Daß das Verharren in der Gnade Gottes nichts ist, was sich von selbst ergibt, geht aus den Worten von Paulus und Barnabas an die jungen Gläubigen in Antiochien hervor, „in der Gnade Gottes zu verharren“ (Apg 13,43). An anderen Stellen des Neuen Testaments werden wir gerade in dieser Hinsicht vor verschiedenen Gefahren gewarnt. Wir tun gut daran, über diese Ermahnungen nachzudenken und sie zu Herzen zu nehmen.
Die Hebräer sollten darauf achten, daß niemand an der Gnade Gottes Mangel litt (Heb 12,15). Die Gnade ist für unser geistliches Gedeihen so unerläßlich wie der Regen für das Ackerfeld. Sie bewirkt in uns sowohl das beständige Selbstgericht als auch die Freude der Gemeinschaft mit Gott. Leiden wir aber Mangel an der Gnade, dann sprossen statt geistlicher Früchte Wurzeln der Bitterkeit auf, durch die nicht nur wir selbst, sondern auch viele andere verunreinigt werden.
Den Galatern mußte Paulus sagen, daß alle, die im Gesetz gerechtfertigt werden wollten, aus der Gnade gefallen waren (Gal 5,4). Diese Worte bedeuten nicht, daß ein durch Glauben erretteter Mensch wieder verlorengehen kann. Ein solcher „Abfall“ von wiedergeborenen Christen wird nirgendwo in der Heiligen Schrift gelehrt (vgl. Joh 10,28.29). Die Galater standen jedoch in der Gefahr, sich praktisch aus dem Bereich der Gnade Gottes in den des Gesetzes zu begeben. Wer als durch Gnade Gerechtfertigter das Gesetz zur Richtschnur seines Lebens macht, verläßt die Gnade als Grundlage seiner praktischen Glaubensbeziehung zu Gott und beraubt sich aller Segnungen der Gnade. Vor dieser Gefahr warnt Paulus die Galater mit allem Nachdruck.
Judas warnte die Empfänger seines Briefes vor gottlosen Menschen, die sich in die Mitte der Christen eingeschlichen hatten und die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehrten (Jud 4). Schon Paulus mußte in Römer 6 die Anfänge solcher Gedanken bekämpfen. So verdorben ist das Herz des Menschen, daß es die Gnade, in der Gott Seinen Sohn als Sühnung für unsere Sünden sandte, dazu mißbraucht, um den eigenen Begierden noch mehr Freiheit zu gewähren und noch mehr gegen Ihn zu sündigen!
Judas spricht zwar von Gottlosen, aber im Prinzip gilt dies auch für das Fleisch in jedem Gläubigen. Wenn wir uns ohne ein tiefes Bewußtsein der Heiligkeit Gottes mit der Gnade beschäftigen, dann können auch wir dazu kommen, sie in Ausschweifung zu verkehren. Dies ist besonders für solche eine große Gefahr, die von Kindheit an mit der Rechtfertigung aus Gnade bekannt sind, aber keinen tiefen Abscheu vor der Schrecklichkeit der Sünde bekommen haben. So kann man leicht - versteckt oder offen - aus der Gnade einen Vorwand für das Fleisch machen und dessen Begierden folgen.
Fassen wir die geistlichen Gefahren, die uns in diesen verschiedenen Versen vorgestellt werden, noch einmal kurz zusammen. In Hebräer 12 werden wir vor dem Mangel an Gnade gewarnt, der durch Entfremdung unseres erkalteten Herzens von dem Gott aller Gnade hervorgerufen wird. Die Galater standen in der Gefahr, das Gesetz an die Stelle der Gnade zu setzen, und im Judasbrief diente die Gnade als Vorwand für Zügellosigkeit und Sünde.
Wir können nach dieser Aufzählung verschiedener Gefahren vielleicht eher verstehen, warum der Apostel Paulus die Korinther ermahnte, die Gnade Gottes nicht vergeblich zu empfangen (2. Kor 6,1). Damit stellte er die ewige Sicherheit der Erlösten keineswegs in Frage, wie wir bereits in Galater 5 gesehen haben. Aber er warnte die Korinther mit diesen Worten vor allem, was in ihrem praktischen Lebenswandel nicht in Übereinstimmung mit der Gnade war. Denn obwohl sie an keiner Gnadengabe Mangel hatten, fehlte ihnen in der Praxis die Gnade so sehr, als hätten sie sie überhaupt nicht empfangen! Doch die unendliche Gnade Gottes zeigt sich auch darin, daß sie nie müde wird, uns zu unterweisen.