von Gott in die weibliche Stellung als dem Herrn unterworfen versetzt wurde.
Das führt sofort in der Praxis zu einem bedeutungsvollen Widerspruch. Denn wir1 können uns alle noch daran erinnern, dass wir einst dachten, die menschlichen Regeln in den Dingen Gottes seien richtig und notwendig. Es schien uns, dass der kirchliche Zustand ohne menschliche Regelung nicht aufrechtzuerhalten sei. Wir urteilten, dass die gegenwärtige Lage so von der am Anfang abwich, dass es unmöglich wäre, das Wort Gottes in seiner Ganzheit auf die Kirche anzuwenden. Deshalb müssten also neue Regeln eingeführt werden, die für unsere Tage passender seien. Wenn man einen solchen Grundsatz zulässt, tut man zweierlei. Zunächst einmal verunehrt man das Wort Gottes; denn das Wort Gottes ist nicht wie das Wort eines Menschen ein toter Buchstabe. Das Wort Gottes ist damals wie heute ein lebendiges Wort. In Hinsicht auf sein Heil glaubt jeder Christ daran – jedoch nicht hinsichtlich seines Wandels und seiner Leitung Tag für Tag und erst recht nicht bezüglich des Gottesdienstes und der Verwaltung der Kirche. Ist es nicht ganz offensichtlich ein unheilvoller Grundsatz, wenn man in der einen Angelegenheit dem Wort Gottes eine ausreichende Autorität zuschreibt und es in einer anderen im Grunde genommen für veraltet und tot hält? Wagt man sich damit nicht in die Nähe des verhängnisvollen Absturzes in den Unglauben? Ich sage nicht, dass Menschen, die so reden und handeln, ungläubig sind. Doch es ist ein ungläubiger Grundsatz, wenn man irgendein Teil des Wortes Gottes, sozusagen, dem Grab übereignet. Es ist Unglaube, wenn man festhält, dass all jene Bibelabschnitte, die sich ausführlich mit der Einheit der Christen und der Anbetung beschäftigen und die Art, wie sie zusammen wandeln sollen im Bekenntnis ihres Herrn und in gemeinsamer Unterwürfigkeit unter das Wort und den Geist Gottes, überholt und für die heutigen Heiligen nicht mehr verpflichtend seien.
Aber man verunehrt auf einem solchen Weg das Wort Gottes noch in anderer Weise; denn man entthront es nicht nur von seinem Platz der Oberhoheit über das Gewissen, sondern man erhöht auch noch die Gebote des Menschen. Man missachtet die wahre Autorität und erkennt einen Thronräuber an. Offensichtlich muss es irgendetwas geben, das mich leitet. Wenn ich mich nicht einfältig unter das Wort Gottes stelle, dann beuge ich mich sicherlich dem Wort des Menschen. Einige ziehen ihre eigenen Gedanken vor, indem sie denken, dass ihre eigene Weisheit denen anderer Menschen überlegen sei. Doch im allgemeinen zeigt sich nicht diese Form der individuellen Unabhängigkeit, sondern vielmehr die des Zusammenschließens einer Anzahl Personen, welche sich gegenseitig Mut machen, an dem Rennen nach Unabhängigkeit teilzunehmen. Das schließt aber Unabhängigkeit gegen Gottes Wort ein. Wir leben in einer Zeit, in der Satan alles versucht, um den Wert der Bibel abzuschwächen. Andererseits hat Gott ihren Wert jetzt viel mehr herausgestellt und legt ihre praktische Bedeutung mit mehr Nachdruck auf die Gewissen als in früheren Tagen. Es gab eine Zeit, als keiner von uns je über diesen Gegenstand geübt war. Es wurde als selbstverständlich vorausgesetzt, dass menschliche Zusatzregeln erforderlich seien. Doch jede von Menschen zur Leitung von Christen erfundene Regel ist eine Überlieferung, und zwar übelster Art, weil sie auf diese Weise zu einer ausdrücklichen Autorität für Glaube und Tat gemacht wird.
Die Pharisäer stellten in unserem Kapitel diese traditionellen Waschungen der Hände heraus und legten sie als Verpflichtung auf die Jünger. Der Geist Gottes erklärt dies mit den Worten: „Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, wenn sie sich nicht mit einer Hand voll Wasser die Hände gewaschen haben, und halten so die Überlieferung der Ältesten; und vom Markt kommend, essen sie nicht, wenn sie sich nicht gewaschen haben; und vieles andere gibt es, was sie zu halten übernommen haben: Waschungen der Becher und Krüge und Kupfergefäße und Liegepolster“ (V. 3.4). Jeder geistliche Mensch muss die scharfe, beißende Verurteilung des ganzen Grundsatzes, und zwar Wurzel wie Frucht, fühlen, die durch die Sprache des Geistes Gottes weht. Wie abgemildert der Ton auch sein mag, so wird doch die ganze Angelegenheit als dumm und kindisch behandelt. Die Waschung von Personen wird mit der Reinigung von Töpfen auf einen Boden gestellt. Und vieles ähnliche lieben sie zu tun! Was für eine Religion!
„Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragen ihn: Warum wandeln deine Jünger nicht nach der Überlieferung der Ältesten, sondern essen das Brot mit unreinen Händen?“ (V. 5). Es ist bemerkenswert, wie der Herr hierauf antwortete. Er diskutierte nicht die Quelle der Überlieferung oder zeigte ihre Wertlosigkeit. Er beschäftigte sich sofort mit ihrem weit reichenden Charakter und ihrer sittlichen Wirkung auf den Gehorsam, den man Gott schuldet. Das ist zweifellos ein bewundernswertes Vorbild für jeden Christen. Der Herr legte die sittliche Frucht dieser Überlieferungen bloß, und auf diese Weise kann auch der einfache Gläubige der Schlinge des Feindes entkommen. „Er aber [antwortete und] sprach zu ihnen: Treffend hat Jesaja über euch Heuchler geweissagt, wie geschrieben steht: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren“ (V. 6.7).
Und dies ist seine Beweismethode: Er nahm eine dieser bekannten Überlieferungen und zeigte, dass sie trotz ihrer vermeintlichen Vertrauenswürdigkeit nur ein listiger Kunstgriff von Verführern war, welche von jemand angeleitet wurden, der noch listiger war als sie selbst. Außerdem zerstörte sie die wahre Furcht Gottes. Sie führte die Menschen in den Ungehorsam und entschuldigte Sünde bzw. leugnete sie. So machte ihr Eifer für die Überlieferung die Pharisäer gegen das blind, was schon das natürliche Gewissen hätte fühlen müssen. „Das Gebot Gottes habt ihr aufgegeben, und die Überlieferung der Menschen haltet ihr: [Waschungen der Krüge und Becher, und vieles andere dergleichen tut ihr]“ (V. 8). Der Herr nannte es nicht eine „böse Überlieferung“; sie war jedoch von Menschen, und sollte darum nicht gehalten werden. „Und er sprach zu ihnen: Geschickt hebt ihr das Gebot Gottes auf, um eure Überlieferung zu halten“ (V. 9). Darin liegt nämlich ein natürlicher Ablauf. Wenn man das aufgibt, was von Gott ist, dann fällt man in die Hände des Menschen. Dieser Grundsatz ist sehr wichtig. Es geht nicht darum, dass das eine im Vergleich besser ist als das andere. Das Böse liegt darin, dass man das Gebot Gottes beiseite setzt und stattdessen die Überlieferung des Menschen vorzieht. Nur das, was von Gott kommt, hat ein Recht auf das Herz des Christen. Was immer der Wille Gottes sein mag und worin immer seine offenbarten Gedanken über eine bestimmte Sache bestehen mögen – allein diese verlangen, dass der Gläubige sie annimmt und ihnen gehorcht. „Das Gebot Gottes habt ihr aufgegeben, und die Überlieferung der Menschen haltet ihr: [Waschungen der Krüge und Becher, und vieles andere dergleichen tut ihr]“ (V. 8).
Was soll denn Schlimmes daran sein? Man mag einwenden: „Die Überlieferung ist vielleicht nicht vernünftig, aber sie ist doch harmlos“. Der Herr beurteilt jedoch die Aufhebung der Gebote Gottes aus Respekt vor dem Willen und Wort des Menschen nicht so leichtfertig. „Denn Mose hat gesagt: „Ehre deinen Vater und deine Mutter!“, und: „,Wer Vater oder Mutter schmäht, soll des Todes sterben‘“ (d. h. gewisslich sterben) (V. 10). Hier haben wir eine klare Offenbarung der Gedanken Gottes. Es ist richtig und von Gott, wenn man die Eltern ehrt. Wenn man dies vernachlässigt, kann man nicht in der Wertschätzung Gottes leben. Wie konnte die Überlieferung eine solch eindeutige Pflicht auflösen? „Ihr aber sagt: Wenn ein Mensch zum Vater oder zur Mutter spricht: Korban (das ist eine Gabe) sei das, was irgend dir von mir zunutze kommen könnte. Und so lasst ihr ihn nichts mehr für seinen Vater oder seine Mutter tun, indem ihr das Wort Gottes ungültig macht durch eure Überlieferung, die ihr überliefert habt; und vieles dergleichen tut ihr“ (V. 11–13). Beachte die Folge dieser Handlungsweise! Jemand sieht seinen Vater und seine Mutter in Not. Er hat genug an irdischen Gütern empfangen, um ihre Not zu lindern. Doch diese Überlieferungskrämer haben sich einen Plan ausgedacht, die so genannte Religion auf Kosten der Sohnespflicht zu bereichern. Wenn man „Korban“ sagte, dann hatte sich die Verpflichtung vollständig gewandelt. Was den Eltern zustand, musste jetzt dem Priester gegeben werden. Wie groß auch das Bedürfnis von Vater und Mutter sein mochte – das Wort „Korban“ hemmte jede Tätigkeit von Herz und Gewissen. Die religiösen Führer hatten sich diese Formel ausgedacht, um Reichtum für religiöse Zwecke zu gewinnen und die Leute von allen Übungen des Gewissens in Bezug auf das Wort Gottes zu befreien.
Doch der Richter und Herr aller Dinge tritt dem sofort entgegen. Wer hatte ihnen das Recht gegeben zu sagen: „Korban ... sei das“! Wo hatte Gott eine solche Handlungsweise bestätigt? Und wer waren sie, dass sie es wagten, ihre Gedanken an die Stelle des Wortes Gottes zu setzen? Gott hatte den Menschen aufgefordert, seine Eltern zu ehren. Er verurteilte jede geringschätzige Behandlung ihrer Personen. Hier verstießen Menschen jedoch unter dem Deckmantel der Religion gegen beide Gebote Gottes. Diese Überlieferung bezüglich des Korban-Sagens behandelt der Herr nicht nur als ein Unrecht gegen die Eltern, sondern auch als einen Akt der Widerspenstigkeit gegen das ausdrückliche Gebot Gottes.
Ich für mein Teil habe noch nie von einer Überlieferung, die in eine religiöse Körperschaft eingeführt oder einzelnen Menschen auferlegt wurde, gehört, die nicht dem Wort Gottes widersprach. Das sind die Regeln, die von Menschen in den Dingen Gottes gemacht werden! Tatsächlich haben alle religiösen Gesellschaften ein System, von dem sie nicht einmal behaupten, dass sie es dem Wort Gottes entnommen hätten. (Doch jetzt gibt es Gläubige in der Christenheit, die sich allein auf das Wort Gottes stützen. Solche würden sich nicht herablassen, auf das Niveau einer religiösen Gesellschaft herabzusteigen.) Ich sage also: Wo immer man Menschen findet, die sich in diesen großen oder kleinen freiwilligen Gesellschaften zusammenschließen, führen sie ein System nach ihren eigenen Vorstellungen ein, um sich von anderen abzugrenzen. Außerdem stellen sie Regeln auf, die nach ihrer Vorstellung notwendig sind, um ihre Gesellschaft zu erhalten und zu vergrößern. Sie erfinden und auferlegen menschliche Regeln, die nicht nur von der Bibel abweichen, sondern ihr auch widersprechen. Gottes Wort ist eine lebendige Wirklichkeit und ein vollständiger Maßstab für die Wahrheit und das praktische Verhalten. Alles, was der Mensch als Ergänzung hinzufügt, ist eine Entstellung. Da es nicht von Gott kommt, kann es nicht in Übereinstimmung mit dem Licht gebracht werden. Der Mensch ist nicht befugt, die Angelegenheiten Gottes zu regeln.
Manche Leute sagen: „Es ist unmöglich, ohne Regeln bezüglich des Dienstes auszukommen. Es geht nicht, dass jeder aufstehen darf, um zu dienen.“ Es sei offen zugegeben, dass, wenn man nicht auf den Heiligen Geist blickt, alles ein Durcheinander wird. Und selbst dort, wo man auf Ihn vertraut, muss man immer Selbstgericht üben, um zu prüfen, warum man dies oder das tut oder sucht. Doch für Gott sind alle Schwierigkeiten gleich. Wenn wir uns dem Wort Gottes beugen, erkennen wir deutlich sowie auch eindeutig, dass es auf der einen Seite ein allgemeines Recht zum Dienst nicht gibt und dass auf der anderen kein Vorgang oder irgendein menschliches Mittel beschrieben wird, um das Recht zum Dienen auf einen Menschen zu übertragen. Nicht die Kirche, sondern Christus – nicht die untergeordnete Frau, sondern der auferstandene Mann und Herr – kann in das Werk der Belehrung der Heiligen oder die Predigt des Evangeliums berufen.
Es überrascht viele, wenn sie hören, dass es keine menschliche Einrichtung gibt, die zur Predigt des Evangeliums bevollmächtigt. Eine einzige Bibelstelle könnte meine Behauptung, wenn sie nicht wahr wäre, widerlegen. Aber keine Schriftstelle kann angeführt werden. Die allgemeine Verfahrensweise in der Christenheit hat nicht die geringste göttliche Grundlage zu ihrer Rechtfertigung. Deshalb müssen die Menschen ihre Zuflucht zur Überlieferung nehmen, die dem klaren Wort Gottes widerspricht. Denn wenn irgendein Christ die Kraft zum Predigen empfangen hat, die nur vom Herrn kommen kann, dann hat er nicht nur die Freiheit, sondern sogar die Verpflichtung zu predigen. Es handelt sich um eine eindeutige Verantwortung gegen Den, vor dessen Richterstuhl wir alle offenbar gemacht werden müssen. Wenn der Herr eine Lampe anzündet, dann will Er nicht, dass sie unter den Scheffel gestellt werde, sondern auf einen Lichtständer. Falls ein Mensch versucht, das Ausfließen der Kraft des Geistes Gottes zu verhindern, dann ist das gefährlich. Wer die Kraft des Heiligen Geistes besitzt, um zu predigen, sollte hingehen und sie benutzen. Wehe ihm, wenn er es nicht tut!
Nehmen wir einen anderen Fall! Im Neuen Testament finden wir nicht, dass ein Mensch einfach durch irgendein menschliches Verfahren abgesondert wird, um die Kirche (Versammlung) zu belehren. Wenn wir jedoch um uns sehen, erkennen wir ein und denselben Grundsatz in einer Mannigfaltigkeit der Formen vom Papst bis zum schreienden Bußprediger. Alle haben sie ihre selbsterdachten Verfahren, durch welche niemand in den Benennungen (Denominationen) dienen darf, er habe denn ihre menschliche Einsetzungszeremonie durchlaufen. Solch ein Ablauf ist ganz und gar ungesund und widerspricht dem Wort Gottes. Darum ist jeder Christ verpflichtet, das Wort Gottes zur Wirksamkeit zu bringen, indem er in jeder Hinsicht das aufgibt, was im Gegensatz zum Wort Gottes steht.
Denkst und sagst du, dass sei zu hart? Dann bist du derjenige, der zu selbstsicher auftritt und nicht ich. Denn ich stelle nicht das vor, was ich nicht beweisen kann. Du hast deine Bibel und kannst sie für dich selbst untersuchen. Man mag jedoch sagen: „Gab es nicht so etwas wie eine Ordinierung?“ Sicherlich gab es so etwas, als Apostel oder apostolische Männer Älteste usw. einsetzten. Und unser Herr sendet noch, wie Er es immer tat, Menschen aus, um das Evangelium zu predigen. Ich behaupte jedoch, dass jeglicher menschliche Ritus, um Seelen die Predigt an die Welt oder die Belehrung der Kirche zu erlauben, eine Überlieferung der Menschen und ein Widerspruch zur Heiligen Schrift ist. Man findet in der Bibel, dass von den Aposteln Männer eingesetzt wurden, um die Tische zu bedienen. Andere wurden von den Aposteln oder ihren Beauftragten ausgewählt, um eine gewisse Aufsicht zu führen. Einige wurden „Älteste“ und andere „Diener“ (Fußnote: Diakone) genannt; doch weder die einen, noch die anderen waren notwendigerweise Prediger oder Lehrer. Es ist ein Missgriff, wenn man Älteste und Diener (Diakone) mit Dienern des Wortes Gottes als solchen verwechselt. Die Gläubigen, welche Evangelisten, Hirten oder Lehrer waren, übten ihre Gabe nicht deshalb aus, weil sie zu Ältesten oder Dienern gemacht worden waren, was sie meistens gar nicht waren, sondern weil sie die Fähigkeit von Gott hatten, zu predigen, zu lehren oder zu führen. Wenn man diese Gaben mit dem Amt eines Ältesten verwechselt, ist das ein großer Fehler. Nachdem wir diesen Unterschied einmal erkannt haben, erhellt das den Weg und führt uns entweder von den überlieferten Wegen der Christenheit weg oder, wenn man nicht gehorcht, in den Bereich des Tadels unseres Herrn.
Mögen wir alle es tief in unser Herz fassen, wie sehr wir gegen den Geist der Überlieferung zu wachen haben! Immer wenn wir etwas mit unbedingter Autorität auferlegen und für verbindlich erklären, das nicht von Gott kommt, ist es eine Überlieferung. Es ist sehr gut, voneinander Rat anzunehmen; und es ist keine glückliche Aufgabe, anderen unnötigerweise entgegenzutreten. Andererseits ist es von größter Wichtigkeit, dass wir uns gegenseitig in der Überzeugung stärken, dass außer dem Wort Gottes nichts das Recht hat, die Gewissen zu beherrschen. Man wird herausfinden, dass immer, wenn wir diesen Grundsatz verlassen und gestatten, dass eine menschliche Regel entsteht und bindend wird, wir nicht mehr unter der Autorität des Wortes Gottes stehen. Wenn jede Handlung, die nicht dieser Regel entspricht, als Sünde angesehen wird, dann haben wir den Weg der Überlieferung betreten, ohne es vielleicht zu wissen.
Der Herr zeigt hier in überzeugender Weise, wo diese Pharisäer und Schriftgelehrten standen. Sie hatten nie überlegt, dass ihr Prinzip des „Korban“ das Wort Gottes aufhob. Wir sollten jedoch noch einen anderen Grundsatz gut beachten, nämlich dass wir, nachdem uns irgendeine göttliche Wahrheit nachdrücklich vorgestellt worden ist, nicht mehr dieselben sind wie vorher. Bis dahin mochten wir ehrlich und wirklich unwissend sein. Von da an stehen wir unter dem verstärkten Joch der nun erkannten Gedanken Gottes, welche wir entweder im Glauben annehmen oder im Unglauben zurückweisen, wobei wir in dieser Abweisung unser Gewissen verhärten. Deshalb lasst uns auf den Herrn blicken, damit wir ein gutes Gewissen pflegen. Das setzt allerdings voraus, dass nichts, was mit dem Willen Gottes unvereinbar ist, vor uns steht, dem wir anhangen oder das wir erlauben. Mögen wir nichts wünschen oder wertschätzen, als nur das, was dem Wort Gottes entspricht; denn sonst kann es jedem von uns leicht geschehen, dass wir da stehen bleiben, wo Christus diese Pharisäer lässt, nämlich unter dem schrecklichen Tadel, dass sie das Wort Gottes ungültig machten durch ihre Überlieferung. Wenn hier nur ein Beispiel besprochen wurde, dann war es ein ausreichendes Muster davon, wie die Pharisäer ständig handelten.
Jetzt kommen wir zu einem anderen Thema – dem Zustand des Menschen. Zuerst wurde uns gezeigt, dass eine Religion ohne Christus nur Heuchelei ist und dass ein Eingriff des Menschen in göttliche Dingen damit endet, dass man das Wort Gottes beiseite setzt, um die eigene Überlieferung zu halten. Als nächstes sehen wir, was der Mensch, sei er religiös oder nicht, ist. „Und als er die Volksmenge wieder herzugerufen hatte, sprach er zu ihnen: Hört mich alle und versteht!“ (V. 14). Der Herr stellt hier den großen Grundsatz ins Licht, der in sich selbst schon genügt, um sein Urteil über die Überlieferung zu begründen. Kommt sie von Menschen? Das genügt! Wie kommt es, dass alles, was aus einer solchen Quelle entspringt, schlecht und nicht vertrauenswürdig ist? Das geht jede Seele an; denn es geht nicht um eine Sache, die man kontrovers diskutieren könnte. Protestanten und Papisten hütet euch, die Warnung des Richters über die Lebendigen und die Toten zu missachten! „Es gibt nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn eingeht, das ihn verunreinigen kann, sondern was von ihm ausgeht, ist es, was den Menschen verunreinigt“ (V. 15). Wenn wir diesen Grundsatz in seiner ganzen Ausdehnung anwenden, umschließt er auch den Charakter der Überlieferung. Die Überlieferung kommt aus dem Menschen. Es ist kein Wort, versehen mit der Autorität Gottes, an den Menschen. Es ist ein menschliches Wort, welches Bettlerstolz gern mit Purpur und Gold umhüllt, um seine Nacktheit zu verbergen. Das zeigt sich aus dem Zusammenhang; denn zweifellos verurteilte der Herr hier die sittlichen Ausflüsse des Herzens und alle Wege des Menschen.
„Wenn jemand Ohren hat, zu hören, der höre!“ (V. 16). Die Jünger konnten Ihn nicht verstehen. Was für eine Lehre für uns! Die Knechte Christi konnten Ihn nicht verstehen! Sogar die Apostel konnten nicht recht glauben, dass der Mensch völlig verdorben ist. Gibt es hier jemanden, der diese vollständige Verderbnis leugnet, die nicht allein unter den Menschen besteht, sondern auch durch den Menschen in der Welt ist? Denkt jemand, man könne der menschlichen Natur trauen? Höre auf den Heiland – den Heiland der Verlorenen! „Wenn jemand Ohren hat, zu hören, der höre!“
„Und als er von der Volksmenge weg in ein Haus eintrat, befragten ihn seine Jünger über das Gleichnis. Und er spricht zu ihnen: Seid auch ihr so unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was von außerhalb in den Menschen eingeht, ihn nicht verunreinigen kann? Denn es geht nicht in sein Herz hinein, sondern in den Bauch, und es geht aus in den Abort – indem er so alle Speisen für rein erklärte. Er sagte aber: Was aus dem Menschen ausgeht, das verunreinigt den Menschen. Denn von innen aus dem Herzen der Menschen gehen hervor die schlechten Gedanken: Hurerei, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, List, Ausschweifung, böses Auge, Lästerung, Hochmut, Torheit; alle diese bösen Dinge gehen von innen aus und verunreinigen den Menschen“ (V. 17–23). Es gibt nichts im Herzen des Menschen, was seinen Verstand so hemmt wie der Einfluss einer religiösen Überlieferung. Und nicht allein das, sondern die Überlieferung verfinstert auch die Gesinnung eines Jüngers, wo immer er arbeitet.
Und eine Folge und unfehlbare Begleiterscheinung von ihr ist der Nachweis – insbesondere für den, der sich dieser demütigenden Wahrheit beugt –, dass es nichts Gutes im Menschen gibt. Ich leugne nicht, dass Gott jedes Gute in das menschliche Herz hineinlegen kann. Denn Er gibt seinen Sohn und in Ihm ewiges Leben. Er wäscht den Gläubigen in dem kostbaren Blut Christi und gibt ihm den Heiligen Geist, damit Er in ihm wohnt. Ich spreche auch nicht von der Frucht der göttlichen Gnade, die im Menschen wirkt. Ich halte jedoch fest, dass das, was aus dem Menschen als solchen kommt, unveränderlich böse ist. Das verstanden die Jünger nur schwer. Dabei war doch jedes Wort, das Christus ausgesprochen hatte, völlig klar.
Warum scheint die göttliche Wahrheit so schwer verständlich zu sein? Das Hindernis liegt kaum in unserem Kopf, sondern vor allem im Herzen und Gewissen. Nicht der glänzende oder kraftvolle Verstand versteht das Wort Gottes am besten, sondern der Mensch, dessen Herzensentschluss es ist, dem Herrn zu dienen. Wo immer es das Verlangen eines aufrichtigen Herzens ist, seinen Willen zu tun, „so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist“ (Joh 7,17). „Wenn dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht“ (Lk 11,34). Es heißt nicht: „Wenn dein Auge scharf oder weitsichtig ist“, sondern: „Wenn dein Auge einfältig ist“. Was für ein Trost für eine schlichte Seele, die weiß, wie schwach sie ist! Dabei mag sie noch so unwissend und töricht erscheinen. Ein solcher Mensch kann nichtsdestoweniger ein einfältiges Auge haben und folglich in geistlicher Hinsicht weiter sehen als der glänzendste Verstand eines Menschen, dessen Herz dem Herrn nicht rückhaltlos zur Verfügung steht. Was hinderte in diesem Fall die Einfalt des Auges? Warum waren die Jünger so wenig scharfsinnig? Weil ihnen ein solch schreckliches Urteil über den Menschen nicht gefiel! Sie waren es gewohnt, die üblichen Unterschiede zu machen.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die großen Männer aus Jerusalem, hatten immer noch einen gewissen Wert in ihren Augen. Genauso findet man es auch heute, dass das gewöhnliche Volk die hochtönenden Titel der religiösen Welt ehrfurchtsvoll bewundert. Wie wenig hat sich die Mehrheit der Kinder Gottes von der Verblendung frei gemacht, dass diese Titel etwas enthalten, was wahres Verständnis in ihren Trägern voraussetzt oder für dieses bürgt. Es war niemals so, und heute noch viel weniger als früher. Kann man auf eine Zeit, seitdem das Christentum begann, verweisen, in der man die Gesinnung Gottes an den Plätzen höchster geistlicher Ansprüche so vollständig aufgegeben hat wie heute? Es gab Zeiten, in der die Welt feindlicher und die Art des Hasses, soweit es sich um Verfolgungen handelt, schrecklicher gewesen ist. Doch niemals gab es eine Stunde, in der die Christenheit, ja, die protestantische Christenheit, so voller Moraste der Gleichgültigkeit gegen die Autorität Gottes war und sogar hier und dort ein Banner der Rebellion gegen die Wahrheit Christi aufgerichtet hat. Das mag sich zweifellos hart anhören. Meine Darlegung stützt sich jedoch auf Gottes Wort. Außerdem habe ich, so weit möglich, das Christentum in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien intensiver studiert als mancher andere.
Ich scheue mich also nicht, noch einmal meine Überzeugung auszudrücken, dass sich das böse menschliche Herz des Unglaubens niemals so enthüllt hat in Gestalt von Gleichgültigkeit auf der einen Seite und Feindschaft gegen die Wahrheit auf der anderen, wie es sich gegenwärtig zeigt. Sogar damals, als die Christenheit von ihrer Hingabe faselte und bis oben hin mit religiösen Fabeln angefüllt und gänzlich einer gerissenen und unwissenden Priesterschaft unterworfen war, wurde das Wort Gottes weniger missachtet – weil es weniger bekannt war – als heute. Die „Kerkerwände“ des Aberglaubens sind teilweise zerbrochen und das Licht des Zeugnisses Gottes ist ausreichend sichtbar geworden, um die Bosheit des Menschen herauszufordern. Das Volk ist in unseren Tagen voller Energie, aber ihre Energie richtet sich gegen das Evangelium. Gott sei Dank, ist es nicht bei allen so! Aber ein besonderes Kennzeichen der gegenwärtigen Zeit liegt darin, dass man einen aktiven Angriff gegen die Bibel macht. Man sieht eine organisierte Rebellion gegen das Wort Gottes von Professoren auf den hohen Lehrstühlen der menschlichen Gelehrsamkeit. Es sind keine dreisten Einzelpersonen, die hier oder dort die Schrift angreifen. Die eingesetzten Lehrer und Häupter der Geistlichkeit (Klerus) haben sich zusammengeschlossen, um diesen Angriff mit relativer Straflosigkeit ausführen zu können, als seien sie dazu bestimmt, das ganze Gewicht ihres persönlichen und amtlichen Einflusses auf diese Aufgabe zu konzentrieren.2
Das hat auch uns etwas zu sagen. Wenn wir die Zeiten verstehen, sollten wir dafür Sorge tragen, dass wir fest, gewissenhaft und kompromisslos, wenn auch demütig, auf der Grundlage der göttlichen Wahrheit stehen bleiben und uns um nichts anderes kümmern. Man mag uns hart nennen. Das ist immer das Teil der Treue. Doch der Name des Herrn ist unsere Burg der Kraft, für die letzten Tage genauso wie am Anfang. So warnt auch Paulus den Timotheus in seinem letzten Brief (Kap. 3), als er auf die Gefahren jener Tage blickte, die heute noch auffälliger zutreffen als damals. Und was war damals das Hilfsmittel? Nicht die Überlieferung, sondern das geschriebene Wort Gottes. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich ...“ (2. Tim 3,16). Es werden keine Lehrer, es werden keine gottesfürchtigen Menschen, so wertvoll sie auch sein mögen, zum Maßstab erhoben. Nichts als die Schrift kann ein dauerhafter Standard für die Wahrheit sein.
Die Dinge, die verunreinigen, kommen also aus dem Menschen hervor. Das gilt grundsätzlich, sowie für alle Taten des Bösen. Sie kommen ausnahmslos aus dem Inneren, aus dem verderbten Willen des Menschen. So ist zum Beispiel klar, dass es sich nicht um Mord handelt, wenn das Gesetz das höchste Urteil über ein Verbrechen ausspricht, sondern im Gegenteil die Verteidigung der Autorität Gottes auf der Erde. Es geht nicht um böse Empfindungen gegen den Übeltäter; und darum wird man nicht verunreinigt. Aber wenn man einem Menschen einfach in Taten, Worten oder Gedanken Unrecht tut, dann verunreinigt man sich. In dem Augenblick, wenn etwas aus deinem Eigenwillen ohne Gott hervorkommt und du dich diesem hingibst, befleckst du dich mit Unreinigkeit. „Hurerei, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, List, Ausschweifung, böses Auge, Lästerung, Hochmut, Torheit; alle diese bösen Dinge gehen von innen aus und verunreinigen den Menschen“ (V. 21–23).
Kurz gesagt, wird hier die Lehre eindeutig niedergelegt, dass ausschließlich der Mensch, d. h. der Mensch in seinem gegenwärtigen Zustand, die Quelle dessen, was böse ist, sein kann. Ich benötige eine andere Person, die uneingeschränkt vollkommen ist und sich außerhalb von mir befindet, als mein Leben. Und eine Solche habe ich in Christus. Falls ich überhaupt ein Christ bin, ist Christus mein Leben. Deshalb ist es meine Aufgabe, hinfort kraft und entsprechend des Guten zu leben, welches ich in Christus gefunden habe. Darum ist derjenige ein glücklicher Mann, der immer an Christus denkt und sich an Ihm erfreut. Jener Mensch jedoch, der danach strebt, etwas Gutes in sich selbst zu finden, befindet sich in dem Irrtum der Jünger, bevor sie gelernt hatten, sich dem Wort des Herrn zu unterwerfen. Sein Licht war zu hell, zu durchdringend, zu stark und zu schonungslos für den Willen der Jünger. Sie nahmen die Wahrheit nicht in Einfalt auf, sodass die Rede des Herrn ihnen hart erschien.
Wir haben gesehen, was aus dem Menschen hervorkommt und wie verunreinigend es ist. Jetzt müssen wir lernen, was von Gott kommt, voll Barmherzigkeit und Güte, indem es jene befreit, die vom Teufel unterdrückt werden (V. 24–30). Doch ich bin davon überzeugt, dass die vorausgehende Handlung unseres Herrn voller Bedeutung ist. Er verließ nämlich den Schauplatz, auf dem Er die Überlieferungen der irdischen Religion und die allgemeine Kloake des Verderbnisses im Herzen und ihre Ausflüsse, die jene Überlieferungen nur verbergen sollten, getadelt hatte. Das einzige wahre Heilmittel besteht in der Befreiung durch die unumschränkte Gnade Christi, der von dannen aufstand und hinging „in das Gebiet von Tyrus [und Sidon]; und als er in ein Haus eingetreten war, wollte er, dass niemand es erfahre; und er konnte nicht verborgen bleiben. Vielmehr hörte sogleich eine Frau von ihm, deren Töchterchen einen unreinen Geist hatte, und sie kam und fiel nieder zu seinen Füßen“ (V. 24.25). Was für ein Recht hatte sie? Nicht das geringste! „Die Frau aber war eine Griechin [oder Heidin], eine Syro-Phönizierin von Geburt“ (V. 26). Sie kam aus dem fruchtbaren Stamm der Feinde Israels, der verderbten und götzendienerischen Verächter des wahren Gottes. Wenn Jesus jedoch eine Gelegenheit suchte, um die Gnade Gottes jenseits aller Fragen nach Recht, Verdienst oder jeder anderen denkbaren Berechtigung außer der eines vollständigen Elends, welches auf die göttliche Barmherzigkeit in Ihm angewiesen war, zu zeigen, dann gab es niemals einen bedürftigeren Bittsteller. „Und sie bat ihn, dass er den Dämon von ihrer Tochter austreibe“ (V. 26).
Auch wenn der Glaube der Frau triumphieren sollte, so musste er doch erst erprobt werden. Und ich halte es für sittlich außerordentlich lehrreich, wenn wir beobachten, wie die reichste Gnade von Seiten Christi die Erprobung des Glaubens nicht verkleinert, sondern sogar vergrößert. Eine Seele, die nur wenig geübt wird, genießt niemals den Kern der Segnung und erlebt niemals die Tiefen in Gott und seiner Gnade.
Obwohl Markus in seinem Evangelium normalerweise sehr genau bei den Einzelheiten ist, berichtet er uns hier nicht von den Besonderheiten ihres ersten Appells an den Heiland als „Sohn Davids“, die im Matthäusevangelium angebracht sind (Mt 15,21.22). Auch zeigt unser Evangelium nicht sein ungewohntes Schweigen, die eindringliche Fürsprache der Jünger und die bestimmte Erklärung seiner Mission als Diener der Beschneidung. Dafür müssen wir uns wieder zum Matthäusevangelium wenden.
Nichtsdestoweniger hielt unser Herr auch hier den Grundsatz „dem Juden zuerst“ (Röm 1,16) aufrecht, während die Einfalt des Glaubens (und wer sonst begreift wirklich so schnell!) in der Frau geltend machte: „als auch dem Griechen.“ Doch wir finden noch mehr. Die Gnade spricht die ganze Wahrheit aus und kräftigt ihren Gegenstand, sie zu ertragen, zu bekennen und sich daran zu erfreuen. So fügte der Herr in Vers 27 hinzu: „Es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Sie aber antwortete und sprach zu ihm: [Ja,] Herr; und doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brotkrumen der Kinder“ Sie wurde vom Herrn belehrt, ihren wahren Platz einzunehmen. Doch sie klammerte sich an die unerschütterliche Gewissheit, dass auch Er seinen Platz nicht verleugnen würde. Sie war nicht besser als ein Hund. Ist Gott aber nicht sogar voller Freigebigkeit und Güte gegen Hunde? „Und er sprach zu ihr: Um dieses Wortes willen geh hin; der Dämon ist von deiner Tochter ausgefahren“ (V. 29). Das war der gesegnete und heilige Dienst der Gnade gegen die hoffnungslose Not.
Die folgende Szene illustriert noch mehr die Gnade des Heilandes, nur dass Er sich hier in dem gewöhnlichen Bereich seines Dienstes aufhielt. „Und als er aus dem Gebiet von Tyrus [und Sidon] wieder weggegangen war, kam er an den See von Galiläa, mitten durch das Gebiet der Dekapolis. Und sie bringen einen Tauben zu ihm, der auch schwer redete, und bitten ihn, dass er ihm die Hand auflege“ (V. 31.32). Was für ein Bild des Unvermögens, zu der die Sünde den Menschen herabgewürdigt hat. Der Mensch ist unfähig, die Stimme des Herrn zu hören, und untüchtig, Ihm seine Not zu schildern! Das waren die Menschen, die der Heiland unter den verachteten Galiläern und überall sonst heilte. „Und er nahm ihn von der Volksmenge weg für sich allein und legte seine Finger in seine Ohren; und er spie und rührte seine Zunge an; und zum Himmel aufblickend, seufzte er und spricht zu ihm: Ephata!, das ist: Werde aufgetan! Und sogleich wurden seine Ohren aufgetan, und das Band seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, dass sie es niemand sagen sollten. Je mehr er es ihnen aber gebot, desto mehr machten sie es übermäßig kund; und sie waren überaus erstaunt und sprachen: Er hat alles wohlgemacht; er macht sowohl die Tauben hören als auch die Stummen reden“ (V. 33–37).
Wir erkennen immer noch den Dienst der Liebe und Herz und Hand des einzig vollkommenen Dieners. „Er hat alles wohlgemacht“, war ihr erstauntes Zeugnis. Mögen wir immer und in allem auf Ihn vertrauen! Seine Hand hat nichts vergessen. Sein Herz ist unverändert. Er ist „derselbe, gestern und heute und in Ewigkeit“ (Heb 13,8). Lasst uns den Blick zum Himmel, den Seufzer hinsichtlich der Erde, die gnädige, anteilvolle Behandlung des Leidenden, das Wort der befreienden Macht und die Art und das Ausmaß der Heilung als Schatz in unser Herz versenken! Wahrhaftig, „er hat alles wohlgemacht“.
Fußnoten