Der Segen Jakobs
Naphtali
2.9. Naphtali, eine losgelassene Hirschkuh
„Naphtali ist eine losgelassene Hirschkuh; er, der schöne Worte gibt“ (1. Mo 49,21).
2.9.1. Das Lied der Befreiung
Naphtali ist hier in 1. Mose 49 der letzte in der Reihe der vier Söhne der Mägde, obwohl er in 1. Mose 30 als zweiter vor Gad und Aser erwähnt wird. Diese Abweichung von der Geburtsfolge lässt sich mit der Reihenfolge dieser Segnungen erklären; wir sehen nämlich, wie wir mit den Worten Jakobs über Naphtali einen glänzenden Höhepunkt erreichen nach dem Tiefpunkt, der uns in Dan vorgestellt wird, und dem Gebet um die Offenbarung der Rettung Gottes (V. 18). Während Gad und Aser den Sieg bzw. den Überfluss vorbilden, die aus dieser Rettung entsprießen, zeigt Naphtali uns die herrlichste Frucht, nämlich den Lobgesang der Freiheit.
Es ist auffallend, dass gerade der Sohn einer der Mägde den Gedanke der Freiheit wiedergibt: „Naphtali ist eine losgelassene Hirschkuh.“ Wir sehen hier einen deutlichen Gegensatz zu Issaschar, der nicht von einer der Mägde Jakobs geboren war, sich aber trotzdem zu einem fronpflichtigen Knecht machen ließ (V. 15). Issaschar war ein Arbeitsesel, doch Naphtali eine losgelassene Hirschkuh. Dies redet von größtmöglicher Bewegungsfreiheit. Eine losgelassene Hirschkuh wird in ihrem schnellen Lauf durch nichts gehindert und fühlt sich völlig frei. Die Bedeutung des Namens Naphtali (d.h. mein Kampf oder Kämpfe Gottes, vgl. 1. Mo 30,8) legt nahe, dass Kampf nötig war, um zu dieser Freiheit gelangen zu können.
Im Blick auf die historische Erfüllung dieses Verses weisen mehrere Ausleger auf die Kampfbereitschaft und Streitbarkeit der Männer Naphtalis im Kampf mit Jabin und Sisera hin (Ri 4). Der Richter Barak kam aus Naphtali, und unter seiner Führung entwanden sich die nördlichen Stämme dem Joch Jabins, dem König von Kanaan. Wie schnelle Hirschkühe folgten sie Barak im Kampf und liefen der Freiheit entgegen. Die Dankbarkeit für die erworbene Erlösung kommt im darauffolgenden Lied Deboras zum Ausdruck (Ri 5), das man mit den „schönen Worten“ aus der zweiten Zeile des Segenspruches Jakobs in Verbindung bringen kann.
Tatsächlich wird dann das Bild der Hirschkuh oder Gazelle mit dem des Sängers ausgetauscht, doch der Zusammenhang ist deutlich. Die erworbene Freiheit führt zu „Worten des Lobes und der Danksagung“, wie es im Targum (alte aramäische Übersetzung) heißt. Es ist also nicht nötig, anstelle von „schöne Worte“ „schöne Lämmer“ zu lesen, wie einige es tun („(...) er bringt schöne Lämmer hervor“), um den Zusammenhang zu wahren. Andere gehen sogar so weit, dass sie das Bild der Hirschkuh aufgeben und an eine Terebinthe denken, die schöne Zweige hervortreibt. Diese Änderungen des hebräischen Textes sind jedoch unsicher.
Das Bild einer Hirschkuh oder einer Gazelle wird auch woanders gebraucht, um die Schnelligkeit und Geschmeidigkeit von Kämpfern anzudeuten (2. Sam 2,18; 1. Chr 12,8). David sagt einmal: „Er macht meine Füße denen der Hirschkühe gleich und stellt mich hin auf meine Höhen“ (2. Sam 22,34; vgl. Ps 18,33). Der Prophet Habakuk macht denselben Vergleich (Hab 3,19). Ebenso wie die Hirschkuh ihre Höhen betritt, so hat Naphtali das Hochland betreten, das ihm im Norden Kanaans zum Erbteil geschenkt war (Ri 5,18).
Sehr bedeutsam ist auch der Ausdruck „Hirschkuh der Morgenröte“ in Psalm 22,1, der auf den neuen Tag anspielt, der anbrechen würde, nachdem Christus seinen Kampf am Kreuz von Golgatha völlig allein gestritten hatte. Luther bringt die Überschrift dieses Psalms mit der Tatsache in Verbindung, dass Christus nachts gefangen genommen wurde und frühmorgens vor dem Synedrium stand. Er übersetzt: „Die Hirschkuh, die früh gejagt wird.“ Der Targum verbindet diese Überschrift mit dem Morgenopfer - ebenfalls ein sehr schönes Bild vom Opfer Christi -, das geopfert wurde, sobald der Wächter den Tagesanbruch ankündigte. Nach der jüdischen Tradition hatte das erste Morgenlicht die Form von Hörnern einer Hirschkuh: „zwei Hörner des Lichts, die im Osten aufgehen und die Welt mit Licht erfüllen“ (F. Delitzsch).
2.9.2. Die wahre Freiheit
Dies ist wichtig für unser Thema, weil wahre Freiheit und Erlösung - sowohl für Israel als auch für die Nationen - nur auf das vollbrachte Werk Christi gegründet sein können. Im ersten Teil von Psalm 22 finden wir seinen Kampf und schließlich seine „Loslassung“ (V. 1-22), und als Folge davon im zweiten Teil die „schönen Worte“ die Er gibt (V. 22-31). Der Tod konnte Ihn nicht festhalten, und auf die Leidensnacht folgte der Morgen der Erlösung. In der Auferstehung hat Christus die Antwort auf seine Leiden empfangen (V. 22b), und deshalb kann Er nun den Lobgesang inmitten seiner Brüder anstimmen, denen Er den Namen des Vaters offenbart hat (V. 22; Heb 2,12). Das ist das heutige Ergebnis für die Versammlung Gottes, aber bald wird Er das Lob Gottes auch in der großen Versammlung des wiederhergestellten und gesammelten Israel besingen (V. 24-27). Schließlich wird dieses Lob im Friedensreich bis zu den Enden der Erde erklingen (V. 28.29), denn alle Völker werden sich vor dem Friedefürsten beugen. So strömt der Segen von Golgatha aus über die ganze Erde, und das bis in die ferne Zukunft.
Damit wird zugleich auch die geistliche und prophetische Bedeutung des Spruches über Naphtali angezeigt. Auf dem Kreuz sind Licht und Finsternis einander begegnet und wurde eine gerechte Grundlage für die Offenbarung der Rettung und des Segens gelegt, die die Erde seitdem erfüllt haben und noch erfüllen werden, wenn bald der Morgen des Friedensreiches anbricht. Das Leben im Licht, die Freiheit der Sohnschaft nach der Knechtschaft unter dem Gesetz der Sünde und des Todes, der Jubelgesang der Erlösung, die uns zur Anbetung des Vaters bringt: All das ist auf das vollbrachte Werk Christi und seine Erlösung aus den Fesseln des Todes gegründet. Weil wir mit Ihm verbunden sind, dürfen wir auch als „Losgelassene“ in der Freiheit der Auferstehung wandeln und die „schönen Worte“ des Liedes der Erlösung auf die Lippen nehmen. Alle diese Vorrechte, die auf die Auferstehung Christi gegründet sind, finden wir in Römer 8. Die Anbetung des Vaters in der Kraft des Heiligen Geistes ist deren Höhepunkt (V. 15.16).
Hinsichtlich der prophetischen Geschichte der Kirche, wie wir sie in 1. Mose 49 im Vogelflug abgebildet finden, sehen wir hier bei Naphtali somit eine Wiederherstellung des Lobgesanges, die bereits bei Juda zur Sprache kam (siehe unter 2.3.). Wenn sich die Kirche mit der Welt vermischt (Sebulon) und durch weltliche Grundsätze beherrscht wird (Issaschar), verschwindet in ihrer Mitte das Loblied, das zur Ehre des Vaters und des Sohnes erklingen sollte. Unter dem treuen Überrest, der inmitten des allgemeinen Verfalls auf die Offenbarung der Rettung des Herrn wartet, wird dieses Vorrecht jedoch wieder genossen. Sie besiegen nicht nur die Feinde, die sie bedrängen (Gad), und ernähren sich nicht nur von fetten Speisen (Aser), sondern die Freiheit, wozu sie gelangt sind, macht sie zu wahren Anbetern. Das ist die geistliche Anwendung des Spruches über Naphtali: Die „Losgelassen“ des Herrn singen das himmlische Lied zur Ehre dessen, der sie erkauft hat und der würdig ist, in alle Ewigkeit geehrt und gepriesen zu werden (vgl. Off 5).
Die prophetische Bedeutung für Israel verläuft dazu parallel. Israel wird hier auf der Erde im Friedensreich das neue Lied singen, wenn nach all den Kriegen der Endzeit eine Sabbatruhe für das Volk Gottes und für die ganze Schöpfung anbrechen wird (vgl. Ps 92; 96; 98). Dann wird ein Jahr der Freiheit, nämlich das große Jubeljahr, worin Zion getröstet und mit Freudenöl gesalbt werden wird, für das Land und das Volk ausgerufen werden (3. Mo 25; Jes 35,10; 51,11; 61,1-3). Das Danklied für die Befreiung wird erklingen (Jes 25; 26). Die „schönen Worte“ der Erlösten des HERRN werden gehört werden. Und für ganz Israel wird gelten, was im Segen Moses über Naphtali gesagt wird: „Naphtali, gesättigt mit Huld und voller Segen des HERRN“ (5. Mo 33,23).