Der Segen Jakobs

Einleitung

1.1 Jakob als Prophet

1. Mose 49 ist das Testament des Erzvaters Jakob, das nicht nur für seine direkten Nachkommen, sondern auch für seine entferntere Nachkommenschaft von großer Bedeutung war und ist. Der sterbende Jakob richtet sich über die Köpfe seiner zwölf Söhne an die Stämme, die aus ihnen hervorkommen würden, und er spricht über ihr Wohl und Wehe.

Jakob, der Betrüger, von dem wir aus den früheren Berichten in 1. Mose so viele weniger schöne Dinge kennen, wird am Ende seines Lebens zu großen geistlichen Höhen geführt. Der ehrwürdige Patriarch wurde durch den Geist Gottes mit prophetischen Gaben versehen, sodass er in die ferne Zukunft sah. Seine Worte beziehen sich auf das, was Israel „in künftigen Tagen“ begegnen wird (V. 1); so erwähnt er besondere Einzelheiten, die erst in der Richterzeit oder noch später in Erfüllung gegangen sind oder sogar noch gehen müssen.

1.2. Widerlegung der Bibelkritik

Für die historisch-kritische Methode ist dies mit ein Anlass gewesen, diese Sprüche einer viel späteren Entstehung zuzuordnen und sie als eine Sammlung sogenannter „Stammessprüche“ zu betrachten, ähnlich den letzten Worten Moses oder dem Lied Deboras (5. Mo 33 und Ri 5). Sie werden damit zu herkömmlichen Aussagen degradiert, zu Sprüchen, die auf Volksversammlungen zitiert worden seien, um die Israeliten zu lehren. Es ist deutlich, dass eine derartige Betrachtungsweise der Inspiration der Schrift Abbruch tut. Außerdem werden die Erzväter dadurch zu einfachen Nomaden herabgewürdigt, von denen man solch eine literarische Leistung - 1. Mose 49 hat die Form eines Gedichts - nicht erwarten könne.

Es gibt jedoch keine begründeten Hinweise dafür, diese Segensprüche jemand anderem als Jakob zuzuschreiben. 1. Mose 49 schließt sich eng an das vorhergehende Kapitel an, wo Jakob die Söhne Josephs segnet. Wir können ebenfalls davon ausgehen, dass Jakob eine bereits bestehende Tradition fortsetzt, wenn er seine Söhne segnet. Als Isaak alt geworden war, hat er Jakob und Esau gesegnet, und diese Segnungen waren ebenfalls von weitreichender Bedeutung (1. Mo 27). Dasselbe gilt für die prophetischen Worte Noahs, an seine Söhne gerichtet (1. Mo 9).

Diese Beispiele sind übrigens auch wichtig, um noch ein anderes Argument zu widerlegen, das man angeführt hat, um Jakob diese Worte abzusprechen. Es sind nämlich nicht nur Segnungen, die Jakob über seine Söhne ausgesprochen hat, obwohl doch in Vers 28 steht, dass er jeden von ihnen mit seinem eigenen Segen segnete. So sagt man, dass Ruben, Simeon und Levi überhaupt keinen Segen von ihrem Vater empfangen hätten, denn ihr Segen trägt vielmehr den Charakter eines Fluches. Dieser Einwand wird jedoch entkräftet, wenn man bedenkt, dass dies auch beim Segen lsaaks für Esau der Fall ist. Das gilt ebenfalls für die Worte, die Noah an Kanaan richtete. Zudem vermag Gott den Fluch in einen Segen umzuwandeln, wie wir später in der Geschichte Levis sehen (vgl. den Segen Moses in 5. Mo 33). Und wenn jemand auf seine Fehler hingewiesen wird, wie das bei den ersten beiden Segensprüchen der Fall ist, kann das auch eine segensreiche Auswirkung haben. Es gibt daher allen Grund, diese Sprüche doch als Segensprüche zu betrachten.

1.3. Prophetische Segnungen

Die Segnungen Jakobs für seine Söhne sind ausdrücklich prophetische Segnungen. Er schaut hin über die lange Zeitspanne, wo Israel sich in Sklaverei in Ägypten befinden würde, über die Wüstenreise bis ins verheißene Land und den Einzug in Kanaan. Seine Worte reichen auch weit über die Richterzeit oder die Zeit der Könige hinaus: Sie reichen bis in die ferne Zukunft. Wörtlich steht in Vers 1 nicht „in künftigen Tagen“, sondern „am Ende der Tage“ (siehe Fußnote in der Elberfelder Bibel). Dieser Ausdruck kommt im Alten Testament insgesamt vierzehnmal vor (u.a. in 4. Mo 24,14; Jes 2,2; Dan 2,28; Hos 3,5). Er bezieht sich letzten Endes auf die Regierung Christi, auf die Zeit, in der alle Verheißungen Gottes an Israel in Erfüllung gehen werden. Allein schon deshalb ist es durchaus der Mühe wert, sich in diese Prophezeiungen des Erzvaters Jakob zu vertiefen.

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