Die Erziehung in der Schule Gottes
Gideon
Um Gideons Geschichte und seinen Dienst verstehen und würdigen zu können, müssen wir den Zustand des Volkes Gottes überschauen, als Gideon berufen wurde, ein Zeuge und Diener unter ihnen zu werden.
Israel war sieben Jahre von Midian unterdrückt und beherrscht worden. Ihre Feinde herrschten eine vollkommene Zeit (7) über sie, weil sie gegen die Herrschaft Gottes aufsässig geworden waren; so erfahren sie im Lande des Segens und der Vorrechte den Gegensatz zwischen der Herrschaft Gottes und der des Menschen. Wir werden immer von irgend jemand oder irgend etwas beherrscht; wenn nicht von Gott, dann von der Macht, die Gott und Seinem Volke feindlich ist; und wir werden dieser Macht oft unterworfen, um zu erkennen, wieviel besser die Macht Gottes ist als die Macht der Welt, unter der wir gequält und aufgerieben werden. Dieser Zucht sind alle Kinder Gottes ausgesetzt, und die Kirche hat sie auf bittere Weise erfahren; denn statt ihre Vorrechte und Segnungen zu genießen, hat sie sich der Macht der Welt unterworfen. Gequält und beunruhigt suchen viele der Treuen hier und da, in den Klüften der Berge, den Höhlen und Bergfesten, um eine kurze Ruhepause von der drückenden Herrschaft zu genießen, die zugelassen worden ist, weil die Kirche die Autorität Christi abgewiesen hat.
Der größte Diener leidet am schwersten; er muß den Zustand vollkommen erkannt haben, ehe er handeln kann. Er muß mit dem Volke unter den Umständen der Prüfung gelitten haben; er muß die Tiefen des Elends, zu denen sie geführt wurden, erfahren haben; wenn er nicht weiß, woher und wohin er das Volk heraufführen soll, kann er ihm nicht seinen Bedürfnissen entsprechend helfen. Er muß Geduld haben und den Schmerz des Urteils kennen, wenn er die Befreiung, die er herbeiführen soll, richtig würdigen soll. Paulus war der frommste Pharisäer und wußte am besten um die bösen Auswirkungen der Vorurteile der Pharisäer. Daher konnte er sie, nachdem er von Gott belehrt war, am wirksamsten und treffendsten bloßstellen und zum Schweigen bringen. Er, der in der alten Natur in die Tiefen dieser Vorurteile eingedrungen war, konnte unter der Gnade keines von ihnen unaufgedeckt und unerkannt lassen, denn der Herr bereitet Seine Diener zu, gerade das Böse anzuprangern, wozu sie ihre eigene alte Natur geleitet hat. „Und du, bist du einst zurückgekehrt, so stärke deine Brüder“.
So wurde Gideon vorbereitet; noch nicht durch die Erkenntnis seiner eigenen bösen Natur, sondern durch die praktische Einsmachung mit den Umständen, in denen sich das Volk Israel auf Grund seiner Verfehlungen befand. Er litt mit ihnen und hatte sicher mit eingestimmt, als sie wegen der Midianiter zu Jehova schrien. Aber ehe er als Befreier auf dem Schauplatz in Erscheinung tritt, gibt Jehova eine Antwort auf das Schreien, indem er (durch den Mund eines Propheten) dem Volk vor Augen führt, wie es von Ihm abgewichen war (
Auch hier sehen wir, wie die Israeliten durch die Überführung ihres Gewissens auf die nahende Befreiung vorbereitet werden. Unmittelbar danach eröffnet der Engel Jehovas die Verbindung zu dem ausersehenen Befreier, dessen Eignung für das Werk in seiner Stellung und seiner Beschäftigung zum Ausdruck kommt. „Und Gideon ... schlug eben Weizen aus in der Kelter, um ihn vor Midian zu flüchten“. Das kennzeichnet diesen Mann. Das Eisen war in seine Seele gedrungen, aber seine Kraft hatte ihn am Tage des Unglücks nicht verlassen, und wahre Kraft zeigt sich gerade darin, daß sie in dem Augenblick, da sie gebraucht wird, vorhanden ist; die Not bringt eine sonst verborgene Fähigkeit ans Licht. Gideons Kraft war der Lage gewachsen; er stärkte das Übrige, das sterben wollte, und während er so seine Treue im Geringsten offenbarte, offenbart sich ihm der Engel Jehovas, nachdem er ihn beobachtet hat, und sagt zu ihm: „Jehova ist mit dir, du tapferer Held“. Scheinbar eine eigenartige Anrede für einen armen Mann, der Weizen drischt! Aber Jehova schätzt ihn nicht als Menschen; Er kennt das Gefäß, das Er gebrauchen kann und Er weiß, was es vollbringen kann. Der Apostel Paulus sagt: „Er hat mich treu erachtet, indem er (mich) in den Dienst stellte ...“ Er bezeichnet Gideon als einen „tapferen Helden“, weil Er Gideons Bemühungen, den Rest der Segnungen zu verwahren, würdigt, und Er beruft ihn zu einer erhabeneren Sendung und zu einem größeren Dienst.
Offenbar hatte Gideon über die Wege Jehovas nachgedacht, denn er antwortet: „Bitte, mein Herr! wenn Jehova mit uns ist, warum hat denn dieses alles uns betroffen? Und wo sind alle seine Wunder, die unsere Väter uns erzählt haben, indem sie sprachen: Hat Jehova uns nicht aus Ägypten herauf geführt? Und nun hat Jehova uns verlassen und uns in die Hand Midians gegeben“. An dieser Erwiderung sehen wir, daß er nicht nur wußte, wie Jehova in früheren Zeiten mit Israel gehandelt hatte, sondern auch, daß sie sich nun unter Seinem Gericht befanden. In beidem sah er Gott allein. Daher „wandte sich Jehova zu ihm“ und befahl ihm: „Gehe hin in dieser deiner Kraft, und rette Israel aus der Hand Midians! Habe ich dich nicht gesandt“? Der Knecht Gottes muß wissen und glauben, daß in Gott die Macht ist, die ihn allein aufrichten und niederwerfen kann; das ist der Grundstein der Seele für jede Befreiung.
Gideon wußte das; aber es ist ein großer Unterschied, ob man anerkennt, daß alle Macht Gott gehört, oder sieht, daß sie für uns wirksam ist; und da jene Überzeugung uns unsere eigene Machtlosigkeit um so mehr fühlen läßt, wird sie Verzagtheit hervorrufen, wenn wir nicht in der Sicherheit ruhen, daß Gott für uns und durch uns handelt. Gideon kann nicht sehen, wie die Verbindung zwischen Gott und Menschen zustandekommen soll, so daß der Mensch Gottes Macht und Willen ausführen kann und er macht seine Unbedeutendheit und Unzulänglichkeit geltend. Aber Jehova gibt ihm eine Verheißung, um ihn zu stärken: „Ich werde mit dir sein, und du wirst Midian schlagen wie einen Mann“.
So groß diese Verheißung war, Gideon war nicht fähig, sie für sich in Anspruch zu nehmen; so wunderbar sie seinen Umständen entgegenkam, er vermochte nicht, sie anzunehmen, bis zu dem Augenblick, da er in seiner Seele die Verbindung zwischen sich und Gott erfährt und seiner Annahme sicher ist. Dann ruft er: „Wenn ich denn Gnade in deinen Augen gefunden habe, so gib mir ein Zeichen, daß du es bist, der mit mir redet“. Dann bringt er sein Opfer, das er nach den Anweisungen des Engels darbringt (V. 18–22); Jehova nimmt das Opfer an, läßt es verbrennen und entschwindet den Augen Gideons, als Er ihm den unzweifelhaften Beweis nicht nur Seiner Gegenwart und Macht, sondern der Annahme Gideons gegeben hat. Gideon hatte ein Zeichen erbeten, damit seine Seele in dem großen, ihm aufgetragenen Dienst auf die verheißene Hilfe Gottes vertrauen könne. Denn als gefallener, von Gott entfremdeter Mensch sah er keinen Grund für die Abhängigkeit, und die Annahme seines Opfers ist beinahe zu viel für ihn. Die Offenbarung Jehovas überzeugt Gideon von Seiner Nähe, die natürlicherweise für ihn den Tod bedeutet, was er auch erkennt, denn er ruft aus: „Ach, Herr Jehova!
Dieweil ich den Engel Jehovas gesehen habe von Angesicht zu Angesicht! Aber das Wort Jehovas beruhigt seine Seele. „Friede dir! fürchte dich nicht, du wirst nicht sterben“. Daraufhin baut Gideon einen Altar, der die Beziehung zeigt, in der er nun zu Gott steht, und der der feste Grund seiner Seele ist, ehe er seinen Dienst beginnt. Der Altar, die Grundlage seines Nahens, heißt: Jehova–Schalom (Jehova ist Friede).
Auf diese Weise wird Gideon für das Werk, zu dem er berufen ist, vorbereitet, und es ist für jeden Diener nützlich, inwieweit er in gleicher Weise für den Dienst zubereitet worden ist. Ich habe diese Vorbereitungen so eingehend behandelt, weil ich erst dann meine eigenen Interessen von der Vermischung mit den Interessen des Dienstes, zu dem ich berufen bin, fernhalten kann, wenn ich meiner Annehmung bei Gott und meiner Ruhe in Ihm sicher bin.
Viele versuchen, dem Herrn zu dienen und hoffen, dadurch Ruhe und Frieden für ihre Seelen zu erlangen. Sie hören nicht auf mit dem Dienst und bewerten ihn danach, ob er ihnen die ersehnte Erleichterung bringt. Zwar muß jede Seele, die für Gott wirkt, in dem Wissen um Seine Gnade gegründet sein, aber wenn dies zum Gegenstand gemacht wird, wird der Dienst von seinem wahren Zweck entfremdet, und seine eigentliche Triebkraft geht verloren. Nur eine in Gott glückliche Seele kann wahren Dienst ausüben, denn sie ist glücklich, Sein Mitarbeiter zu sein. Der Dienst darf nicht durch seine Wirkungen auf mich beeinflußt werden, er muß ausschließlich im Blick auf den Willen Gottes getan werden. Wiederum versuchen andere zu dienen, ohne dazu befähigt zu sein; sie sind bei öffentlichem Auftreten beständig mit sich selbst beschäftigt. Entweder wissen sie nicht, wo sie Ruhe und Frieden finden können, oder, wenn sie beides gefunden haben, wandeln sie nicht in der Kraft, die der Glaube mit sich bringt.
Nachdem Gideon bei Jehova–Schalom angebetet hat (der Name des Altars verrät die Art der Anbetung), wird ihm noch „in selbiger Nacht“ die Art seines Dienstes mitgeteilt. Wenn wir bereit sind, den Segen zu empfangen, wird er nicht aufgeschoben. Die Nacht ist nicht die Zeit des Handelns, und der Mensch würde vielleicht sagen: „Morgen will ich gehen', aber von Gott empfangen wir in dem Augenblick, wo wir dazu bereit sind. Sobald Isaak Beerseba, den wahren Ort der Absonderung, erreicht hatte, erschien Jehova ihm „in selbiger Nacht“; als Jakob Paddan–Aram verließ, „begegneten ihm Engel Gottes“. Sobald wir in Übereinstimmung mit Gott wandeln, befinden wir uns im Lichte und in der Kraft Gottes. „In selbiger Nacht“ erhält Gideon den Auftrag, von der Gnade, die ihm zuteil geworden ist, zu zeugen, und zwar auf folgende Weise: „Nimm den Farren deines Vaters, und zwar den zweiten Farren von 7 Jahren; und reiße nieder den Altar des Baal, der deinem Vater gehört, – und die Aschera, die bei demselben ist, haue um“. Der erste Kreis, in dem der treue Diener beweist, wie ernst es ihm in der Seele mit seinem Dienst ist, ist das Haus seines Vaters; und die Macht und Entschiedenheit, mit der das geschieht, umreißt schon andeutend die zukünftige Laufbahn und die Fähigkeit Gideons. Der Herr Jesus begann Seinen göttlichen Weg in „Nazareth, wo er erzogen war“. So muß Gideon hier in kühner und entschlossener Weise seinem Vaterhause, und durch es der ganzen Stadt, das Licht verkündigen, das in seiner Seele aufgegangen war, und das ihm zugleich den Auftrag und die Kraft gab, Zeugnis abzulegen. Der Götzendienst im Hause seines Vaters mußte völlig abgeschafft werden.
Gideon gehorcht, aber er tut es bei Nacht, weil er sich fürchtete, es bei Tage zu tun. Das ist eine Einmischung des Fleisches. Sein Glaube war noch nicht stark genug, ihm die Kraft zu geben, kühn in der Öffentlichkeit zu zeugen; aber wozu ihn sein Glaube befähigte, das tat er.
Auch wo das Wort Gottes angenommen und ihm Glauben geleistet wird, auch dort ist das Zeugnis oft nur schwach. Mancher treue Christ ist nicht im rechten Zustand, so ein Zeugnis zu sein, wie er sein könnte. Es ist besser, wenn Gehorsam und Zeugnis zusammengehen; aber auch, wenn das Fleisch das Zeugnis schwächt, kann es doch den Gehorsam nicht verhindern, vorausgesetzt, daß Glaube vorhanden ist. Paulus war sowohl Diener als auch Zeuge. Es ist das höchste Vorrecht eines Dieners, nicht nur zu gehorchen und darzureichen, sondern von seiner Übereinstimmung mit dem Dienst zeugen zu können. Wenn das Fleisch wirksam ist – wenn wir unserer alten Natur Raum geben, wird unser Zeugnis gefährdet, wir verlieren unsere Ruhe und die Kontrolle über uns selbst, die für einen Zeugen notwendig sind. Aber der Glaube besteht auf Gehorsam, wenn auch „bei Nacht“. Unser Herz und Sinn muß in Frieden bewahrt bleiben, sonst können wir selbst Taten des Glaubens nicht ohne Verlust hinsichtlich des Zeugnisses vollbringen. Die Gefühle des Fleisches sind keine Entschuldigung, wenn wir das, wozu uns der Glaube befähigt, nicht tun. Es kann geschehen, daß wir ihretwegen einen höheren Platz des Zeugnisses verlieren, aber nichts darf den Gehorsam gegenüber dem Worte Gottes hemmen. Wenn wir treu sind, werden unsere Taten für sich sprechen und daraus folgt das Zeugnis, wenn es sie auch nicht begleitet. So war es bei Gideon. Schon zu Beginn erfährt er die Feindschaft seines Volkes gegen Treue zur Wahrheit. Aber wie wenig weiß die Welt, daß all ihr böser Widerstand immer eine Kraft hervorruft, die mehr als ausreicht, nur ihn zu überwinden! Dem Geschrei der Leute um Herausgabe und Tötung Gideons stellt Joas seinen Vorschlag entgegen, Baal für sich selbst rechten zu lassen, wenn er ein Gott ist, und Gideon wird nach dieser Herausforderung Jerub–Baal genannt.
Mit welcher Gnade und Weisheit bereitete Jehova Seinen Diener auf das Werk vor, das Er nach Seinem Ratschlag ihm anvertrauen wollte! Mit uns sind Seine Wege sehr ähnlich. Seine Absicht ist, der Seele zu versichern, daß wir, so gewiß wie Christus über alle Macht des Bösen triumphiert hat, wissen dürfen, daß jedes Auftreten und jede Offenbarung des Bösen für uns eigentlich nur ein Beweis dessen ist, daß uns eine Kraft zur Verfügung steht, die ihm mehr als überlegen ist. Und mehr noch: je größer der Widerstand des Bösen ist, desto deutlicher und offenbarer wird die Macht sein, die ihn überwindet und zum Schweigen bringt. Es sollte uns in allen Umständen des Lebens ein Trost sein, daß „wenn der Feind herankommt wie Wasserfluten, erhebt der Geist Jehovas das Panier wider ihn“. Das ist für den treuen Diener in schweren Zeiten eine sehr wichtige Wahrheit; sie wird deshalb durch die göttliche Macht in das Herz Gideons gelegt, und sie wird jetzt kundgetan vor den Midianitern und allen Söhnen des Ostens, die im Tale Jisreel lagern. „Und der Geist Jehovas kam über Gideon; und er stieß in die Posaune, und die Abieseriter wurden zusammengerufen, ihm nach“. Zwei große Erfahrungen hatte seine Seele schon gemacht, durch die er für dieses Werk geeignet wurde. Die eine war, daß seine Seele in ihrer Beziehung zu Gott am Altar Jehova–Schalom befestigt wurde; die andere war seine Treue hinsichtlich der Wahrheit Gottes in der völligen Abschaffung des Götzendienstes. So vorbereitet, beginnt er seinen öffentlichen Dienst. Aber obschon er durch die göttliche Kraft die Männer von Abieser, Aser, Sebulon und Naphtali um sich versammelt hat und sich anschickt, angesichts des Feindes zu handeln, muß er hier wiederum erfahren, daß er nicht fortschreiten kann, wenn er nicht der Unterstützung Gottes sicher ist.
Wie schwankend und demütigend ist das verborgene Verhalten der Seele, das uns bei diesem treuen Knecht so eingehend geschildert wird. Äußerlich erkennt man bei ihm nichts als Kühnheit und Kraft. Es ist gut für uns, daß wir es mit einem Gott zu tun haben, der unserer Schwachheit ebenso gnädig und verständnisvoll gegenübersteht wie der Schwachheit Gideons. Durch besondere Zeichen und Mitteilungen überzeugt der gnädige Herr die Seele seines Dieners von der Wahrheit der Verheißungen, in denen er sogleich hätte ruhen sollen. Es ist ein Unterschied, ob wir ein Zeichen suchen, damit unser Glaube an Gott gestärkt wird, oder ob wir es fordern, um zu erkennen, ob der Pfad, auf dem wir wandeln, der richtige ist und ob Gott uns dabei beisteht. Das erstere kann der Herr nicht gewähren oder zulassen. „Kein Zeichen wird ihm gegeben werden“, sagt er dem Volk der Juden, als sie ein Zeichen sehen wollten als Grundlage ihres Glaubens. Der göttliche Pfad muß im Glauben betreten werden, ohne Zeichen; aber der Herr gewährt der Seele fortwährend Zeichen, um sie, die schon auf dem rechten Pfade ist, zu befestigen und ihr zu versichern, daß sie darauf Erfolg haben wird. Die Seele, die wahrhaft abhängig von Gott ist, und ein besonderes Werk beginnt, will sich nicht der eigenen Fähigkeiten bewußt sein, sondern deren Gottes, und zwar im abstrakten, wenn ich so sagen darf, d.h., daß sie es mit Dem zu tun hat, Dessen Macht – und die Fähigkeit, sie anzuwenden – allen Forderungen gewachsen ist. Diese Erziehung befestigt die Seele und bringt sie auf den ihr vorgezeichneten Weg. In ähnlicher Weise wird sie jedem Diener zuteil; er wird entsprechend den Bedürfnissen nach der Macht Gottes mit dieser bekanntgemacht. Schwache Punkte in unserem Glauben werden um so eher sichtbar, je mehr der Glaube beansprucht wird. Viele versagen auf dem Wege, weil sie die Größe und stete Bereitschaft der Macht Gottes nicht erfahren haben.
Gideon entdeckt, was wir alle entdecken werden: daß Gott in Seiner Gnade ihn in diesem Punkte entgegenkommt, was er auch wünscht, um ganz sicher zu gehen. Ob es nun Tau auf dem Vließe allein und Trockenheit auf dem ganzen Boden ist, oder umgekehrt, Gott gewährt es, um Gideon zu befestigen. Nun ist er bereit, und er „und alles Volk, das mit ihm war, machten sich früh auf, und sie lagerten sich an der Quelle Harod“. Hier tritt Jehova dazwischen, um das Werk als Seines zu erklären. Israel soll keinen Anlaß haben, sich gegen Gott zu rühmen und zu sagen: „Meine Hand hat mich gerettet“! Deshalb muß Gideon vor den Ohren des Volkes ausrufen: „Wer furchtsam und verzagt ist, kehre um und wende sich zurück vom Gebirge Gilead!“ Es ist wohl eine Glaubensprobe für Gideon gewesen, als er sah, daß 22000 vom Volk umkehrten; aber von solchen Prüfungen wird der Glaube immer begleitet sein. Wenn Gideon glaubt, darf er nicht beunruhigt werden, wenn er sieht, wie die Mittel, mit denen er sein Ziel zu erreichen hoffte, fast ganz zusammenschmelzen. Aber er ist jetzt erstarkt in Gott und wird durch das gnädige Handeln Gottes nicht entmutigt; es ist ja auch nicht nötig, denn für einen Glaubensmann ist es besser, von einigen wenigen Treuen begleitet zu sein, als von einer Menge von Schwachen und Wankelmütigen. Aber obwohl weniger als ein Drittel der ursprünglichen Anzahl übrigbleibt, sagt Jehova: „Noch ist des Volkes zu viel“, und Er befiehlt, die ganze übriggebliebene Schar einer Prüfung zu unterziehen, damit sich herausstelle, wer wirklich für Krieg und Zeugnis geeignet sei. Die Probe ist für das menschliche Auge eine einfache und unwichtige, aber in ihrer geistlichen Anwendung eine grundsätzliche. Sie offenbarte, ob die Männer nur das eine Ziel vor Augen hatten, oder ob sie sich für einen Augenblick davon ablenken ließen, um sich einer fleischlichen Erquickung hinzugeben.
Das will die Prüfung durch das Wasser besagen. 9700 waren nicht von ganzem Herzen bereit, denn sie ließen sich auf ihre Kniee nieder, um zu trinken. Sie waren wohl bereit zum Kriege, aber dies Ziel beherrschte den Wunsch nach persönlichem Genuß nicht völlig. Nur 300 werden so zielbewußt erfunden, daß sie nur kosten und weitereilen. Ach, wenn wir einer solchen Probe unterzogen würden, wie wenige von uns würden dann zu der Schar Gideons zählen! Viele würden zu den 32000 gehören, die mit ihm auszogen, oder auch zu den 10000, die die erste Sichtung überstanden; aber wie wenige kennen die Verachtung des Fleisches, die sie befähigte, ohne Rücksicht auf persönlichen Genuß weiterzueilen und den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen! Es bestand nur ein kleiner Unterschied zwischen denen, die leckten und denen, die sich auf ihre Knie niederließen, um zu trinken, und gewiß war Wasser eine notwendige Erquickung für durstige Krieger. Aber die Art, wie die Männer es zu sich nahmen, offenbarte den Zustand ihrer Herzen. Die Belehrung für uns liegt darin, daß, wenn wir nicht den Herrn und Seine Verherrlichung zum alleinigen Gegenstand unseres Handelns haben, Er uns nicht als Befreier gebrauchen kann, wenn Er uns in Seiner Gnade auch an der Befreiung teilhaben läßt, die Er durch treuere Kämpfer zustandegebracht hat.
Sowohl für Gideon als auch für seine Gefolgsleute muß diese Auslese eine Glaubensprobe gewesen sein, denn durch das Sinken der Anzahl wurde er immer mehr zur Abhängigkeit von Gott getrieben, und viele wären durch eine so gründliche Prüfung beunruhigt worden; aber der Unbelehrte ist den Prüfungen des Kampfes nie gewachsen. „In selbiger Nacht“ (nun, da die Schar bereit ist, darf es keinen Aufschub mehr geben), da sprach Jehova zu ihm: „Mache dich auf, gehe in das Lager hinab; denn ich habe es in deine Hand gegeben“. Aber in besonderer Güte, und gewillt, jedem Schwanken in Gideons Glauben zu begegnen und ihn zu stärken, fügt Er hinzu: „Und wenn du dich fürchtest, hinabzugehen, so gehe mit Pura, deinem Knaben, zum Lager hinab; und du wirst hören, was sie reden; und danach werden deine Hände erstarken, und du wirst in das Lager hinabgehen“. Wie vielfältig sind die Wege des Herrn hinsichtlich Seiner Diener! Im Lager der Feinde wird durch die Auslegung eines Traumes der Sieg Gideons angekündigt, und er hört, wie sie schon ihre Niederlage vorausahnen. Dadurch wird Gideon sehr ermutigt; er betet an und kehrt in voller Siegesgewißheit zurück, ehe noch der Kampf begonnen hat. Bei den Einzelheiten dieses Kampfes – oder besser: dieses Sieges, denn es war mehr eine Verfolgung als ein Kampf – brauche ich nicht zu verweilen, es bleibt nur zu erwähnen, daß hier wahrhaft Kraft in Schwachheit vollbracht wurde. Fackeln in Krügen – Schätze in irdenen Gefäßen, und Posaunen, um zu verkünden, daß sie für Jehova stritten – waren die einzigen Waffen der kleinen Schar, bis bei den Feinden das Schwert des einen gegen den anderen gerichtet wurde.
Der Sieg Gideons war vollständig, und es wurde bestätigt, daß er ein Werkzeug in Gottes Hand war, durch das die Befreiung Seines Volkes bewirkt wurde. Aber welch eine Erziehung war nötig, bis es soweit war. Wie wenig wissen wir von der Feindschaft unserer Natur gegen den Willen Gottes, wenn wir glauben, den Dienst auf uns nehmen zu können ohne jene Selbstverleugnung, die nur durch die eigene Erfahrung und die Kenntnis der Erhabenheit der Wege und Ratschlüsse Gottes gelernt werden kann! Was wir schätzen, werden wir nicht eher aufgeben, als bis wir etwas Besseres gefunden haben; und der Mensch ist so erfüllt von sich selbst und seinem eigenen Willen, daß er, ehe er die Überlegenheit des Willens Gottes erkennt, weder ein gehorsamer noch ein geeigneter Diener sein kann, d. h., einer, der den Willen und die Absichten seines Herrn ausführt. Dies muß oft erst durch verschiedenartige, schmerzliche Wege erfahren werden. Jona lernte den Gehorsam im Bauch des Fisches, denn er lernte dort, allein auf Gott zu vertrauen, aber der Verlust des Wunderbaums unterwies ihn in dem Willen und der Natur Gottes. Ein von Gott belehrter Diener findet immer einen Weg, sein Werk zu tun, wie schwierig es auch scheinen mag. Je größer die Schwierigkeiten, desto deutlicher muß der Beweis sein, daß unsere Hilfsquellen von anderer Art sind als diejenigen, die gegen uns aufgeboten werden, und das erweist sich sowohl im Kleinen als auch im Großen als wahr.
Kaum ist Midian besiegt, da sieht Gideon sich vor eine andere Schwierigkeit gestellt: den Widerstand derer, die als seine Freunde gelten. Es erfordert mehr Weisheit, diese Art des Widerstandes zu überwinden, als den von anerkannten Feinden. Die Art und Weise, wie er sich gegen die beiden Gruppen seiner ihm widerstehenden Brüder verhält, ist für uns sehr lehrreich. Bei den Männern von Ephraim (Kap. 8), die ihn schelten, weil er sie nicht zum Streit aufgerufen hat, nimmt er den niedrigeren Platz ein, den der Gnade, der der wahre, weise und göttliche Standpunkt gegenüber denen ist, die besonders hervortreten wollen. Gideon hätte erwidern können, daß er und die 300 Männer besonders von Gott berufen und auserwählt waren; aber er tut es nicht und überläßt die Männer von Ephraim der Zufriedenheit mit dem Maße an Ehre, das Gott ihnen gegeben hat. Aber mit den Männern von Sukkoth und Pnuel, die sich weigerten, den ermatteten Verfolgern einige Laibe Brot zu geben, verfährt er anders. Hier ist Nachsicht nicht am Platze, denn ihr Betragen ist Widerstand gegen die Sache Gottes und Verrat an Seinem Namen und Seiner Herrlichkeit. Das Prinzip ist im Haushalt des Gesetzes das gleiche wie in dem der Gnade. Es gibt Fälle, denen wir in Gnade begegnen müssen, aber wir sind andererseits berufen, mit Ernst für den Glauben zu kämpfen. „Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln“! sagt der Apostel, und „wenn jemand diese Lehre nicht bringt, nehmet ihn nicht in euer Haus auf, grüßet ihn auch nicht“.
In Kap. 8,22 sehen wir Gideon wiederum, aber nun zum letzten Mal, unter einer neuen, besonderen Art der Erziehung. Großer Dienst erzeugt oft Selbstzufriedenheit und den Wunsch nach einer Erhöhung, die die Ungeistlichen uns nur zu gerne gewähren. Das Volk fordert Gideon auf, über sie zu herrschen, aber er antwortet: „Nicht ich will über euch herrschen, ... Jehova soll über euch herrschen“. Wie konnte er den Platz Gottes annehmen, Der ihn so gesegnet und geehrt hatte? Bis hier sprach er in der Weisheit des Geistes, aber seine Bitte um die Ohrringe ihrer Beute offenbart den geheimen Wunsch, an seine Dienste zu erinnern, obschon er den Platz der Würde und Macht nicht angenommen hatte. Solch ein Wunsch konnte indessen nur ein Fallstrick werden, sei es nun in Form eines Ephods oder etwas anderem. So ging es auch Gideon und seinem Hause (V. 27 b).
Welch eine warnende Lehre ist es für uns, zu sehen, wie ein Diener Gottes nach einer so langen Erziehung für das Werk Gottes in einem Augenblick sozusagen die Selbstbeherrschung verliert, und wie er, der durch den Dienst einen so hohen, hervorragenden Platz erlangt hat, vor unseren Augen hinabsinkt. Wir lernen daraus, daß, obschon wir einen Platz öffentlicher Ehrung zurückweisen, wir noch nicht gefeit sind gegen den feineren, aber gefährlichen Fallstrick der Annahme, daß das Andenken an unseren Dienst in irgendeiner Weise zur Ehre Gottes beitragen könnte; denn das hieße, den Dienst als Mittel zur Selbstverherrlichung benutzen, und das muß „uns und unserem Hause zum Fallstrick werden“.