Der Brief des Jakobus
Kapitel 1
Der Brief ist nicht an irgendeine besondere Versammlung von Gläubigen geschrieben und auch nicht an die ganze Versammlung Gottes. Vielmehr richtet er sich an „die zwölf Stämme, die in der Zerstreuung sind“, und dies erklärt auch seinen ungewöhnlichen Charakter. Laßt uns versuchen, den Gesichtspunkt zu erfassen, von dem aus Jakobus spricht, bevor wir auf Einzelheiten eingehen.
Obwohl das Evangelium von Jerusalem ausging und hier seine ersten Triumphe erlebte, taten sich die Christen dieser Stadt doch schwerer als andere darin, das wahre Wesen des Glaubens, den sie angenommen hatten, zu begreifen. Mit großer Zähigkeit hingen sie noch an dem Gesetz Moses und der ganzen religiösen Ordnung, die sie durch ihn empfangen hatten. Das geht aus Abschnitten wie Apostelgeschichte 15 und 21,20–25 deutlich hervor. Es überrascht auch nicht, denn der Herr war nicht gekommen, das Gesetz und die Propheten aufzulösen, sondern sie vielmehr zu erfüllen, wie Er sagte. Dies wußten sie, aber sie erkannten nur langsam, daß sie die Substanz, eben die Fülle, jetzt in Christus empfangen hatten und somit die Schatten des Gesetzes ihren Wert verloren hatten. Diese Tatsache zu unbedingter Geltung zu bringen, ist das Hauptthema des Hebräerbriefes, in dem wir lesen: „Was aber alt wird und veraltet, ist dem Verschwinden nahe.“ Wenig später, nachdem diese Worte geschrieben waren, verschwand das ganze jüdische System – Tempel, Altar, Opfer, Priester – mit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer.
Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch betrachteten sie sich selbst immer noch als Teil des jüdischen Volkes, nur mit neuen Hoffnungen, die sich auf einen Messias gründeten, der aus den Toten auferstanden war. An dieser Vorstellung hielten die Juden, die sich zu Christus bekehrt hatten, ganz allgemein fest, wo sie sich auch befanden. Sie folgten der Neigung, ihren Synagogen verbunden zu bleiben. Ausgenommen davon waren Orte, wo der Apostel Paulus arbeitete und „den ganzen Ratschluß Gottes“ lehrte. In solchen Fällen offenbarte sich der wahre Charakter des Christentums, und die jüdischen Jünger wurden von ihren Synagogen abgesondert, wie wir das in Apostelgeschichte 19,8.9 finden. Jakobus blieb in Jerusalem, wie wir sahen, und er schrieb seinen Brief aus Jerusalemer Sicht, die auch richtig war, soweit sie reichte und zur Zeit der Abfassung des Briefes.
Wir könnten das Problem auch so ansehen, daß wir sagen, die frühen Jahre des Christentums waren eine Periode des Übergangs. Die Geschichte jener Jahre, die diesen Übergang verdeutlicht, wird uns in der Apostelgeschichte gegeben. Sie beginnt mit der Bildung der Kirche in Jerusalem, die zunächst ausschließlich aus Juden bestand, und endet mit dem Urteil der Verblendung, das über die Juden als Volk schließlich ausgesprochen wird und das den Weg des Evangeliums zu den Nationen ebnet. Jakobus schreibt von dem Standpunkt aus, der um die Mitte jener Zeitepoche unter den jüdischen Christen allgemein eingenommen wurde. Dieser Umstand erklärt die besonderen Merkmale dieses Briefes.
Obwohl der Apostel sich an alle Zerstreuten seiner Nation wendet, verleugnet er in keinem Augenblick seine eigene Stellung als die eines Knechts unseres Herrn Jesus Christus, der von der Mehrheit seines Volkes immer noch verworfen wurde. Beim Weiterlesen bemerken wir jedoch bald, daß in Wirklichkeit die Gläubigen seines Volkes vor seinem geistigen Auge stehen und daß das, was er zu sagen hat, hauptsächlich an sie gerichtet ist. Hier und da werden wir Bemerkungen finden, die im besonderen an die ungläubige Masse gerichtet sind, und andere wieder, die die Ungläubigen im Auge haben, ohne daß sie direkt an sie gerichtet sind.
Nehmen wir zum Beispiel die Eingangsworte von Vers 2. Wenn er sagt: „Meine Brüder“, dachte er nicht nur an sie als solche dem Fleisch nach, d.h. als Juden, sondern auch als Brüder im Glauben an Christus. Das wird noch deutlicher, wenn wir den nächsten Vers lesen, wo ihr Glaube erwähnt wird. Es war der Glaube an Christus, und dieser allein, der sie zu der Zeit von der ungläubigen Masse der Nation unterschied. Einem zufälligen Betrachter mochten sie alle gleich erscheinen, denn alle übten dieselben Tempeldienste aus in Jerusalem oder besuchten dieselben Synagogen in den vielen Städten ihrer Zerstreuung. Dennoch war da diese tiefgehende Spaltung. Die Minderheit glaubte an Christus, die Mehrheit verwarf Ihn. Diese Spaltung war bereits zu Lebzeiten des Herrn offenbar, denn wir lesen: „Es entstand nun seinethalben eine Spaltung in der Volksmenge“ (Joh 7,43). Sie dauerte an und breitete sich zu der Zeit aus, als Jakobus schrieb, und wie immer erlitt die christliche Minderheit Verfolgung von seiten der Mehrheit.
Sie gingen um diese Zeit durch „mancherlei“ Versuchungen. Prüfungen und Erprobungen verschiedenster Art kamen über sie, die, wenn sie darin unterlagen, zu einer Gefahr wurden, sich von der Einfalt des Glaubens an Christus abzuwenden. Wenn sie anderseits, statt zu unterliegen, mit Gottes Hilfe durch sie hindurchgingen, würden sie im Ausharren erstarken, und das würde ein großer Gewinn sein, über den sie sich wohl freuen konnten. So sollten sie, wenn die Prüfungen kamen, diese als einen Anlaß zur Freude betrachten, statt dadurch niedergedrückt zu sein. Was ist das für ein Wort auch für uns heute! Ein Wort, das von den Aposteln Paulus und Petrus reichlich bestätigt wurde: siehe Römer 5,3–5 und 1. Petrus 1,7.
Gott ließ diese Versuchungen zu, um ihren Glauben zu erproben, und sie führten zu vermehrtem Ausharren. Das Ausharren seinerseits aber sollte in ihnen „ein vollkommenes Werk“ hervorbringen und damit auch das Werk Gottes in ihren Herzen vollenden. Die Sprache ist sehr kraftvoll: „vollkommen“, „vollendet“, „in nichts Mangel haben“. Im Licht dieser Worte können wir zuverlässig sagen, daß Versuchungen oder Prüfungen in unserer geistlichen Erziehung eine wichtige Rolle spielen. Sie sind gleichsam in Gottes Schule ein Lehrmeister, der sehr wohl fähig ist, uns zu belehren und unseren Geist zu fördern, damit wir schließlich die Abschlußprüfung dieser Schule bestehen. Und doch, wie sehr schrecken wir davor zurück! Was für Anstrengungen unternehmen wir, um sie zu vermeiden! Wenn wir uns so verhalten, ähneln wir Kindern, die aus findigem Vorwand die Schule schwänzen und am Ende Dummköpfe bleiben. Sind wir nicht töricht? Und haben wir hier nicht eine Erklärung dafür, warum viele von uns in göttlichen Dingen nur kleine Fortschritte machen?
Manche von uns würden zweifellos erwidern: „Ja, aber diese Prüfungen stellen solche Anforderungen an einen. Immer wieder verstrickt man sich in die verwirrendsten Probleme, die zur Lösung übermenschliche Weisheit benötigen.“ Das ist so, und darum belehrt uns Jakobus als nächstes darüber, was wir in diesen verwirrenden Lagen tun sollen. Wenn es uns an Weisheit mangelt, sollen wir sie einfach von Gott erbitten, und wir können auf eine freigebige Erhörung ohne Vorwurf rechnen. Niemand erwartet von uns, daß wir diese göttliche Weisheit in uns selbst haben; sie kommt von oben. Wir dürfen Gott zuversichtlich um alles, was uns fehlt, bitten und auf eine großzügige Antwort rechnen. Ob wir sie allerdings immer ohne einen Tadel erhalten, ist noch eine andere Sache. Es gab Gelegenheiten, wo die Jünger den Herrn um Dinge baten, die ihnen nicht ohne eine gelinde Zurechtweisung gewährt wurden, siehe zum Beispiel Lukas 8,24.25 und Lukas 17,5–10. Aber das waren dann Gelegenheiten, wo es ihnen an Glauben mangelte, und den sollten wir als Gläubige sicherlich besitzen.
Wie bestimmt und sicher ist das Wort: „Und sie wird ihm gegeben werden.“ Beachten wir es, denn je tiefer solche Gewißheit sich in unsere Herzen senkt, um so bereiter werden wir uns im Glauben Weisheit erbitten, ohne zu „schwanken“ und zu „zweifeln“. Dieser einfältige, bedingungslose Glaube, der Gott ohne Abstrich bei Seinem Wort nimmt, ist unumgänglich. Wenn wir zweifeln, sind wir innerlich gespalten, wankelmütig in unseren Wegen. Wir gleichen Meereswogen, die vom Wind bewegt werden, hin und her getrieben, mal oben, mal unten. Erst beflügeln uns hochfliegende Hoffnungen, und bald weichen sie bösen Vorahnungen und Ängsten. Wenn dies unser Zustand ist, so mögen wir wohl um Weisheit bitten, aber der Herr kann sie uns nicht geben, noch irgend etwas anderes.
Vers 7 vermittelt uns diesen Gedanken sehr deutlich. Wer Bitten an Gott richtet und das aus zweifelndem Herzen tut, kann, was er auch empfangen mag, es nicht als vom Herrn annehmen. Weisheit oder Leitung oder sonst etwas werden von Gott erbeten. Statt sich nun ruhig auf Sein Wort zu verlassen, bestürmen uns viele Fragen, und wir sind zwischen Hoffen und Bangen hin und her gerissen. Wie kann dann wahre Weisheit und Leitung erlangt werden? Liegt darin nicht die Ursache, warum so viele Christen sich mit der Frage ihrer Führung abquälen? Und wenn Gottes barmherzige Vorsehung sich ihnen dennoch zuwendet und einen glücklichen Ausgang herbeiführt, dann vermögen sie Seine waltende Hand nicht zu erkennen, und sie empfangen die Hilfe nicht als von Ihm. Sie schreiben die Hilfe günstigen Umständen zu; sie sagen, wie auch die Welt spricht: „Ich habe Glück gehabt!“
Die Verse 9–12, die einen kurzen Abschnitt für sich bilden, beschreiben ein aufschlußreiches Beispiel für den Standpunkt, von dem aus Jakobus schreibt. Er stellt „den niedrigen Bruder“ dem Reichen gegenüber, und nicht, wie wir vielleicht erwartet hätten, „dem hochgestellten Bruder“. Der Reiche – wie Jakobus den Ausdruck hier gebraucht – ist ein ungläubiger Reicher, ein führender Mann von Wohlstand, Einfluß und vermeintlich religiöser Heiligkeit, der aber einem Mann in tödlicher Gegnerschaft zu Christus sehr nahekommt, wie es die Apostelgeschichte mehrfach zeigt. Gott hat die Armen dieser Welt auserwählt, und die Reichen spielen die Rolle ihrer Unterdrücker, wie es in Kapitel 2,5 heißt. Wie deutlich warnt der Apostel die reichen Unterdrücker seiner Nation vor dem, was ihnen bevorsteht! Sie mochten groß sein in den Augen ihrer Mitmenschen, aber in Gottes Sicht waren sie wie Gras. Gras bringt Blumen hervor, und wir bewundern ihre Zierde in Gestalt und Farben, aber bei sengender Sonnenhitze verwelken sie rasch. So mochten die großen jüdischen Führer ihren Zeitgenossen voller Anmut erscheinen, doch bald würden sie hinschwinden.
Und wenn der Reiche dahinwelkt, ist es hier der „Bruder“, dieser Christ, der sich aus seinen Versuchungen erhebt und eine Krone des Lebens empfängt! Erhöhung erreichte ihn schon während seines Lebens voller Mühsal und Prüfung, insofern Gott ihn der Prüfung für würdig erachtete. Menschen prüfen keinen Schlamm, es sei denn eine Art von blauem Ton, in dem man Diamanten findet. Unedle Metalle kommen nicht in den Schmelztiegel des Schmelzers, wohl aber das Gold. Gott greift den armen niedrigen Bruder auf, den die Reichen seines Volkes für Straßenkot gehalten hätten (siehe Joh 7,47–49), und erhöht ihn, indem Er verkündet, daß dieser aus Gold ist. Daher erlaubt Er, daß Prüfungen ihn läutern. Wenn wir das wirklich verstehen, werden wir auch befähigt sein, mit ganzem Herzen zu sprechen: „Glückselig der Mann, der die Versuchung erduldet!“ Das Ertragen der Prüfung bedeutet nicht Freude, sondern Schmerz, wie der Apostel Petrus uns sagt, doch das Herz öffnet sich der Liebe Gottes, und andere merken, daß wir den Herrn lieben. Das Ergebnis der Erprobung ist dann die Krone des Lebens, wenn die Herrlichkeit erscheint. Der geprüfte Gläubige mag in dieser Welt sein Leben verloren haben, aber in der künftigen Welt wird er mit Leben gekrönt.
Obwohl es an dieser Stelle in erster Linie um die Prüfung geht, die Gott über einen Gläubigen kommen läßt, können wir dennoch die Vorstellung von einer Versuchung nicht ganz ausschließen, da jede Prüfung auch die Versuchung zu unterliegen mit sich bringt dadurch, daß wir uns mehr selbst befriedigen, als Gott die Ehre zu geben. Deshalb könnten wir, wenn Gott uns prüft, so töricht sein, Ihn dafür zu beschuldigen, daß Er uns versucht. Diese Möglichkeit führt uns zu dem nächsten kurzen Abschnitt, den Versen 13–15.
Gott selbst steht über allem Bösen. Es ist Seinem Wesen absolut fremd. Es ist ebenso unmöglich für Ihn, vom Bösen versucht zu werden, wie es Ihm unmöglich ist zu lügen. Und so ist es Ihm unmöglich, jemand zum Bösen zu versuchen, obwohl Er zulassen mag, daß Sein Volk durch Böses versucht wird, indem Er wohl weiß, solche Versuchungen sogar zu ihrem letztlich Guten zu benutzen. Die wahre Wurzel aller Versuchung liegt in uns selbst, in unserer eigenen Lust. Wir mögen dem verlockenden Reiz, der uns von außen trifft, die Schuld geben, aber das eigentliche Problem sind tatsächlich die innerlichen Wünsche des Fleisches.
Laßt uns diese Tatsache begreifen und ihr ehrlich gegenübertreten. Wenn wir sündigen, sind wir sehr geneigt, dafür weitestgehend die Umstände verantwortlich zu machen oder jedenfalls äußere Einflüsse, aber Ehrlichkeit vor Gott würde uns zeigen, daß wir niemand und nichts verantwortlich machen sollten außer uns selbst. Wie wichtig ist es, in dieser Weise ehrlich vor Gott zu sein und uns selbst gerechterweise in Seiner Gegenwart zu richten, denn das ist der sicherste Weg zur Wiederherstellung der Seele. So gewinnen wir Kraft, die Lüste unserer Herzen zu verurteilen und zurückzuweisen. Und nur so kann die Sünde im Keim erstickt werden. Die Lust ist die Mutter der Sünde. Wenn sie aufbricht, gebiert sie die Sünde, und die Sünde, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.
In diesem fünfzehnten Vers ist deutlich die Tatsünde gemeint. Denn andere Schriftstellen, wie zum Beispiel Römer 7,7, zeigen uns, daß die Lust an sich Sünde in der Natur ist. Doch wenn die Sünde in der Natur empfängt, dann wird die Tatsünde die Folge sein.
An diesem Punkt wird es gut sein, an den Herrn Jesus zu denken und sich zu erinnern, was Hebräer 4,15 über Ihn sagt. Auch Er wurde versucht, versucht in gleicher Weise wie wir, noch mehr, Er ist „in allem“ versucht worden. Aber dann folgt eine Einschränkung von höchster Bedeutung: „ausgenommen die Sünde“. Es gab keine Sünde, keine Lust in Ihm. Dinge, die auf uns einen äußerst starken Reiz ausgeübt haben, fanden in Ihm keinen Anknüpfungspunkt. Dennoch „hat er gelitten, als er versucht wurde“, sagt uns Hebräer 2,18.
Wir verstehen gut, wie Versuchungen, die wir abweisen, Leiden mit sich bringen. Und zwar deshalb, weil wir uns nur von ihnen abwenden können auf Kosten der verleugneten Lüste unserer Herzen. Wir mögen nicht so leicht verstehen, wie Versuchungen auch über Ihn Leiden brachten. Eine Erklärung gibt die Tatsache, daß Er nicht nur ohne Sünde war, Er war auch der Heilige. Da Er Gott war, war Er unendlich heilig, und nach Seiner Menschwerdung wurde Er mit dem Geist Gottes gesalbt, und jeder Versuchung begegnete Er in der Fülle des Geistes. So war Sünde Ihm unendlich zuwider, und wenn sie sich in einer Versuchung von außen nur als Möglichkeit zeigte, bereitete sie Ihm einen scharfen Schmerz. Wir haben uns leider, weil wir die Sünde in uns haben, so an sie gewöhnt, daß wir kaum fähig sind, sie zu fühlen, wie Er sie fühlte.
Gott ist somit weit davon entfernt, Ursache von Versuchung zu sein, vielmehr ist Er der Geber und die Quelle jeder guten und vollkommenen Gabe. Der Apostel hebt diesen Punkt nachdrücklich hervor. Er möchte nicht, daß wir ihn verkehrt sehen. Die Verse 16–18 bilden einen weiteren kurzen Abschnitt, der uns Gott in bemerkenswerter Weise vorstellt. Nicht nur hat jede gute und vollkommene Gabe ihren Ursprung in Ihm, sondern auch alles, was wir als Licht bezeichnen. Das Licht in der Schöpfung kam von Ihm. Jeder Strahl wahren Lichts für Herz, Gewissen oder Verstand geht von Ihm aus. Was wir wirklich erkennen, erfassen wir als ein Ergebnis göttlicher Offenbarung, und Er ist der „Vater“ oder die „Quelle“ solchen Lichts. Die Lichter des Menschen sind unsicher. Das Licht der sogenannten „Wissenschaft“ ist sehr wechselhaft. Es brennt hell, es erstirbt, es erscheint wieder, es flackert, es geht aus, wird schließlich völlig zum Erlöschen gebracht durch eine aufkommende Generation, die ganz sicher ist, daß sie alles besser weiß als die gehende Generation. Beim Vater der Lichter und somit bei allem Licht, das wirklich von Ihm ausgeht, gibt es keine Veränderung und keines Wechsels Schatten. Gott sei gepriesen dafür!
Ein Drittes ist in diesem kurzen Abschnitt enthalten. Nicht nur ist Gott die Quelle der guten und vollkommenen Gaben und der Lichter ohne Schwankungen, Er ist auch der Ursprung Seines Volkes. Auch wir sind aus Ihm entsprossen, nach Seinem Willen hat Er uns gezeugt. Was wir sind, sind wir nach Seinem souveränen Wohlgefallen, und nicht nach unseren Gedanken und nach unserem Willen – sie gehören unserer gefallenen Natur an – sondern nach dem Wort der Wahrheit, durch das wir aus Ihm geboren sind.
Der Teufel ist der Vater der Lüge. Die heutige Welt ist das, was er aus ihr gemacht hat, und es begann mit der Lüge in 1. Mose 3,4. Im Gegensatz dazu ist der Christ jemand, der durch das Wort der Wahrheit gezeugt worden ist. Nach und nach wird Gott eine Welt der Wahrheit besitzen. Bis dahin sind wir eine Erstlingsfrucht dieser neuen Schöpfung.
Ist das nicht wunderbar? Ein nachdenklicher Leser könnte die Schlußfolgerung ziehen, daß ein Christ ein wunderbares Wesen sein müsse, da er aus Gott geboren ist. Wir könnten vielleicht sprechen: „Wenn Gott der Geber aller Gaben ist, auch der Gaben, die gut und vollkommen sind; wenn Er die Quelle der Lichter ist, auch dieser Lichter, die keiner Veränderung unterliegen; wenn Er der Urheber aller Wesen ist, dann müssen diese Wesen ebenfalls wunderbar sein.“ Doch es ist uns nicht überlassen, solche Schlüsse zu ziehen. Die Unterweisung ist völlig klar, und daraus ergeben sich bedeutsame Folgen, wie wir sehen werden.
Der neunzehnte Vers beginnt mit dem Wort „daher“ und zeigt damit an, daß wir jetzt mit den Resultaten aus dem vorhergehenden Vers vertraut gemacht werden sollen. Weil wir eine Art Erstlingsfrucht unter den Geschöpfen Gottes sind, aus Ihm durch das Wort der Wahrheit gezeugt, sollen wir „schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn“ sein.
Gehorsam gegenüber der Stimme des Schöpfers kennzeichnet jedes intelligente, unverdorbene Geschöpf. Ach! der gefallene Mensch verschließt sein Ohr der göttlichen Stimme und beharrt darauf, selbst zu reden. Er möchte für sich selbst und andere Gesetze erlassen, und daraus entspringt Zorn und Streit, wovon die Erde erfüllt ist. Wir sind immer Geschöpfe, doch jetzt sind wir, als aus Gott geboren, eine Erstlingsfrucht Seiner Geschöpfe. Was deshalb alle Geschöpfe auszeichnen sollte, muß ganz besonders bei uns gefunden werden. Es sollte uns mächtig anziehen, Gottes Wort zu hören. Wir sollten danach verlangen, weil es uns erfreut, der Stimme Gottes zu lauschen.
Wir sprechen nur dann recht, wenn Gott unsere Gedanken beherrscht. Wenn wir göttliche Gedanken denken, sind wir fähig zu sagen, was recht ist. Doch selbst wenn wir schnell sind zum Hören der Gedanken Gottes, werden wir sie nur aussprechen, wenn wir sie zuerst verarbeitet und zu unseren eigenen gemacht haben. Aber sie zu verarbeiten, geht nur langsam, deshalb sollen wir langsam zum Sprechen sein. Ein gesunder Sinn dafür, wie wenig wir bis jetzt Gottes Gedanken in uns aufgenommen haben, wird uns von Selbstvertrauen und einer oberflächlichen Selbstsicherheit befreien, die Menschen so bereitwillig machen, sich sogleich zu jedem beliebigen Thema zu äußern.
Außerdem sollten wir langsam zum Zorn sein. Der selbstsichere Mensch, der kaum einmal zuhören kann, sondern sofort seine eigene Meinung anbringen muß, wird auch bald wütend, wenn andere seine von ihm selbst so hochgeschätzte Meinung nicht akzeptieren. Anderseits mag es einen Gläubigen geben, der in Gottesfurcht lebt, das Wort sorgfältig beachtet und nur bedachtsam und unter Gebet spricht, und doch wird seine Meinung ebenso abgewiesen! Nun ja, er möge trotzdem langsam zum Zorn sein, denn wenn es nicht mehr als des Mannes Zorn ist, so richtet er nichts von dem aus, was in Gottes Augen recht ist. Der Zorn Gottes wird Seiner gerechten Sache dienen, aber nicht des Menschen Zorn.
Erinnern wir uns immer wieder, daß wir, als aus Gott geboren, eine Erstlingsfrucht Seiner Geschöpfe sind. Eben deshalb sollten wir nicht nur vorbildlich, sondern unserem Vater ebenbildlich sein. Alle Unsauberkeit sollte abgelegt sein und das Wort mit Sanftmut empfangen werden. Zuerst sind wir durch das Wort gezeugt worden, und danach sollten wir fortfahren, es mit Sanftmut zu hören und zu Herzen zu nehmen. Auch 1. Petrus 1,23 – 2,2 drückt diese Gedanken aus: Wir sind „wiedergeboren ... durch das Wort Gottes“, und werden als „neugeborene Kindlein“ ermahnt, nach der „unverfälschten Milch des Wortes“ begierig zu sein.
Es wird hier von dem Wort gesagt, daß es „eingepflanzt“ ist. Dies setzt voraus, daß es in uns Wurzel geschlagen und sich zu einem Teil unserer selbst entwickelt hat. Das ist das genaue Gegenteil davon, daß „etwas durch das eine Ohr hineingeht und durch das andere wieder herauskommt“. Wenn das Wort nur flüchtig unsere Gedanken streift, richtet es wenig oder nichts für uns aus. In uns eingepflanzt, rettet es unsere Seele. Der hauptsächliche Gedanke hier ist die Errettung unserer Seele von den Fallstricken der Welt, des Fleisches und des Teufels, eine Errettung, die wir alle jeden Augenblick nötig haben.
In Vers 22 haben wir ein Drittes. Nicht nur sollen wir schnell zum Hören des Wortes Gottes sein, nicht nur muß es in uns eingepflanzt sein, sondern wir müssen Täter des Wortes werden. Zuerst das Ohr zum Hören. Dann das Herz zum Einpflanzen. Dann die davon gesteuerte Hand, die dem Wort durch uns sichtbaren Ausdruck verleiht. Mit diesen drei Schritten wird das Wort lebendig und wirksam in uns. Wenn Hören kein Tun hervorbringt, ist es vergeblich gewesen.
Um diese Tatsache zur Geltung zu bringen, benutzt Jakobus eine anschauliche Illustration. Wenn ein Mensch vor einem Spiegel steht, wird sein Bild gerade so lange reflektiert, wie er dort steht. Auf den Spiegel wird von dem Bild nichts übertragen. Sein Angesicht wurde lediglich reflektiert, ohne von sich aus auf den Spiegel einzuwirken. Dieser bleibt völlig unverändert, selbst wenn tausend Gegenstände nacheinander von seiner Oberfläche reflektiert werden. Der Mensch geht weg, sein Spiegelbild verschwindet, und alles ist vergessen. Genau so ist es, wenn ein Mensch das Wort bloß hört und nicht daran denkt, ihm zu gehorchen. Er schaut in das Wort und geht weg und vergißt. Wenn wir anderseits nicht nur in die Wahrheit hineinschauen, sondern darin bleiben und Täter des Werkes werden, das der Wahrheit entspricht, werden wir in unserem Tun gesegnet sein. Mit dieser Einsicht befaßt sich Jakobus ausführlicher im nächsten Kapitel, wenn er Glauben und Werke erörtert.
Beachten wir den Ausdruck, den er gebraucht, um die Offenbarung zu beschreiben, die sie in Christus erreicht hatte. Die Offenbarung, die der Jude durch Mose kennengelernt hatte, war ein Gesetz in schriftlicher Form, das dem Volk Israel gegeben war. Jakobus gebraucht denselben Ausdruck. Man kann auch vom Christentum als von einem Gesetz sprechen – dem Gesetz des Christus – obwohl es mehr ist als dies. Im Gegensatz zu dem mosaischen Gesetz ist es jedoch das vollkommene Gesetz der Freiheit. Das Gesetz Moses war unvollkommen und bedeutete Knechtschaft.
Von Vollkommenheit könnten wir nur sprechen in Hinsicht auf den ihm bestimmten Geltungsbereich. Es war unvollkommen in dem Sinn, daß es das Heil nicht erwirken konnte. Es drückte ein Minimum der Forderungen Gottes aus, so daß der Mensch, wenn er diese niedrigste Stufe nicht erreichte – in „einem“ strauchelte (2,10) – gänzlich verdammt ist. Wenn wir das Maximum der Gedanken Gottes hinsichtlich des Menschen suchen, müssen wir uns Christus zuwenden, der es in Seinem fleckenlosen Leben und Sterben sichtbar machte, und es geht weit über die bloßen Forderungen des mosaischen Gesetzes hinaus. In Seinen frühen Unterweisungen machte der Herr selbst überaus klar, daß das Gesetz Moses nicht vollständig und nicht vollkommen ist (siehe dazu Matthäus 5,17–48).
In Christus haben wir das vollkommene Gesetz, eben das der Freiheit. Wir hätten uns vorstellen können, daß, wenn die Minimalforderung Gottes Knechtschaft zur Folge hatte, dann die Maximalforderung noch größere Knechtschaft bedeutet hätte. Aber nein! Erstere erreichte uns in einem Gesetz der Forderung und bewirkte Knechtschaft. Die zweite begegnete uns in Verbindung mit einem Gesetz des Angebots in Christus, und daher ist hier alles Freiheit. Der denkbar höchste Standard wird uns im Christentum vorgestellt, jedoch zusammen mit einer Kraft, die unsere Herzen unterwirft und uns eine Natur schenkt, die das zu tun liebt, was diese Offenbarung uns auferlegt. Wollte man einem Hund das Gesetz auferlegen, Heu zu fressen, so würde es sich für das arme Tier als ein Gesetz der Knechtschaft erweisen. Dasselbe Gesetz einem Pferd auferlegt, würde ein Gesetz der Freiheit sein.
Laut Vers 25 ist somit klar, daß wir Täter des Werkes und nicht nur Hörer des Wortes sein sollen. Aber selbst auch unser Tun bedarf einer Prüfung, denn ein Mensch könnte religiös erscheinen, eifrig in all seinem Wirken, und doch könnte seine Religion sich als vergeblich erweisen dadurch, daß er nicht seine Zunge zügelt. Er hat nicht gelernt, „langsam zum Sprechen“ zu sein, wie Vers 19 einschärfte. Wenn er seiner Zunge die Herrschaft überläßt, so überläßt er sie damit auch seinem Ich.
Nun, ein reiner und unbefleckter Gottesdienst, der in Gottes Gegenwart zu bestehen vermag, ist von einer Art, die das Ich ausschließt. Wer Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besucht, wird kaum etwas finden, was zur eigenen Wichtigkeit und Annehmlichkeit beiträgt. Unter diesen geplagten und armen Leuten wird er beständig Gelegenheiten finden, ihnen zu dienen, statt sich bedienen zu lassen. Die Welt könnte das Ich in ihm fördern. Ja, aber er hält sich von der Welt abgesondert, damit ihre Verunreinigungen ihn nicht beflecken.
„Von der Welt unbefleckt“ ist ein starker Ausdruck. Die Welt ist ein sehr schmutziger Ort, wo allzu viele ihr eigenes Vergnügen lieben (s. 2. Pet 2,22). Der wahre Christ wälzt sich nicht im Kot. Das ist wohl wahr! Aber wenn er einen reinen Gottesdienst übt, geht er noch weiter. Er bewegt sich so deutlich abseits von Sumpf und Schlamm, daß auch Spritzer ihn nicht erreichen.
Ach! wie schwach ist es um unseren Dienst für Gott bestellt. Wenn er in der äußerlichen Befolgung von Riten, Zeremonien, Sakramenten und kultischen Handlungen bestünde, so könnte die Christenheit damit wohl noch einen schönen Eindruck machen. In Wahrheit aber besteht er in der Betätigung göttlicher Liebe, die sich ausdrückt in Mitgefühl und Dienst an denen, die nicht in der Lage sind zu vergelten, und in heiliger Absonderung von dem verunreinigenden Weltsystem, das uns umgibt.