Der Brief an Titus
Kapitel 1
Paulus redet Titus in Vers 4 an. Aber vorher nennt er die Kennzeichen seines Dienstes als Apostel mit einer Reihe kurzer und prägnanter Ausdrücke. Es heißt „nach dem Glauben der Auserwählten Gottes“. Allgemein können wir sagen, daß die Präposition „nach“ den Charakter bezeichnet. Was sein Apostelamt kennzeichnete, war der Glaube und auch die Wahrheit, die „nach“ der Gottseligkeit ist. Es gibt heutzutage zu viele, die behaupten, Diener Christi zu sein, die aber trotzdem dienen wollen „nach“ den letzten sogenannten Erkenntnissen der Wissenschaft oder den neuesten Argumenten des Unglaubens. Der Glaube, um den es hier geht, ist nicht der Glaube der Welt, noch nicht einmal der Glaube der Christenheit, sondern der der „Auserwählten Gottes“. Daß unbekehrte Pastoren und Prediger den Glauben leugnen und sogar lächerlich machen, ist sehr traurig, aber überhaupt nicht überraschend. Es war nie ihr Glaube, obwohl sie ihn früher vielleicht mit dem Verstand vertreten hatten.
Beachte auch, daß die Wahrheit sich durch Gottseligkeit auszeichnet. Hier haben wir einen sehr guten Prüfstein, den man in zweifacher Hinsicht anwenden kann. Gewisse Dinge werden uns aufgedrängt mit dem Anspruch, sie kämen von Gott. Wir sind vielleicht kaum fähig, das zu untersuchen, mit der Schrift zu vergleichen und zu beweisen, daß das falsch ist. Aber es fällt uns nicht schwer zu sehen, daß die praktische Auswirkung, würden wir sie als Gottes Wahrheit annehmen, das Aufgeben der Gottseligkeit bedeuten würde. Das reicht. So etwas ist nicht die Wahrheit Gottes. Es könnte auch sein, daß uns ein bestimmtes Handeln aufgedrängt wird, das ganz vorteilhaft wäre und eigentlich ganz vernünftig erscheint. Aber es entspricht nicht der Wahrheit. Dann können wir ganz sicher sein, daß es nicht Gottseligkeit ist. Wir sollten es meiden.
Wie uns Vers 2 weiter mitteilt, hatte die Apostelschaft des Paulus Bezug auf einen großartigen Segen, der in seiner ganzen Fülle zukünftig ist. Beim Lesen des Neuen Testaments finden wir ziemlich häufig den Ausdruck „ewiges Leben“, und wenn wir alle Stellen sorgfältig untersuchten, würden wir entdecken, daß man seine Bedeutung nicht leicht erschöpfend erklären kann. Er umschließt eine große Tiefe des Segens.
In der Schrift ist nichts gewisser, als daß der, der an Christus glaubt, ewiges Leben hat, und zwar jetzt. Dieser Gesichtspunkt wird in den Schriften des Apostels Johannes besonders betont. Wir Gläubigen haben dieses Leben bereits jetzt in Christus, und wir kennen die Beziehungen und nehmen teil am Verständnis und an der Gemeinschaft, an Freuden und Aktivitäten, die zu diesem Leben gehören. Trotzdem ist die Fülle des ewigen Lebens noch nicht erreicht, wie unser Vers sagt, und dieser Gesichtspunkt stimmt überein mit dem ersten Hinweis, der in der Schrift darauf in Psalm 133,3 zu finden ist. Den einzigen weiteren Hinweis im Alten Testament finden wir in Daniel 12,2. In beiden Stellen geht es um den Segen der herrlichen Zukunft, wenn der Fluch von der Schöpfung aufgehoben sein wird und der Tod die Ausnahme und nicht die Regel ist wie heute. Wenn die Erde vom Licht der Erkenntnis des Herrn durchflutet sein wird, wird man den Segen des ewigen Lebens genießen.
Das Alte Testament erhebt unsere Gedanken nicht über die Erde wie es das Neue Testament tut. Der Vers, den wir betrachten, zeigt uns, daß das ewige Leben in Gottes Gedanken vorhanden war, ehe die Welt entstand, und in Übereinstimmung damit wird es in seiner ganzen Fülle bestehen bleiben, wenn diese Welt aufgehört hat zu existieren. Wir leben in dieser Hoffnung, und das ist eine sichere Hoffnung, weil sie sich auf das Wort Gottes, der nicht lügen kann, stützt.
Wer es schwierig findet, die Zusicherung des ewigen Lebens als eines gegenwärtigen Besitzes bei Johannes mit der Hoffnung auf die Zukunft bei Paulus in Übereinstimmung zu bringen, sollte sich daran erinnern, daß wir das Wort Leben allgemein in mehr als einer Bedeutung gebrauchen. Jemand sagt z. B. von einem schwerkranken Menschen: „Solange Leben da ist, gibt es Hoffnung.“ Mit „Leben“ meint er den Lebensfunken, die Lebensenergie, DURCH die wir leben. Ein anderer Mensch, der ein Vermögen für Vergnügungen verschwendet hat, meint, er habe das Leben genossen. Er täuscht sich natürlich über das, was Leben wirklich bedeutet, aber er benutzt das Wort in der Bedeutung, in der es für Beziehungen und Freuden gebraucht wird, aus denen das Leben tatsächlich besteht, das Leben, IN dem wir leben.
In der ersten Bedeutung dieses Wortes haben wir jetzt ewiges Leben so wirklich und wahrhaftig, wie wir es in Zukunft haben werden. Wenn wir an die zweite Bedeutung denken, dürfen wir uns freuen, daß wir es in weit umfassenderem Maß als heute kennenlernen werden. In einem Gewächshaus entdeckten wir unter anderen tropischen Pflanzen einen Kaktus, der aussah wie eine ziemlich gerade Gurke mit kleinen Stacheln und der aufrecht in einem Topf steckte. Wir stellten fest, daß es sich um die Miniausgabe eines Kaktus handelte, den wir zu Dutzenden in Jamaika gesehen hatten. Dort erreichte er Höhen von über sechs Metern. Die Kleinausgabe wie der Riese hatten Leben von der gleichen Art. Der Unterschied lag allein an der Umgebung.
Das veranschaulicht, worum es uns geht. Wir haben zwar ewiges Leben, aber die Welt ist ein eisiger Ort. Wir erfahren die Freude dieses Lebens durch den uns geschenkten Heiligen Geist, im Wort Gottes, unter dem Volk Gottes und im Dienst für Ihn. So leben wir in einer Art Gewächshaus mitten in einer kalten Welt. Wir haben aber die Hoffnung, in die warmen tropischen Regionen versetzt zu werden, zu denen das ewige Leben gehört. In dieser Hoffnung lebte und diente der Apostel. So tun auch wir es.
Wir wollen noch auf das Wort „verheißen“ in Vers 2 aufmerksam machen. Ewiges Leben war nicht nur vorgesehen, ehe die Welt existierte, es war auch verheißen. Wem? Den Menschen gab es ja noch nicht. Auf jeden Fall können wir mit Sicherheit sagen, daß der Herr Jesus, als Er Mensch wurde, um den Namen Gottes zu verherrlichen und den Menschen zu erlösen, es tat in der Verheißung, daß Er die Quelle ewigen Lebens für die werden sollte, die Ihm gegeben würden, wie es in Johannes 17,2 steht.
Wenn Vers 2 unseres Kapitels in eine zukünftige Ewigkeit blickt, in der die Verheißung, die in einer vergangenen Ewigkeit gegeben wurde, erfüllt werden wird, so geht es in Vers 3 um die Gegenwart, in der Gottes Wort durch die Predigt offenbart wird. Weil der Befehl zu dieser Predigt von Gott, unserem Heiland, ausging, ist folglich das Ergebnis dieser Predigt die Errettung. Diese Predigt oder Verkündigung war in erster Linie Paulus anvertraut. Es wäre natürlich gut, wenn jeder, der heute seinen Teil zu diesem großen Werk beiträgt, tief beeindruckt wäre von seiner Würde und Bedeutung. Wehe uns, wenn wir die Predigt zu einer Plattform für die Offenbarung unserer eigenen Klugheit oder Wichtigkeit machen! Sie ist da zur Offenbarung des Wortes Gottes.
Mit Vers 5 beginnt das Hauptthema dieses Briefes. Paulus war in Kreta gewesen und abgereist, noch ehe er Zeit gehabt hatte, den jungen Versammlungen Anweisungen zu verschiedenen Dingen zu geben. Deshalb hatte er Titus zurückgelassen, um das zu tun und auch mit seiner Autorität Älteste anzustellen. Darauf folgen die Verse 6-9, in denen die Eigenschaften erwähnt werden, die diese Ältesten aufweisen sollten.
Diese Verse sind nicht einfach eine Wiederholung dessen, was wir in 1. Timotheus 3 finden. Die Zustände in Kreta waren anders als in Ephesus. Es gab an beiden Orten ähnliche Gefahren von „zügellosen Schwätzern und Betrügern“, aber die natürliche Veranlagung der Kreter war besonders schlimm, so schlimm, daß einer ihrer Propheten, ein heidnischer Prophet, sie mit harten Worten gebrandmarkt hatte: „Kreter sind immer Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäuche.“ Die alte Natur der bekehrten Kreter war so und blieb so in ihnen, als sie sich bekehrten, und leider zeigte sie sich. Deshalb wird Titus in Vers 13 angewiesen, sie scharf zu tadeln.
Ein Lügner ist ein Mensch, der die Wahrheit offensichtlich nicht liebt. Ein böses, wildes Tier liebt keine Zügel, besonders nicht die des Guten, denn seiner Natur nach ist es widerspenstig. Ein fauler Bauch denkt an kaum etwas anderes als an das, was ihm selbst nützt, und zwar seinen niedrigsten Begierden. Man sieht also, wie genau die Anweisungen des Apostels diesem traurigen Zustand entsprechen.
Die älteren Männer, die Titus als Aufseher anstellen sollte, mußten dem zuverlässigen Wort anhangen. Sie sollten wahrheitsliebend sein. Außerdem sollten sie es festhalten, wie sie gelehrt worden waren, d. h., sie sollten die Autorität anerkennen, mit der es ursprünglich gegeben worden war, und diese Autorität sorgfältig achten und sich ihr unterordnen. Sie sollten nicht nur selbst nüchterne Männer sein, sondern auch fähig sein, die gesunde Lehre wirkungsvoll zu verkünden. Die Männer, die der Apostel als Betrüger brandmarkte, waren in der Lage, alles zu lehren, wenn nur Geld damit zu verdienen war, und das entsprach ganz dem kretischen Geist, denn für einen faulen Bauch gibt es nichts Wichtigeres, als mit möglichst wenig Aufwand Geld zu verdienen. Der Aufseher hingegen sollte ein Mann sein, der weder dem Wein noch schändlichem Gewinn ergeben war. Er würde die Fähigkeit haben, Aufsicht zu führen, weil er selbst gottesfürchtig war und damit ganz anders als die Kreter von Natur aus.
Bevor wir weitergehen, wollen wir beachten, daß dieser Abschnitt davon ausgeht, daß die Angelegenheiten in der Versammlung von Gott geregelt werden sollen. Wenn es in der Wahl der Menschen gelegen hätte oder um ihre Vorlieben gegangen wäre, hätte Paulus dem Titus geraten, die Kreter anzuregen, eine Kirchenordnung zu entwickeln und Kirchenregeln einzuführen, die sie als am besten geeignet hielten für ihre Insel und deren Lebensstil. Nichts dergleichen tat er. Statt dessen wies er ihn an, in Ordnung zu bringen, was noch mangelte, denn die göttliche Ordnung war bekannt. Tatsache ist, daß die göttliche Ordnung äußerst einfach ist und nichts weiter verlangt als Bescheidenheit, Gnade und eine geistliche Gesinnung. Aber genau da liegt das Problem. Denn die Menschen lieben natürlicherweise das Aufwendige, Bombastische und Imponierende.
Beachte auch, daß die Männer, die in Vers 5 als Älteste angestellt werden sollten, in Vers 7 als Aufseher bezeichnet werden. Das Wort im ersten Vers ist presbyteros, von dem unser Wort Presbyter abgeleitet ist. Das Wort im zweiten Vers ist episkopos, von dem sich unser Wort Bischof ableitet. Ein Presbyter ist ein Ältester und ein Bischof ein Aufseher - denn das bedeutet dieses Wort -, und ursprünglich waren es verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Person.
Die Aufseher nun sollten nüchterne Männer sein und gesund im Glauben, wie wir gesehen haben. Aber wie Vers 13 zeigt, sollen alle Gläubigen gesund im Glauben sein. Das ist äußerst wichtig. Wenn wir selbst richtig stehen - rein sind -, dann sind alle Dinge rein für uns, denn innere Heiligkeit schützt vor Ansteckung. Auf der anderen Seite beschmutzen die Befleckten und Ungläubigen alles, was sie berühren.