Der Brief an die Galater
Kapitel 2
Dieses Kapitel läßt sich ganz einfach in zwei Teile gliedern. Erstens die Verse 1-10, in denen der Apostel berichtet, was geschah, als er Jerusalem zum zweiten Mal nach seiner Bekehrung besuchte. Zweitens die Verse 11-21, in denen er von einem Zwischenfall in Antiochien berichtet, der sich kurz nach seinem zweiten Besuch in Jerusalem ereignete und einen eindeutigen Bezug zu den aktuellen Problemen bei den Galatern hatte.
Der erste Besuch fand ungefähr drei Jahre nach seiner Bekehrung statt (1,18) und der zweite vierzehn Jahre später. Insgesamt waren also siebzehn Jahre vergangen. Die Ereignisse während des zweiten Besuchs sind offenbar die, die uns in Apostelgeschichte 15 ausführlich berichtet werden. Deshalb ist es sinnvoll, bevor wir fortfahren, diesen Abschnitt sorgfältig zu lesen. Dabei fallen einige bemerkenswerte Einzelheiten auf.
Am Anfang von Apostelgeschichte 15 heißt es: „Und einige kamen von Judäa herab.“ Sie lehrten die Brüder, daß die Beschneidung zur Errettung nötig sei. Es fällt auf, daß sie nicht „Brüder“ genannt werden. In unserem Kapitel bezeichnet Paulus sie ohne Zögern als „falsche Brüder“, die „nebeneingekommen waren“. So früh also finden wir unbekehrte Männer, die trotz der Wachsamkeit und Sorgfalt der Apostel unter die Gläubigen gelangt waren! Es ist traurig, wenn sie trotz der Achtsamkeit unbemerkt nebeneingeführt werden. Noch trauriger ist es, wenn man sich zu solchen Grundsätzen bekennt und sie praktiziert, die ihnen geradezu die Tür offenlassen, damit sie hereinkommen.
In der Apostelgeschichte lesen wir, daß „sie anordneten“, daß ein Besuch in Jerusalem erforderlich sei. Aber hier gewährt Paulus uns einen tieferen Blick hinter ihr Tun und Reisen und zeigt uns, daß er „infolge einer Offenbarung“ hinaufging. Die Versuchung mag groß für ihn gewesen sein, diesen falschen Brüdern persönlich entgegenzutreten und sie in Antiochien zu bezwingen. Aber der Herr zeigte ihm, daß er den Wortwechsel beenden und die Sache in Jerusalem behandeln sollte, dort, wo die Ansichten, die seine Gegner vertraten, am entschiedensten vertreten wurden. Es war ein mutiger Schritt, wodurch in der Weisheit Gottes die Einheit in der Kirche bewahrt wurde. Sein Gehorsam der Offenbarung gegenüber hatte zur Folge, daß diese Frage entgegen den Behauptungen dieser falschen Brüder entschieden wurde, und zwar gerade an dem Ort, wo die meisten ihrer Sympathisanten lebten. Hätte man die Frage in Antiochien unter den Nichtjuden entschieden, hätte das leicht einen Bruch hervorrufen können.
Außerdem wird in Apostelgeschichte 15 nur erwähnt, daß „einige andere von ihnen“ mit Paulus und Barnabas nach Jerusalem gingen. Unser Kapitel zeigt, daß sich unter diesen „einigen anderen“ auch Titus befand, ein Grieche. Das trieb das Problem natürlich auf die Spitze. Der Apostel gab seinen Gegnern keinen Fußbreit. Er unterwarf sich ihnen auch nicht eine Stunde, so daß Titus nicht gezwungen wurde, sich beschneiden zu lassen.
Deshalb ist das, was Paulus mit Timotheus tat, um so bemerkenswerter (Apg 16,1-3). Es ist ein Beispiel dafür, wie man etwas unter bestimmten Bedingungen energisch bekämpfen und es unter anderen zugestehen kann. Bei Titus wurde die Beschneidung gefordert, um einen Grundsatz einzuführen, der die Grundlage des Evangeliums antastete. Bei Timotheus stand dieser Grundsatz nicht auf dem Spiel, da die ganze Streitfrage ein für allemal geklärt worden war. Paulus tat es, damit Timotheus unter Juden und Heiden frei seinen Dienst ausüben konnte. Timotheus war Halbjude von Geburt, und der Apostel machte ihn gleichsam zum Volljuden, damit er „die Juden gewinne“ (1. Kor 9,20). Für Paulus selbst und die Korinther und also auch für uns ist die Beschneidung „nichts“ und das Unbeschnittensein „nichts“ (1. Kor 7,19).
Möglicherweise siehst du einen Diener Christi heute ähnlich handeln. Klage ihn nicht sofort eines widersprüchlichen Verhaltens an. Es könnte nämlich sein, daß er aus gottgegebenem Unterscheidungsvermögen so handelt in Fällen, wo du bisher keinen Unterschied wahrgenommen hast. Der Apostel spricht von unserer Freiheit, „die wir in Christus Jesus haben“. Freiheit ließ ihn die Beschneidung ablehnen, als sie Knechtschaft des Gesetzes bedeutet hätte, und Freiheit ließ ihn sie ungefähr ein Jahr später durchführen, als diese grundsätzliche Frage nicht auf dem Spiel stand.
Allerdings nahm Paulus während dieses Besuchs in Jerusalem die Gelegenheit wahr, den anderen Aposteln das Evangelium vorzulegen, das er unter den Nationen gepredigt hatte. Obwohl er es unmittelbar vom Herrn empfangen hatte, fühlte er sich nicht darüber erhaben, daß sich in sein Verständnis der Offenbarung ein Irrtum eingeschlichen haben könnte. Das geht aus dem letzten Teil von Vers 2 hervor. Tatsächlich aber war es ganz anders. Diejenigen unter den Aposteln und Ältesten in Jerusalem, die am besten unterwiesen waren, hatten dem Evangelium des Paulus nichts hinzuzufügen, als sie sich über diesen Punkt berieten. Im Gegenteil, sie erkannten an, daß Paulus eindeutig von Gott berufen war, das Evangelium in die heidnische Welt zu tragen, und daß Petrus einen ähnlichen Auftrag im Blick auf die Juden hatte. Weil die drei führenden Apostel die Gnade erkannten, die Paulus gegeben war, drückten sie ihre volle Gemeinschaft und ihr Einvernehmen mit ihm in seinem Werk aus.
Dieses Ereignis hatte einen deutlichen Bezug zu dem Thema, um das es bei den Galatern ging. Wenn die Männer, die in Galatien am Werk gewesen waren, Paulus angriffen, als sei er ein unbefugter Emporkömmling, konnte er das zurückweisen, indem er zeigte, daß er seine Botschaft durch Offenbarung vom Herrn aus erster Hand empfangen hatte. Darauf beruhte seine Autorität. Wenn sie ihn andererseits angriffen als jemand, der aus eigener Machtbefugnis so handelte und folglich im Gegensatz zu denen stand, die vor ihm Apostel waren, begegnete er dieser Lüge mit der Tatsache, daß Jakobus, Petrus und Johannes ihm nach gründlichen Beratungen ihr vollstes Vertrauen ausgesprochen und ihre Gemeinschaft mit ihm ausgedrückt hatten.
Er brauchte nur noch zu zeigen, daß es eine Zeit gab, als sogar Petrus in gewissem Maß dem Einfluß von Männern nachgegeben hatte, ähnlich denen, die sich jetzt Paulus entgegenstellten, und zu berichten, wie und aus welchen Gründen er ihm damals widerstanden hatte.
In der Apostelgeschichte wird dieser Besuch des Petrus in Antiochien nicht erwähnt, aber er fand offensichtlich nach der Entscheidung des Konzils in Jerusalem statt (Apg 15). Auf diesem Konzil hatte Petrus sich dafür eingesetzt, die bekehrten Heiden aufzunehmen, ohne ihnen das Gesetz Moses aufzuerlegen. Er hatte vom Gesetz als einem „Joch“ gesprochen, „das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten“. Aber als einige von Jakobus aus Jerusalem nach Antiochien kamen, die starre Ansichten über den Wert der Beschneidung vertraten, aß er dort nicht mehr mit den Gläubigen aus den Heiden, sondern zog sich zurück. Sein Beispiel machte Schule, und andere folgten ihm - sogar Barnabas, der früher zu Paulus gestanden hatte (Apg 15,2.12).
Vielen wäre sicher solch ein Verhalten nicht der Rede wert gewesen, eine kleine Voreingenommenheit, die man stillschweigend übergehen sollte, oder eine Laune, über die man schmunzeln könnte. Für Paulus sah das ganz anders aus. Er erkannte, daß bei dieser anscheinend unwichtigen Frage, wie Petrus seine Nahrung zu sich nahm, ernste Grundsätze auf dem Spiel standen und das Verhalten des Petrus nicht „der Wahrheit des Evangeliums“ entsprach.
Wenn wir doch nur alle begriffen, was hier mit solchem Nachdruck vorgestellt wird! Auch das größte Abweichen von der Wahrheit wird uns im allgemeinen unter dem Deckmantel scheinbar unbedeutender und harmloser Umstände präsentiert. Die meisten von uns wären versucht gewesen zu sagen: „Aber Paulus, du nimmst es wirklich peinlich genau! Dir kann man es kaum recht machen! Warum machst du solch ein Aufheben wegen einer Kleinigkeit? Wenn Petrus jetzt nur mit Juden essen will, dann laß ihn doch! Warum willst du unseren Frieden in Antiochien stören und alle unglücklich machen?“ Wir sind oft so unwissend in bezug auf Satans Listen. Er versucht uns anhand von scheinbar harmlosen Dingen von der Wahrheit abzubringen. Die Lokomotive fährt über sehr schmale Weichenzungen vom Hauptgleis auf ein Nebengleis.
Wir wollen an dieser Stelle nebenbei darauf hinweisen, daß die Vorstellung, die Kirche sei zur Zeit der Apostel ein Hort des Friedens und frei von jedem Streit gewesen, von der Schrift nicht gestützt wird. Von Anfang an mußte die Wahrheit durch Kampf gewonnen und verteidigt werden - großenteils durch innere Kämpfe und nicht nur durch äußere Kämpfe mit der Welt. Wir haben kein Recht zu erwarten, heutzutage blieben Konflikte und Schwierigkeiten aus. Mit Sicherheit werden Gelegenheiten kommen, wo Frieden nur durch Kompromisse erkauft werden kann. Wer Weitblick hat und sich deshalb gezwungen sieht, seine Stimme zum Protest zu erheben, muß darauf gefaßt sein, der Lieblosigkeit bezichtigt zu werden. Unterläßt man diesen Protest, bleibt der Friede erhalten, aber es ist der Friede der Stagnation und des geistlichen Todes. Der ruhigste Platz im pulsierenden Herzen einer Großstadt ist der Friedhof. Also aufgepaßt!
Wenn wir nun selbst einmal in eine Lage kommen, wo wir uns moralisch verpflichtet fühlen, Stellung zu beziehen, laßt uns ernstlich beten, daß wir fähig sind, es ähnlich zu tun wie Paulus. „Aber als ich sah ..., sprach ich zu Kephas.“ Wir neigen immer dazu, unsere Beschwerden bei jemand anderem als dem Schuldigen loszuwerden. In Markus 2 sehen wir zum Beispiel, daß die Pharisäer, als sie gegen das Handeln Jesu etwas einzuwenden hatten, sich bei den Jüngern beschwerten (V. 16), und wegen des Verhaltens Seiner Jünger beschwerten sie sich beim Herrn (V. 23.24). Wir tun gut daran, uns zur Regel zu machen, wenn irgendein Einwand nötig ist, diesen direkt bei der betreffenden Person vorzubringen und nicht hinter ihrem Rücken.
Paulus tat das aber „vor allen“. Der Grund liegt darin, daß Petrus' Abweichen schon viele andere angesteckt hatte und somit zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden war. In den meisten Fällen wäre es ein Fehler, öffentlich Einwände zu machen. Manches Abweichen oder manche Schwierigkeit ist nicht allgemein bekannt geworden, und wenn die Sache mit der betreffenden Person in persönlicher Weise gewissenhaft und in Güte geregelt wird, braucht sie überhaupt nicht öffentlich bekannt zu werden. So kann manche Unruhe und ein möglicher Skandal vermieden werden. Einem Abweichen, das öffentlich bekannt ist, muß man allerdings öffentlich entgegentreten.
Paulus erhob Einspruch, indem er Petrus eine Frage stellte, die sich auf seine frühere Lebensführung bezog, vor der plötzlichen Änderung. Petrus hatte die strengen jüdischen Gebräuche zugunsten des freieren Lebens der Heidenchristen aufgegeben, was er selbst schon in Apostelgeschichte 10,28 angedeutet hatte. Wie also konnte er nun diesen Standpunkt verlassen, und zwar auf eine Art, die darauf hinauslief zu sagen, daß alle Heidenchristen sich doch nach den Gebräuchen der Juden richten sollten? Diese Frage lesen wir in Vers 14.
In den Versen 15 und 16 finden wir die Erklärung des Apostels, die auf seine Frage folgte. Dabei konnte Paulus Petrus mit sich selbst verbinden, und Petrus konnte diese Verbindung nicht leugnen. „Wir“, sagte er. „Wir, von Natur Juden“, haben erkannt, daß Rechtfertigung nicht erlangt wird „aus Gesetzeswerken“, „sondern nur durch den Glauben an Jesus Christus“. Deshalb haben wir uns vom Gesetz weg- und Christus zugewandt und sind durch Ihn gerechtfertigt worden. Gott sei Dank, daß das so war!
Nun kommt eine zweite Frage. Wenn es stimmen sollte, daß wir, wie das Verhalten des Petrus nahezulegen schien, noch etwas tun müssen, um unsere Rechtfertigung zu vollenden, indem wir das Gesetz halten oder jüdische Bräuche befolgen, auch wenn wir im Wert des Werkes Christi vor Gott stehen - hieße das nicht, Christus herabzusetzen? Diese Behauptung trägt er in äußerst kraftvoller Sprache vor. Wäre Er nicht sogar „ein Diener der Sünde“ statt ein Diener der Rechtfertigung? Solch eine Frage beantwortet sich selbst. Unmöglich! Deshalb fügt er hinzu: „Das sei ferne!“
Darauf folgt eine zweite Feststellung in Vers 18, eine Aussage, die das Gewissen des Petrus wie ein Hammer getroffen haben muß. Aus der Handlungsweise des Petrus konnte man schließen, daß Christus ein Diener der Sünde sein könnte. Aber es wirkte zweifellos auch so, daß die Trennwand zwischen Juden und Heiden, die in Christus sind, wieder aufgerichtet wurde. Diese war doch durch das Evangelium niedergerissen worden, und Petrus selbst hatte sie zerstört durch das, was er im Haus des Kornelius getan hatte. Welches von beiden auch richtig war, an einer Stelle hatte Petrus etwas falsch gemacht. Wenn er jetzt recht hatte, dann hatte er früher falsch gehandelt. Wenn er früher recht hatte, dann jetzt unrecht. Er war überführt als Übertreter.
Natürlich hatte er jetzt unrecht. Damals hatte er gehandelt, wie Gott ihn in einer Vision angewiesen hatte. Jetzt handelte er spontan, von Menschenfurcht beeinflußt.
Mit diesen wenigen Worten aus dem Mund des Paulus hatte der Geist Gottes aufgedeckt, was das Handeln des Petrus wirklich bedeutete, auch wenn es den meisten unverfänglich erschienen sein mochte. Nur zwei Fragen und zwei Feststellungen, aber welche Wirkung hatten sie! Sie zerstörten Petrus' verkehrte Stellung gänzlich.
Das genügte dem Geist Gottes jedoch nicht. Er führte Paulus dahin, die richtige Stellung zu verkündigen. Paulus hatte sofort erkannt, daß Petrus und seine Anhänger „nicht den geraden Weg nach der Wahrheit des Evangeliums wandelten“. Und so legt er nun, mit so wenig Worten wie möglich, die Wahrheit des Evangeliums sehr klar dar. Er redet davon nicht so sehr als von einer Lehrfrage, sondern als von einer Frage der Erfahrung. So hatte er es selbst erfahren. Er sagt jetzt nicht „wir“, sondern „ich“. Dieses Wort erscheint nicht weniger als siebenmal in den Versen 19 und 20.
In der Apostelgeschichte finden wir eindrucksvolle Beispiele von der Verkündigung des Evangeliums durch Paulus. In Römer 1-8 haben wir aus seiner Feder die Auslegung des Evangeliums. In Galater 1 finden wir die Verteidigung des Evangeliums - durch die Herausstellung der wichtigen Merkmale, die es sozusagen prägen. Jetzt wollen wir die Wahrheit des Evangeliums bedenken.
In den Schlußversen dieses zweiten Kapitels spricht Paulus nur für sich. Vorher, in den Versen 15-17, hatte er „wir“ gesagt, denn er sprach von der Wahrheit, wie sie von den Christen allgemein anerkannt wird, Petrus eingeschlossen. Aber nun kommt er auf eine Wahrheit zu sprechen, die durch Petrus' Verhalten in Frage gestellt worden war. Deshalb konnte er nicht davon ausgehen, daß Petrus sie anerkannte. Es war aber trotzdem Wahrheit, und Paulus konnte sie so persönlich und aus Erfahrung darlegen, weil er in der Kraft und der Freude dieser Wahrheit lebte.
Petrus stand in diesem Augenblick das Gesetz vor der Seele: Er lebte für das Gesetz. „Was mich angeht“, sagt Paulus eigentlich, „so habe ich Gott und nicht das Gesetz vor meiner Seele, und ich lebe für Ihn.“ Um wieviel größer ist Gott, der das Gesetz gab - Gott, jetzt in Christus offenbart -, als das Gesetz, das Er gab! Was befreite Paulus nun vom Gesetz, unter dem er früher gestanden hatte, genau wie Petrus? Es war der Tod. Er war dem Gesetz gestorben, und zwar durch die Handlung des Gesetzes selbst! Das steht in Vers 19.
Trotzdem war er doch sehr lebendig und trat Petrus kühn entgegen. Wie also war er dem Gesetz gestorben? Und was bedeutete es, daß er durch das Gesetz gestorben war? Diese beiden Fragen werden beantwortet in der großartigen Aussage: „Ich bin mit Christus gekreuzigt.“
Mit diesen Worten greift Paulus die Wahrheit des Evangeliums auf und wendet sie ganz persönlich auf sich selbst an. Der Herr Jesus war in Seinem Tod nicht nur der Stellvertreter des Gläubigen, indem Er dessen Sünden trug, sondern machte sich auch völlig eins mit uns in unserem sündigen Zustand, indem Er für uns zur Sünde gemacht wurde, obwohl Er selbst keine Sünde kannte. Das geschah so wirklich und wahrhaftig, daß wir es als eine der grundlegenden christlichen Lehren kennen sollten, „daß unser alter Mensch mitgekreuzigt worden ist“ (Röm 6,6). Die Kreuzigung Christi ist somit die Kreuzigung all dessen, was wir als gefallene Kinder Adams waren. Hier geht es nun darum, daß Paulus das persönlich für sich in Anspruch nahm. Weil er mit Christus gekreuzigt war, war er dem Gesetz gestorben.
Deshalb war die Kreuzigung Christi nicht nur die Tat böser Menschen. Vom göttlichen Standpunkt aus betrachtet, ist sie im Kern zu sehen als jene Tat Gottes, durch die Er für uns zur Sünde gemacht wurde und bei der Er für uns den Fluch des Gesetzes getragen hat (siehe 3,13). Indem Christus unter dem Fluch des Gesetzes starb, starb Er durch das Gesetz. Und weil Paulus mit Christus gekreuzigt war, konnte er sagen, daß er dem Gesetz durch das Gesetz gestorben war, um für Gott zu leben.
Wie kraftvoll und großartig dieser Abschnitt ist, wird uns vielleicht klarer, wenn wir die vier Präpositionen betrachten, die hier benutzt werden.
1. Mit weist auf Identifizierung oder Verbindung hin. Wir sind mit Christus gekreuzigt, denn Sein Tod hat bewirkt, daß wir völlig mit Ihm einsgemacht sind. Folglich war Sein Tod unser Tod. Wir sind mit Ihm gestorben.
2. In gibt hier das Kennzeichen an. Obwohl wir gekreuzigt sind, leben wir. Wir leben noch auf der Erde, aber wir leben nicht mehr die alte Art von Leben. Wir haben ein Leben von einer neuen Ordnung, ein Leben, dessen Kennzeichen man in einem Wort zusammenfassen kann: Christus. Saulus von Tarsus war mit Christus gekreuzigt worden. Der Mensch, den man als Saulus von Tarsus kannte, lebte zwar noch, aber sein Wesen war gänzlich anders. Wenn man ihn beobachtete, kam nicht das Wesen des Saulus von Tarsus zum Vorschein, sondern Christus. Dazu paßt, daß er nicht seinen alten Namen behielt, sondern kurz nach seiner Bekehrung unter dem Namen Paulus bekannt wurde, was „der Kleine“ bedeutet. Er mußte klein werden, wenn Christus in ihm leben sollte.
3. Durch führt uns zu dem, was Paulus' Seele beherrschte und diese neue Art von Leben ermöglichte. Wenn das Leben, das wir jetzt im Fleisch leben - d. h. in unseren sterblichen Leibern -, vorbei ist, werden wir im Anschauen des Sohnes Gottes leben. Bis dahin leben wir durch den Glauben an Ihn. Wenn der Glaube in uns tätig ist, dann steht Er als lebendige, strahlende Wirklichkeit vor unserer Seele. Je mehr Er uns so vor Augen steht, desto mehr wird Er auch in uns gesehen werden.
4. Für bedeutet hier Stellvertretung. Es weist auf die Triebfeder und den Beweggrund im vorbildlichen Leben des Paulus hin. Die Liebe des Sohnes Gottes drängte ihn, und diese Liebe hatte sich in Seinem stellvertretenden Opfertod gezeigt.
Wir können also folgendermaßen zusammenfassen: Das Herz des Paulus war erfüllt von der Liebe des Sohnes Gottes, der für ihn gestorben war. Er verstand nicht nur, daß er mit Christus einsgemacht war in Seinem Tode, sondern nahm es auch aus ganzem Herzen an mit allem, was damit zusammenhing. Was ihn befriedigte und ausfüllte, war der Sohn Gottes in Herrlichkeit. Folglich lag das Todesurteil auf allem, was er von Natur aus war, und Christus lebte in ihm und prägte sein Leben. So war Gott selbst, wie Er in Christus offenbart war, das Endziel seines Seins geworden.
So war es bei Paulus. Und wie ist es bei uns? Daß unser alter Mensch gekreuzigt wurde, trifft auf uns genauso zu wie auf Paulus. Wir sind mit Christus gestorben so wie er, wenn wir wirklich und wahrhaftig Gläubige sind. Aber ist es für uns auch in dieser Weise zur Erfahrung geworden wie für Paulus, so daß es für uns nicht nur eine Sache der christlichen Lehre ist (so wichtig das an seinem Platz ist), sondern auch eine Sache der reichen geistlichen Erfahrung, die unser Leben verwandelt und adelt? Die ehrliche Antwort ist, daß die meisten von uns das nur in beschämend geringem Maß getan haben. Woran liegt das? Wir sind so wenig ergriffen von dem Bewußtsein Seiner großen Liebe. Unser Verständnis über das Wunder Seines Opfers für uns ist so gering. Wir waren uns vielleicht nicht tief genug bewußt, wie schrecklich unsere Sündhaftigkeit war, und dann war unsere Bekehrung verhältnismäßig seicht. Wenn wir die Dinge bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, liegt die Erklärung, so meine ich, genau an diesem Punkt.
Wenn wir uns die große Liebe Christi mehr bewußt machen, wird auch unsere Liebe zu Ihm angefacht werden, und wir werden Fortschritte in die richtige Richtung machen.
Die Schlußworte des Apostels im letzten Vers dieses Kapitels machen ganz klar, daß die Haltung, die Petrus eingenommen hatte, die Gnade Gottes beiseite setzte oder ungültig machte. Sie würde besagen, daß Gerechtigkeit schließlich doch durch das Gesetz kommen kann, und zu der Annahme führen, daß Christus „vergeblich“ oder „umsonst“ gestorben wäre. Welch verhängnisvolles Ergebnis!
Und doch war das die logische Schlußfolgerung. Jetzt war der Punkt gekommen, die Galater mit allem Nachdruck wachzurütteln. Den Aufruf dazu finden wir in den ersten Versen von Kapitel 3.