Die Erziehung in der Schule Gottes
Hiskia
Nichts ist anziehender und lehrreicher, als die Wege Gottes mit einem Menschen, der – von gleicher Natur und gleichen Gefühlen wie wir – benutzt und befähigt wird, Seinen Willen zu tun. Sie zeigen, wie die Gnade Gottes wirkt und wo sie behindert wird, und wie der Mensch durch sie geformt und bewacht wird. Diese Art der Erklärung lehrt uns, wie Gott einen Menschen in Seinem Dienste verwenden kann und wie ein Knecht fällt, wenn er sich nicht einfach von Gott leiten läßt. Wer einen klaren Begriff von der göttlichen Erziehung bekommen will, muß diese Gesichtspunkte beachten. Die Schrift entfaltet am einzelnen Beispiel Art und Charakter der Umstände, die der Knecht Gottes durchschreiten muß. Beschäftigen wir uns damit näher und beobachten wir die Unterweisungen, die der Einzelne erhält, so gelangen wir zum Verständnis der Gedanken Gottes in jener Zeit.
Hiskia lebte während einer ereignisreichen, sehr kritischen Zeit in Israel, und wie er von Gott für diese Zeit vorbereitet und unterwiesen wird, ist höchst aufschlußreich. Es besteht oft in den wesentlichsten Punkten große Ähnlichkeit zwischen der Stellung, die wir selbst berufen sind einzunehmen, und derjenigen, die von ausgezeichneten Knechten Gottes eingenommen wird. Die Beschäftigung damit, wie Gott einen vorzüglichen Knecht führt, gereicht oft zur Förderung eines schwächeren Gefäßes, das über seinen unmittelbaren Bereich hinaus unbekannt ist, obwohl es die Wege Gottes ebenso wahrhaftig erfahren und unter Seiner Hand ebenso vollständig erzogen werden kann, wie der hervorragendste und ausgezeichnetste Knecht.
An Hiskia wird uns zunächst gezeigt, wie er gestärkt wurde, um das Zeugnis Jehovas auf beispielhafte Weise erneuern zu können, und zwar zu einer Zeit, als alles auf einem Tiefstand angelangt war und sich scheinbar im unaufhaltsamen Verfall befand. Sein Leben beweist aber auch, wie er lernte, in Gott zu ruhen, während seine Seele vom Ende und von der Verödung alles Irdischen überzeugt war. Seine Geschichte ist sehr anziehend, weil sie bekundet, wie Gott Seinen Knecht voranführt, ihn zur Ausführung Seines Willens und zum Wandeln auf Seinen Wegen befähigt und ihm dennoch die Einsicht vermittelt, daß, wie erfolgreich ein Mensch auch sein mag, doch alles verwirkt ist, wenn er sich abwendet und auf andere Menschen vertraut.
Das Leben Hiskias ist in seinen großen Linien bewegt und sehr instruktiv. Die Aufzeichnungen über sein Wirken beginnen mit der Feststellung– „Er tat die Höhen hinweg, und zerschlug die Bildsäulen, und rottete die Aschera aus, und zertrümmerte die eherne Schlange, welche Mose gemacht hatte; denn bis zu jenen Tagen hatten die Kinder Israel ihr geräuchert, und man nannte sie Nechustan“ (2. Kön 18,4). Es war eine kühne und entscheidende Tat, mit der er seine öffentliche Laufbahn als Knecht Gottes begann; denn der Höhendienst war lange Zeit hindurch in ausgeprägter Form geübt worden. Höhen gab es vor, zu und nach den Tagen Salomos (vgl. 1. Kön 3,3). Durch welche Erziehungsmaßnahmen Hiskia die Eignung zu einer schnellen und entschiedenen Handlungsweise erlangt hat, wird uns nicht mitgeteilt. Nach dem Bericht über die Wege seines Vaters und dem Zustand, in dem sich das Zeugnis des HERRN damals befand, hätte man jedenfalls nicht ohne weiteres erwarten können, daß ein 25 jähriger junger Mann unmittelbar nach seiner Thronbesteigung mit solcher Tatkraft und Entschiedenheit handeln würde. Er entsteigt dem Schutt und den Trümmern früherer Größe, als ob er nichts damit zu tun hätte, und gelehrt worden wäre, sich von alledem zu trennen und es bloßzustellen. Er verhält sich andererseits wie ein zweiter David, der im übertragenen Sinne seine Brüder im Terebinthental besucht. Getrennt von ihnen und doch in ihrer Mitte, schickt er sich an, alles zu beseitigen, was Gott entehrt. Das deutet auf eine Schule hin, in der ihm diese Gedanken eingepflanzt wurden.
Die Weise, wie wir handeln, zeigt den Charakter der Grundsätze, die wir in uns aufgenommen haben. Davids Erziehung in der Wüste bereitete ihn auf das Zusammentreffen mit Goliath vor; Hiskia muß auf eine andere Art vorbereitet und geübt worden sein, sonst hätte er der Unordnung, die ihn umgab, nicht durch so vollkommene Reformen begegnen können. Häufig erproben und erziehen die ungeordneten Zustände den Knecht Gottes selbst. Der eine unterwirft sich ihnen, der andere beklagt sie, ein dritter begegnet ihnen mit schwachen, unzulänglichen Mitteln; wer aber in seinem Herzen von Gott belehrt ist, kann nur für die wahre, göttliche Ordnung eintreten. Er schließt keinen Kompromiß, sondern besteht auf der Maßnahme, die Gott entspricht, was sie auch immer koste.
Daß eine göttliche Erziehung, gleichviel ob im verborgenen oder offenkundig –, stattgefunden hat, erkennt man an den Früchten, die hierdurch genährt und entwickelt werden. Die erhabene Stellung eines wohlerzogenen und treuen Knechtes zeigt sich bei Hiskia darin, daß er nicht nur die Bildsäulen und die Aschera, sondern auch die eherne Schlange zertrümmerte und damit eine Gefahr, – die Kinder Israel räucherten ihr –, beseitigte, die bis dahin von anderen Knechten Gottes übersehen worden war. Seine ersten Maßnahmen gelten also der uneingeschränkten Wiederherstellung der Ehre Gottes; erst danach verficht er, mit Kraft gestärkt, nach allen Seiten die Rechte seiner Berufung und seine wahre Würde als König von Juda. „Und Jehova war mit ihm; überall wohin er zog, gelang es ihm. Und er empörte sich gegen den König von Assyrien und diente ihm nicht“ (2. Kön 18,7). Hiskia machte jedoch nicht nur seine wahre Stellung als Gottes König geltend, sondern hielt auch das Zeugnis für Gott voll und ganz aufrecht.
Es genügt nicht, unseren Feinden zu widerstehen und sie zu zwingen, von ihren Anmaßungen abzustehen, sondern wir müssen auch die Wahrheit Gottes zur Darstellung bringen. Hiskia zeigt sich nicht nur seinen Feinden Überlegen, sondern widmet sich auch in tätiger Weise der Wiederherstellung des Zeugnisses Gottes. „Im ersten Jahre seiner Regierung, im ersten Monat, öffnete er die Türen des Hauses Jehovas und besserte sie aus“ (2. Chr 29,3). Das bewirkte Segen für die Stadt, und zwar in so reichem und vollem Maße, daß es heißt: „Und es war große Freude in Jerusalem; denn seit den Tagen Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel, war desgleichen in Jerusalem nicht gewesen“ (2. Chr 30,26). Aber er beschränkte sich nicht auf Jerusalem und auf die Wiederherstellung des Tempels. „Desgleichen tat Jehiskia in ganz Juda. Und er tat was gut und recht und wahr war vor Jehova, seinem Gott“ (2. Chr 31,20). Wer dem Bösen widersteht und das Gute tätig verficht, beweist, daß er im Besitz göttlicher Kraft ist; er kennt keine Einseitigkeit. Wo hingegen nur Überzeugung, aber keine göttliche Kraft vorhanden ist, wird alles unvollkommen bleiben. „Schlaff hängen die Beine des Lahmen herab“ (Spr 26,7). So mögen große Anstrengungen da sein, dem Feinde zu widerstehen, aber ohne entsprechende Bemühungen, die Wahrheit wiederzuerlangen, während andererseits der ausgesprochene Wunsch da sein mag, die Wahrheit wiederzuerlangen, man sich jedoch abquält mit dem was der Wahrheit feindlich ist. Man mag nach der Unterdrückung des Bösen rufen, ohne auf das Zeugnis Gottes zu achten, oder das was Christo wirklich zuwider ist, stillschweigend dulden und zugleich Seinen Namen bekennen.
Hiskia ist kein Lahmer; er steht fest auf beiden Füßen, indem er dem Bösen widersteht und zugleich die Wahrheit Gottes in ihrer wahren Kraft und Vortrefflichkeit verwirklicht.
Der beschriebene Zeitabschnitt fällt in die ersten 14 Jahre der Regierung Hiskias; es war eine glückliche, nützliche Zeit. Aber auch der Nützliche muß mit sich selbst zu Ende kommen und erkennen, daß sein alles in Gott liegt. Wir können immer wieder beobachten, daß mancher Knecht Gottes zunächst in Vorbereitung auf einen nützlichen Weg gezüchtigt, ein anderer hingegen im Anschluß an eine nützliche Zeit heimgesucht wird, damit er erkennt, wie wahr und vollkommen Gott Selbst weit über allem anderen steht.
Das 14. Jahr war besonders ereignisreich: „Und im 14. Jahre des Königs Hiskia zog Sanherib, der König von Assyrien herauf wider alle festen Städte Judas und nahm sie ein“ (2. Kön 18,13), und „Nach diesen Dingen (d. h., nach dem, was oben kurz angedeutet wurde) und dieser Treue kam Sanherib, der König von Assyrien, und er drang in Juda ein“ (2. Chr 32,1). Auch wurde Hiskia in jenen Tagen krank zum Sterben. Diese Krankheit muß im 14. Jahr seiner Regierung aufgetreten sein, denn mit der Genesung wurden ihm 15 weitere Lebensjahre geschenkt, und er regierte insgesamt 29 Jahre (2. Kön 18,2). Dass die Krankheit nach dem zweiten Einfall Sanheribs erwähnt wird, dürfte vorbildliche Bedeutung haben. Hiskias Übungen während seiner Krankheit stellen dar, was Israel vor seiner endgültigen Errettung durchzustehen haben wird. Es ist ein schönes und anziehendes Bild, Hiskia –14 Jahre lang, d. h. eine doppelt vollkommene Zeit vor Gott in Würde und Treue auf der Erde wandeln zu sehen.
Aber nun wird er in ganz andere Umstände geführt. Prüfungen von außen und von innen liegen auf ihm. Der König von Assyrien bedrückt ihn und versetzt ihn in Furcht, und Gott Selbst prüft ihn tief und schmerzlich. Er scheint beim ersten Einfall Sanheribs den Glauben verloren zu haben; andernfalls wäre unverständlich, daß Sanherib seinen Angriff noch fortsetzte, nachdem er den geforderten Tribut erhalten hatte. Die Geschichte stellt sich im Einzelnen so dar, daß Sanherib im 14. Jahre Hiskias heraufzog und einige Städte in Juda belagerte. Damals kaufte Hiskia sich los und vereinbarte, ein bestimmtes Lösegeld zu zahlen. In der Folge fiel Sanherib aber erneut in Juda ein – möglicherweise nach seiner Rückkehr aus Ägypten – und bedrohte Jerusalem. Zwischen diesen beiden Einfällen wurde Hiskia von einer schweren Krankheit heimgesucht und in tiefe Seelenübungen geführt. 14 Jahre lang hatte er mit Gott gewandelt, und hatte Gedeihen. Nun steht er vor der ersten Niederlage in seinem Leben. Anstatt – wie er es einst getan hatte – den Angriff des Königs von Assyrien abzuschlagen, kauft er sich frei.
Am Anfang seiner Regierung hatte er sich ohne sichtbare Hilfsquellen gegen den König von Assyrien empört und ihm den Gehorsam verweigert. Jetzt dagegen, nachdem ihm Erfolg verliehen und er in Macht nach allen Seiten hin gesichert war, zeigt er sich unfähig und kraftlos, eine Stellung zu halten, die er allein durch den Glauben errungen hatte. So erklärt sich das Versagen vieler Knechte Gottes! Wer Gott in Abhängigkeit dient, sieht Seinen Weg und geht ihn kühn und unbeirrt, selbst wenn sich keine Hilfe zum Überwinden zeigt. Wer aber auf die Früchte seiner Treue, auf die Besitztümer und Hilfsquellen blickt, die er empfangen hat, fürchtet, sie durch ein neues Wagnis zu verlieren, zumal wenn er sie nicht von Ihm und mit Ihm besitzt. So war es mit Hiskia. Er, in dessen Händen göttliche Rechte lagen, hatte den richtigen Platz so furchtlos eingenommen, bediente sich nun aber des unwürdigen Mittels, sich von dem Assyrer loszukaufen, dem er einst glaubensstark die Stirn geboten hatte. Welch ein Gegensatz zwischen dem Vertrauen, das der Glaube an Gott gibt, und der Zuversicht, die man selbst aus besten menschlichen Hilfsquellen ableiten kann! Mit Gott als Helfer kann sich Hiskia auch unter schwierigsten Umständen weigern, dem König von Assyrien zu dienen; im Vertrauen auf Macht und Gedeihen aber sinkt er auf die Stellung eines Tributpflichtigen ab.
Zu dieser Zeit dürfte er von seiner Krankheit heimgesucht worden sein. Sicherlich geschah dies nicht ohne Zweck. Gott wollte ihm den Tod und dessen Schrecklichkeit für den Menschen vor Augen stellen. Durch den Mund des Propheten Jesaja läßt Er ihm sagen: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht genesen. Da wandte Hiskia sein Angesicht gegen die Wand und betete zu Jehova und sprach: Ach, Jehova! gedenke doch, daß ich vor deinem Angesicht gewandelt habe in Wahrheit und mit ungeteiltem Herzen, und daß ich getan, was gut ist in deinen Augen! Und Hiskia weinte sehr“ (Jes 38; vgl. 2. Kön 20,3). Diese Übung und Erziehung muß auf die eine oder andere Art jeder Gläubige erfahren und ertragen. Es gilt, den für die alte Natur furchtbaren Augenblick der Erkenntnis des nahenden Todes zu überstehen, sich damit abzufinden, daß alles, was dem Menschen teuer ist, was ihn mit seinen eigenen Werken und seinem Willen verbindet, in Zerfall sinkt! Der Mensch, wie er in sich selbst ist, vergeht. je größer seine Stellung hier ist, je ausgedehnter seine Beschäftigungen, je angenehmer seine Verbindungen und je ausgeprägter seine Zuneigungen sind, soviel größer ist der Schmerz, dem er im Tode unterworfen ist.
Hiskia war ein hervorragender und besonders nützlicher Mann, der in Wahrheit und mit ungeteiltem Herzen vor Gott gewandelt hatte. Er litt angesichts des Todes nicht an Zweifeln über seine endgültige Errettung; sondern ihn bedrückte die Trennung von allem, was ihn hier anzog und beschäftigte. Wie hätte er als der Mittelpunkt nützlicher Wirksamkeit und Macht, und auch aus anderen Erwägungen, es leicht hinnehmen können, daß er so plötzlich seiner Stellung und seines Wirkungsbereichs durch eine so finstere Macht wie den Tod beraubt werden sollte? Wer begreift, was es heißt, von allem, was man als Mensch liebt, von denen, die uns Liebe entgegenbringen und in ihrer Existenz an uns gebunden sind, so jäh abgeschnitten zu werden, wird Hiskia nicht verurteilen, sondern mit ihm mitfühlen.
Sein Verhalten zeigt uns, wie ein Mann Gottes, eine wiedergeborene Seele, den Schmerz fühlt. Was kann rührender sein als seine eigenen Worte über seine Seelenübungen angesichts des Todes. Auch der Christ muß durch den Tod hindurchgehen, wenn er vor der Ankunft des Herrn von dieser Erde abgerufen wird; aber er weiß, daß er auf der anderen Seite des Grabes, getrennt vom Fleische, Leben in Christo hat. Das Bewußtsein aber, daß ihm dieses Leben in Christo unendlich viel mehr schenkt als er im Tode verliert, macht ihm das Sterben leicht. Aber wir müssen die Aufgabe unserer Existenz als Mensch bereits jetzt in sittlicher Weise im Kreuz Christi lernen; diese Aufgabe – d. h. der Tod – ist an sich äußerst schmerzlich, wenn auch notwendig. Sie vermittelt uns nicht zuletzt auch die Erkenntnis, daß Güte und Nützlichkeit des Menschen die Härte des Todes und den Schmerz nicht mildern, sondern noch fühlbarer machen. Es handelt sich hierbei ja nicht um den bloßen Todesschmerz eines niederen Lebewesens, sondern um die jähe gewaltsame Lösung meiner Verbindung zu allem, was mich anzieht und fesselt, was das Leben wertvoll und großartig macht. Abgesehen von dem Fall, daß ein Mensch infolge tiefen Kummers oder schwerer Krankheit von sich aus nach dem Ende verlangt, ist es immer bitter, ohne himmlische Hoffnung von alledem abgeschnitten zu werden, Dieser Bitterkeit gibt Hiskia mit den folgenden Worten Ausdruck: „In der Ruhe meiner Tage soll ich hingehen zu den Pforten des Scheol, bin beraubt des Restes meiner Jahre. Ich sprach: Ich werde Jehova nicht sehen, Jehova im Lande der Lebendigen; ich werde Menschen nicht mehr erblicken bei den Bewohnern des Totenreiches. Meine Wohnung ist abgebrochen und ward von mir weggeführt wie ein Hirtenzelt. Ich habe, dem Weber gleich, mein Leben aufgerollt: vom Trumme schnitt er mich los. Vom Tage bis zur Nacht wirst du ein Ende mit mir machen! Wie eine Schwalbe, wie ein Kranich, so klagte ich; ich girrte wie die Taube. Schmachtend blickten meine Augen zur Höhe“ (Jes 38,10-12.14).
Diese Worte Hiskias zeugen von den Übungen, denen er während dieser strengen Prüfung unterzogen wurde und die ihn zu neuer Erkenntnis führen: „O Herr, mir ist bange! Tritt als Bürge für mich ein“ (Jes 38,14)! Er sieht nun die Auferstehung, erfährt die Vergebung und kann jetzt sagen: „O Herr! durch dieses lebt man, und in jeder Hinsicht ist darin das Leben meines Geistes. Und du machst mich gesund und erhältst mich am Leben. Du, du zogest liebevoll meine Seele aus der Vernichtung Grube; denn alle meine Sünden hast du hinter deinen Rücken geworfen. Der Lebende, der Lebende, der preist dich, wie ich heute“ (Verse 16–17+19).
Die Zucht hat ihr gesegnetes Ziel erreicht; die schreckliche Prüfung hat ihn gelehrt, vollkommen in Gott als der Quelle des Lebens zu ruhen. Wer mit Gott lebt, wird das Sterben des alten Menschen an sich und den Verlust der damit in Verbindung stehenden Dinge nicht hoch veranschlagen; ihm geht es darum, daß ihm der Tod als Mensch in besonderer Weise die Befähigung zu einem Gott entsprechenden Wandel vermittelt. Die Verwirklichung dieser Fähigkeit bedeutet die Zusammenfassung und das ENDE aller Zucht. Wer sich für tot hält und dem Geist erlaubt, Christum im Herzen lebendig zu erhalten, wird durch diese Zucht nur in dem gefördert werden, was er in der Kraft des Lebens angenommen hat; aber der Tod – hier der sittliche Tod – ist unmittelbare Wirklichkeit und sehr schmerzlich; wir können ihn nur in dem Maße, wie wir im Leben Christi stehen, freudig auf uns nehmen und sagen: „Der Lebende, der Lebende, der preist dich, wie ich heute“.
Hiskia hat eine wunderbare Erfahrung gemacht. Er hat erlebt, was es heißt, im Tale des Todesschattens zu wandern, wo die Lichter nach und nach erlöschen; er hat das Zerreißen der silbernen Schnur, aber auch die große Macht Gottes verspürt, die ihn wieder emporhob. Wird er nun als ein solchermaßen belehrter und in der Erkenntnis erneuerter Mensch wandeln? Aus seiner weiteren Geschichte ersehen wir, welchen Übungen eine so erzogene Seele unterworfen wird, wie sie erneut in der Versuchung fällt, aber im Fallen dennoch den Nutzen erfahrener tiefgreifender Zucht beweist, der sich – so widerspruchsvoll es klingen mag – in besonderer Schwachheit und zugleich in besonderer Stärke offenbart: der Schwachheit des alten Menschen und der Kraft empfangener Gnade.
Wer der Gnade zuschreibt, sie verhülle das Fleisch und schütze es vor Entdeckung, verkennt ihr Wesen. Sie ist wohl bestrebt, das Fleisch zu unterdrücken und niederzuhalten; aber sie gibt ihm niemals eine unechte Färbung oder einen unwahren Anstrich. Im Gegenteil, je wirksamer die Gnade ist, um so deutlicher wird die Häßlichkeit des nicht unterworfenen und gerichteten Fleisches hervorgekehrt, so daß es nicht ungewöhnlich ist, einem Ausbruch des Fleisches oder seinen bloßgelegten Neigungen in der alten Natur dort zu begegnen, wo die Gnade in ihrer ganzen Tiefe tätig wird. Als Petrus den Herrn verleugnete, wurde sein Fleisch bloßgestellt, während ihn der tiefe Zug der Gnade in seiner Seele zur Reue leitete. Nachdem Paulus in seiner Seele mit den Reichtümern der Herrlichkeit erfüllt worden war, muß ihm ein Dorn im Fleische, das sonst vielleicht gar nicht hervorgetreten wäre, gegeben werden. Die Gnade ist es, die das Böse in mir ans Licht bringt und mich auf diesem Wege entschiedener weiterführt. Wenn ich nahe beim Herrn wandle, wird das Böse entdeckt werden, ehe es zu wirken anfängt, andernfalls aber verhindert die Tatsache, daß ich in der Gnade stehe, nicht die Aufdeckung des Bösen. Wird es erkannt und vor Gott gerichtet, so wird es hinweggetan, ohne daß es sich öffentlich in Handlungen verrät; wenn aber nicht, wird – die Gnade es nicht verdecken. Es wird ans Licht gebracht und von Gott verurteilt werden, da es von mir nicht verurteilt worden ist; „denn wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet“. je weiter wir in der Gnade fortschreiten, um so mehr wird diese die mangelnde Unterdrückung des Fleisches enthüllen, d. h., wenn wir nicht in Abhängigkeit von Gott wandeln, von Dem wir die Gnade empfangen haben.
In seinem Verhalten zu den Gesandten von Babel verrät Hiskia seine Natur; er, der in tiefen Seelenübungen den Entschluß gefaßt hatte: „Ich will sachte wallen alle meine Jahre“ (Jes 38,15), ist gegen die Schmeichelei der Welt noch nicht gefeit. „Hiskia hörte sie an, und er zeigte ihnen sein ganzes Schatzhaus: das Silber und das Gold, und die Gewürze und das köstliche Öl; und sein ganzes Zeughaus, und alles, was sich in seinen Schätzen vorfand; es war nichts in seinem Hause und in seiner ganzen Herrschaft, was Hiskia ihnen nicht gezeigt hätte“ (2. Kön 20,13).
Obwohl dieser Mann so tiefgreifende Erfahrungen im Tal des Todesschattens gemacht hatte, sucht er dennoch von Babel anerkannt und geehrt zu werden. Ein Knecht Gottes hätte eine solche Anerkennung abweisen sollen; aber er gab nach und brachte demzufolge das Gericht über sein Haus. Welch ein schlagender Beweis von der Unverbesserlichkeit der menschlichen Natur! Wer anerkannt und geehrt wird, wird damit erprobt. Der Schmelztiegel für das Silber ... und ein Mann nach Maßgabe seines Lobes“ (Spr 27,21). Die einfache Tatsache, daß Anerkennung und Ehre unser Fleisch befriedigen, bezeugt eindeutig die Gefahr, die damit für uns verbunden ist. Hiskia strauchelt hinein. Welch ein Fall für einen Menschen, der in Übungen der Seele Tod und Auferstehung erfahren hatte! Babel verkörpert die Welt in ihrem selbstsüchtigen, unabhängigen Vorgehen; die Gunst der Welt aber ist trügerisch. Sie gereicht nur dazu, Hiskias schwache Seite bloßzustellen; das Gericht aber trifft nicht nur ihn, sondern sein ganzes Haus. Das Urteil richtet seine Natur, nicht nur das Ärgernis, das die Frucht der Natur war.
Wenn die Schmeichelei Babels die Schwachheit und Eitelkeit Hiskias – dies ist immer die Folge weltlichen Gedeihens – offenbarte, so zeugt der Einfall und die furchtbare Drohung des Assyrers (2. Kön 18,17) nur von der Kraft seines Vertrauens auf Gott. Die große Zucht, die er erduldet hatte, war nicht wirkungslos geblieben. Dem Menschen gegenüber bewahrt er nunmehr eine ruhige, unerschütterliche Würde. Es war sein Gebot angesichts der Boten des Königs von Assyrien: „Ihr sollt ihm nicht antworten“! aber vor Jehova schüttet er sein Herz aus; Ihm klagt er alle seine Not. Einst hatte er in Schwachheit versucht, den Eindringling mit Geld abzufinden, aber jetzt zerreißt er seine Kleider, hüllt sich in Sacktuch und geht in das Haus Jehovas. Seiner Stellung und seinem Betragen nach verhält er sich genau umgekehrt wie bei den Gesandten von Babel, und das entsprach einem, der aus dem Tode ernporgehoben war, der erfahren hatte, was der Tod wirklich ist. jetzt ist Hiskia nichts in sich selbst, sondern seine Hoffnung ist auf Gott gerichtet.
Jehova hatte ihm nicht nur Genesung von seiner Krankheit, sondern auch Befreiung vom Assyrer verheißen (2. Kön 20,6), und Sein Sieg ist immer vollständig, sowohl über uns selbst als auch über jeden Unterdrücker. Unter dem gefährlichen Einfluß eines Systems der Huldigung und Schmeichelei war Hiskia im Verkehr mit den Gesandten von Babel gefallen und mußte unter der Regierung Gottes durch die Bekanntschaft mit dem Tod und das, was Gott im Tode ist, zurechtgebracht werden. Unter dem Druck des Assyrers aber wendet er sich zu Gott und erfährt eine wunderbare Errettung aus der Hand der Assyrer durch das Eingreifen Gottes. Dies ist das letzte Ereignis, das die Schrift aus seinem Leben berichtet. Es schließt in geeigneter Weise die Geschichte seiner Erziehung ab. Er hat erfahren, daß ein durch das Tal des Todes geführter Mensch leichter ausharren kann, wenn Tod und Bedrückung vor ihm stehen, als wenn er anerkannt und schmeichelnd geehrt wird, und er hat gelernt, daß alles Fleisch Gras ist. Gott wird nun alles in allem für seine Seele. Wenn wir dahingelangt sind, ist der Zweck aller Erziehung erreicht. Möchten wir lernen und in Geduld wandeln, damit wir vollkommen werden und nichts ermangeln!