Die christliche Gemeinschaft
3. Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn (1. Joh 1,3)
Nachdem wir uns mit den Voraussetzungen beschäftigt haben, kommen wir nun zum eigentlichen Gegenstand, und zwar zunächst zu unserer Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Wir werden im Neuen Testament auch über andere Arten und Ausdrucksformen christlicher Gemeinschaft belehrt, die ihre Grundlage in der von Johannes genannten Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohn Jesus Christus haben, und auf die wir noch zurückkommen.
Gottes Wort sagt uns nicht, daß der Vater mit uns Gemeinschaft hat, sondern daß wir in Gemeinschaft mit Ihm gebracht worden sind. Könnte es wohl anders sein? Daß ein Sünder keine Gemeinschaft mit dem heiligen Gott haben kann, ist leicht einzusehen. Aber auch als Erlöste bemerken wir noch das Fleisch und seine Aktivität in uns, obwohl unser alter Mensch am Kreuz gottgemäß gerichtet ist. Deshalb kann das Niveau und der Charakter der Gemeinschaft nicht von Geschöpfen - auch nicht von Erlösten -, sondern nur von Gott bestimmt und geprägt werden. Unmittelbar nachdem Johannes unsere Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn erwähnt, folgt die erste Mitteilung über das Wesen Gottes: „Und dies ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: daß Gott Licht ist und gar keine Finsternis in ihm ist“ (1. Joh 1,5). Der Vater, der uns durch Seine überwältigende Liebe in Gemeinschaft mit sich selbst gebracht hat, ist zugleich der heilige Gott. Deshalb ist es eine göttliche, heilige Gemeinschaft. Der eigentliche Ort dieser Gemeinschaft ist nicht die Erde, sondern das Licht, das in der Person des Sohnes als „Licht des Lebens“ (Joh 1,4.9; 8,12) zu uns gekommen ist, und das durch den Glauben an Ihn jetzt auch unser Lebensbereich geworden ist.
Johannes schreibt: „Was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ (1. Joh 1,3). Die Apostel, die in dem Fleisch gewordenen Sohn Gottes das ewige Leben gesehen und gehört hatten, waren die ersten, die seit dem Herabkommen des Heiligen Geistes am Pfingsttag die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn besaßen. Sie haben das Empfangene weitergegeben, damit alle wahren Kinder Gottes in den Genuß dieser wunderbaren Gemeinschaft kommen können. Nicht erst im himmlischen Vaterhaus, sondern bereits jetzt dürfen wir dadurch vollkommene Freude erfahren.
Als Johannes diese Worte schrieb, waren bereits die ersten antichristlichen Strömungen unter den Christen aufgekommen, und seitdem ist der Verfall - trotz verschiedener Erweckungen im Lauf der Jahrhunderte - ständig und unaufhaltsam fortgeschritten. Aber auch, wenn die Person des Sohnes Gottes von antichristlichen Geistern immer schärfer angegriffen wird, und durch unsere Untreue die Versammlung ihren himmlischen Charakter und ihre Absonderung von der Welt praktisch mehr und mehr aufgegeben hat, so bleibt doch für die einzelnen Kinder Gottes die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn als Quelle tiefer, innerer Freude bis zum Kommen des Herrn bestehen.
Der Herr Jesus ist der Mittelpunkt unserer Gemeinschaft. Als der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, hat Er Gott, den Vater, vollkommen offenbart, und aufgrund Seines Werkes am Kreuz sind uns das ewige Leben und alle geistlichen Segnungen in den himmlischen Örtern geschenkt worden. Nun haben wir Gemeinschaft mit dem Vater in der Kenntnis Seines Sohnes und mit dem Sohn in der Kenntnis des Vaters. Mit dem Vater teilen wir die Freude am Sohn, denn Der, auf dem Sein Blick allezeit mit Wohlgefallen ruht, ist der Gegenstand unserer Anbetung. Mit dem Sohn teilen wir die Freude an dem Vater, zu dem wir durch den Sohn freimütigen Zugang als Söhne und Töchter besitzen. Für das neue, göttliche Leben ist diese gegenwärtige Gemeinschaft das höchste Ziel, der höchste Gegenstand, und unser Herz findet darin vollkommene Erfüllung. Doch wie wird es erst sein, wenn wir beim Kommen des Herrn umgestaltet werden, damit wir Ihn sehen, wie Er ist, um dann für ewig vollkommene, ungehinderte Gemeinschaft mit Ihm und dem Vater zu genießen!
Wenn Paulus schreibt: „Gott ist treu, durch den ihr berufen worden seid in die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn“ (1. Kor 1,9), dann stellt er uns die Gemeinschaft in der für ihn typischen Weise vor die Herzen. Während bei dem Apostel Johannes unser Kindschaftsverhältnis zu Gott, das durch die neue Geburt und das ewige Leben unser Teil geworden ist, im Vordergrund steht, liegt bei Paulus der Akzent mehr auf der Stellung, in die wir durch die Einsmachung mit dem verherrlichten Christus im Himmel gebracht worden sind. Es ist derselbe Gott, derselbe Sohn, und doch sieht Johannes uns als Kinder Gottes in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn, Paulus dagegen in Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes, unserem Herrn Jesus Christus. Durch Ihn haben wir, wie Paulus an anderer Stelle schreibt, „den Zugang durch einen Geist zu dem Vater“, ja sogar „Freimütigkeit und den Zugang in Zuversicht durch den Glauben an ihn“ (Eph 2,18; 3,12).
3.1 Genuß der Gemeinschaft
Beide Apostel stellen die Gemeinschaft mit dem Sohn Gottes und mit dem Vater in den erwähnten Abschnitten ohne Einschränkung vor. Sie ist also ein Vorrecht für alle Gläubigen, nicht nur für einige wenige, ebenso wie die Gewißheit der Errettung, der Besitz des Heiligen Geistes, die Zugehörigkeit zum Leib Christi oder die Entrückung der Gläubigen vor der Drangsalszeit, obwohl nicht alle Kinder Gottes die Segnungen, die mit diesen Wahrheiten verbunden sind, kennen und genießen. So sind alle, die den Herrn Jesus im Glauben angenommen haben, ihrer Stellung nach in Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn gebracht worden, wenn auch das Maß der Kenntnis und des Genusses nicht bei allen gleich ist.
Der Belehrung über das kostbare Vorrecht der Gemeinschaft kommt ein wichtiger Platz zu. Was ich nicht kenne, kann ich nicht genießen. Obwohl die ersten Gläubigen noch nicht das vollendete Wort Gottes besaßen, ist es bemerkenswert, daß bei ihrem Verharren „in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft“ (Apg 2,42) die Lehre vor der Gemeinschaft steht. Ihre Gemeinschaft ruhte auf einem festen, allen bekannten und von allen anerkannten Fundament. Fehlende, mangelhafte oder gar falsche Belehrung über Gemeinschaft führt zu traurigen Ergebnissen und Verirrungen.
Doch Gott sei Dank dafür, daß Mangel an Kenntnis oder Verständnis für den in den Gläubigen wohnenden Heiligen Geist nicht unbedingt ein Hindernis sein muß. Wir können manchmal feststellen, daß junge Gläubige, die noch nicht viel Belehrung empfangen haben, doch die Freude einer täglichen innigen Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus kennen. Die Freude des Heils führt zur Freude am Heiland. Seine Person ist ihnen so wichtig, daß alles andere dahinter zurücksteht.
Wichtiger als die Belehrung ist unser Wunsch nach praktischer Gemeinschaft mit Gott. Die Feststellung in Apostelgeschichte 2,42: „Sie verharrten aber in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft ...“ sowie der Segenswunsch in 2. Korinther 13,13: „... die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen“ zeigen uns, daß die Gemeinschaft nicht automatisch und wie selbstverständlich aufrechterhalten wird, sondern daß wir in der Praxis danach verlangen und uns darum bemühen müssen. Das in der ersten Stelle erwähnte Wort verharren ist im Griechischen von einem Wortstamm für „stark“ abgeleitet und bedeutet unter anderem „standhaft anhangen“ und „sich emsig mit etwas beschäftigen“. Genau das taten die ersten Christen in Jerusalem im Blick auf die Gemeinschaft, aber ebenso hinsichtlich der Lehre der Apostel, des Brechens des Brotes und der Gebete. Auch der Wunsch des Apostels Paulus in der zweiten angeführten Stelle wäre ja überflüssig, wenn die Korinther ständig im Genuß der Gemeinschaft gestanden hätten. Aber leider fehlte bei ihnen die praktische Verwirklichung der Gnade des Herrn Jesus Christus, der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Deshalb beschließt Paulus seinen Brief mit diesem Wunsch für sie alle.
Mancher denkt vielleicht beim Lesen dieser Zeilen: Ich kann doch nicht in jedem Augenblick, zum Beispiel bei einer anstrengenden oder hohe Konzentration fordernden Tätigkeit, ständig das Wort Gottes lesen, darüber nachdenken und im Gebet oder in Anbetung bewußte und tätige Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn pflegen. Das ist wahr. So kostbar uns Augenblicke bewußter Gemeinschaft sein können, sind sie doch bei den meisten von uns wegen unserer täglichen Verpflichtungen eher selten. Sollten wir uns aber nicht bemühen, immer wieder Zeit für solche stille Zwiesprache mit unserem Herrn und mit unserem Gott und Vater zu suchen, damit unsere Gemeinschaft neu belebt, vertieft und gestärkt wird? Doch auch, wenn solche Augenblicke knapp sind, ist es möglich, daß ich meine Arbeit aus dem Wunsch heraus erfülle, dem Herrn wohlgefällig zu sein, und in meinem täglichen Leben sozusagen an Seiner Hand gehe, so wie ein Kind sich bei einer Wanderung an seinem Vater festhält. Man könnte von einer „unbewußten“ Gemeinschaft sprechen, aus der uns immer wieder geistliche Freude und Kraft zufließt. Doch auch solch eine „unbewußte“ Gemeinschaft setzt voraus, daß tief in meinem Herzen der Wunsch lebt, meinen Glaubensweg mit dem Herrn zu gehen und mich vor aller Sünde bewahren zu lassen.
3.2 Auswirkungen
Praktische Gemeinschaft mit dem Vater und mit Seinem Sohn bleibt nicht ohne Wirkungen auf unser geistliches Leben. Eine unmittelbare Auswirkung erwähnt Johannes im Anschluß an seine Worte über die Gemeinschaft: „Und dies schreiben wir euch, damit eure Freude völlig sei“ (1. Joh 1,4). Die Beschäftigung mit dem, was den Vater und den Sohn betrifft, führt zu einer tiefen inneren Freude.
Im Gleichnis vom verlorenen Sohn wird uns die Freude der Gemeinschaft mit dem Vater in wenigen, aber sehr beeindruckenden Worten beschrieben. Innerlich bewegt umarmte und küßte der Vater seinen heimgekehrten Sohn. Das beste Gewand, der Ring und die Sandalen bereiteten ihn auf das Schönste vor, das ihn noch erwartete. Der Vater ließ das gemästete Kalb schlachten, sie nahmen gemeinsam am Tisch Platz, um zu essen, und „fingen an, fröhlich zu sein“ (Lk 15,22-24). Deuten die Worte „sie fingen an“ nicht darauf hin, daß ihre Freude kein Ende nahm? Es ist die Freude der Gemeinschaft, die Johannes den Empfängern seines Briefes wünschte: „Und dies schreiben wir euch, damit eure Freude völlig sei.“ Auch die Freude im Herrn, von der wir mehrmals im Brief an die Philipper lesen, ist ebenso wie die in Galater 5,22 als Frucht des Geistes genannte Freude ein Ergebnis der Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus, Seinem Sohn.
In der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießen wir auch einen tiefen inneren Frieden. Wie oft sind unsere Herzen unruhig oder unzufrieden! Wie können die Sorgen des täglichen Lebens, aber auch die Unzufriedenheit mit den Umständen, in denen wir uns befinden, unseren Herzen den Frieden rauben! Wenn wir jedoch praktisch in der Gemeinschaft mit Ihm leben und unsere Sorgen auf Ihn werfen, dann wird der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, unsere Herzen und unseren Sinn in Christus Jesus bewahren, und der Friede des Christus, zu dem wir mit allen, die zu dem einen Leib gehören, berufen sind, wird in unseren Herzen regieren (Phil 4,7; Kol 3,15).
Kann die Welt um uns her noch Anziehungskraft auf uns ausüben, wenn das ewige himmlische Teil des Vaters und des Sohnes praktisch unser Teil geworden ist? Können wir dann noch Ziele verfolgen, die nicht in Übereinstimmung mit dieser wunderbaren Gemeinschaft sind? Praktische Gemeinschaft mit Gott bewahrt uns vor der Gemeinschaft mit der Welt, während umgekehrt Gemeinschaft mit der Welt Gemeinschaft mit Gott unmöglich macht. Die Korinther, die dies nicht verstanden, mußten sich von Paulus fragen lassen: „Welche Gemeinschaft (hat) Licht mit Finsternis?“ (2. Kor 6,14).
Wenn wir jedoch anstatt des ungleichen Joches der Welt das sanfte Joch unseres Herrn in Gemeinschaft mit Ihm auf uns nehmen und von Ihm, dem Sanftmütigen und von Herzen Demütigen lernen (Mt 11,29), dann werden wir in unserem praktischen Leben mehr und mehr Seine Wesenszüge als Frucht unserer Gemeinschaft offenbaren. Wird dann nicht auch die Sehnsucht nach dem Vaterhaus stärker, wo wir in alle Ewigkeit eine vollkommene Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn genießen werden, die weder durch die Welt noch durch unser Fleisch gestört werden wird?