Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Kapitel 9

Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Kapitel 9 enthält ein Gesicht, welches das Volk und die heilige Stadt betrifft, und das infolge des Bekenntnisses und der Fürbitte Daniels gegeben wurde. Wie schon bemerkt, nimmt es auf die Unterdrückung seitens der westlichen Macht bezug und knüpft in seinen Einzelheiten tatsächlich an diese Unterdrückung an. Der Prophet hatte erkannt (und zwar nicht durch eine unmittelbare Offenbarung, sondern indem er in der Weissagung Jeremias forschte, also die ordnungsgemäßen Mittel gebrauchte, welche dem geistlichen Menschen zu Gebote stehen), dass die Gefangenschaft, deren Dauer Jeremia angekündigt hatte, sich ihrem Ende näherte. Die Wirkung, welche dies auf das Gemüt Daniels hervorbrachte, äußerte sich (ein echtes Zeichen eines Propheten Gottes) in einer inbrünstigen Fürbitte für das verwüstete Heiligtum und die Stadt, welche Jehova liebte. Er schüttet sein Herz im Bekenntnis vor Gott aus, indem er die Sünde des Volkes und seiner Könige, ihre Herzenshärtigkeit sowie die Gerechtigkeit Gottes darin, dass Er Unglück über sie kommen ließ, anerkennt. Er beruft sich auf die Erbarmungen Gottes und fleht um Gnade um Jehovas Selbst willen. Die Prophezeiung ist die Antwort Gottes auf sein Gebet. Siebzig Wochen sind über das Volk Daniels und über die heilige Stadt bestimmt. Jehova erkennt sie noch nicht ausdrücklich als Sein eigen an; aber, wie früher die Fürbitte Moses, so nimmt Er jetzt diejenige des Propheten an, indem Er zu ihm sagt: „Dein Volk und deine Stadt“. Daniel nimmt somit die Stelle eines Mittlers ein. Er besitzt die Gedanken Gottes, Seine Worte, und er kann daher Fürbitte einlegen (betreffs dieses höchst beachtenswerten Gegenstandes vgl. 1. Mo 20, 7; Jer 27, 18; Joh 15, 7).

Am Ende dieser siebenzig Wochen, die aus den Zeitaltern abgesondert werden, soll die von Gott festgesetzte Zeit kommen, um den Abfall zum Abschluss zu bringen, um die Sünde zu versiegeln, das heißt, um mit ihr ein Ende zu machen und sie abzuschaffen, um die Ungerechtigkeit zu vergeben und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen, um (jedes) Gesicht und (jede) Weissagung zu versiegeln und ein Allerheiligstes zu salben. Man beachte, dass dies mit Bezug auf das Volk Israel und die Stadt gesagt wird. Es ist die vollständige Wiederherstellung des Volkes und der Stadt in Gnade.

Dieser Zeitraum von siebenzig Wochen teilt sich in drei Teile: in sieben, zweiundsechzig und eine Woche. Während des ersten Teiles, oder der sieben Wochen, würde die verwüstete Stadt mit ihren umgestürzten Mauern in unruhigen Zeiten (oder „in Drangsal der Zeiten“) wieder aufgebaut werden. Nach weiteren zweiundsechzig, also am Ganzen nach neunundsechzig Wochen, würde der Messias weggetan werden und nichts haben. Er, dem das Königreich und die Herrlichkeit gehörte, sollte, anstatt sie zu empfangen, weggetan werden und nichts haben. Nach diesem Ereignis würden die Stadt und das wiedererbaute Heiligtum zerstört werden, und das Ende würde einer verwüstenden Flut gleich sein und bis ans Ende eine bestimmte Verordnung oder Festbeschlossenes von Verwüstungen. Damit ist die vollständige Geschichte der Verwüstungen in allgemeinen Zügen gezeichnet. Neunundsechzig Wochen sind zu Ende gegangen – nach denselben wird der Messias weggetan, ohne dass jedoch der genaue Zeitpunkt, wann dies geschieht, angegeben würde. Der Lauf der siebenzig Wochen wird somit gänzlich unterbrochen. Als der Messias weggetan wurde, war der Zeitpunkt für die Wiederherstellung des Volkes und der Stadt noch nicht gekommen. Die Folge jenes Ereignisses wird deutlich angekündigt: ein Zeitraum der Verwüstung, der bis zum Ende fortdauert; wie lang er ist, wird nicht angegeben. In Kapitel 11 werden wir finden, wie ein dem vorliegenden entsprechender Zeitraum in gleicher Weise behandelt wird. Das Volk eines Fürsten, der noch kommen sollte, würde die Stadt zerstören.

Darauf behandelt der Geist Gottes die siebenzigste Woche, die noch nicht eingehend geschildert worden ist. Der kommende Fürst schließt mit den Vielen, das ist mit der Masse des jüdischen Volkes 1, einen festen Bund. Das ist das erste, was die Woche kennzeichnet: die Juden gehen mit dem derzeitigen Haupte des Volkes, welches einst ihrer Stadt und ihrem Heiligtum den Untergang bereitet hatte, ein Bündnis ein. Sie schließen einen Bund mit dem Haupte des römischen Reiches, und zwar bezieht sich dies auf die ganze Woche. Nachdem aber die Hälfte der Woche verflossen ist 2, nehmen die Dinge eine andere Gestalt an. Dieses Haupt lässt Schlachtopfer und Speisopfer aufhören, und wegen des Schutzes 3 der Götzen kommt ein Verwüster, und bis zur festbeschlossenen Vernichtung 4 wird (Gericht) über das Verwüstete 5 ausgegossen werden.

Was hier also angekündigt wird, ist, dass siebenzig Wochen für die Geschichte der Stadt und des Volkes Daniels abgesondert sind. Während dieser siebenzig Wochen steht Gott in Beziehung zu Israel 6; indessen nicht unmittelbar, sondern vermittels des Glaubens eines Ihm vertrauenden Überrestes, eines Daniel, sowie einer Fürbitte, die an das Bestehen eines Überrestes anknüpft und somit als verbindendes Glied zwischen Gott und dem Volke dient – einer Fürbitte, ohne welche das Volk hätte verworfen werden müssen. Es ist derselbe Grundsatz, auf dem einst vermittels der Fürbitte Moses die Beziehungen zwischen Gott und dem Volke erhalten geblieben waren, als dieses das goldene Kalb gemacht hatte; damals wurde Israel das Volk Moses genannt, jetzt das Volk Daniels. Dieses Verhältnis ist deshalb besonders merkwürdig, weil es stattfindet, nachdem die Gewalt in die Hände der Nationen gelegt worden ist. Die Juden sind zwar in Jerusalem, doch dauert, trotzdem das babylonische Reich untergegangen ist, die Herrschaft der Nationen fort. In dieser außerordentlichen Lage verlangt der Glaube, der sich auf die Prophezeiung stützt, nach der vollständigen Wiederherstellung der Stadt, des Sitzes der Regierung Gottes und Seines Volkes. Auf dieses Verlangen bezieht sich die Antwort Gottes. In derselben wird, wenn auch nur kurz, so doch vollständig die Geschichte des Zeitraums geschildert, der bis zur völligen Beendigung des für die Juden bestimmten Gerichts vergehen sollte.

Zugleich geschieht einer bis dahin nicht berührten, aber sehr bedeutungsvollen Sache Erwähnung: der Messias sollte weggetan werden. Von dem, was Ihm rechtmäßig gehörte, würde Er nichts haben. Die Folge hiervon würden die Zerstörung der Stadt und des Heiligtums, Verwüstung und Krieg sein. Der Fürst eines anderen, noch nicht bestehenden Reiches würde in dieser Weise die Stadt und das Heiligtum zerstören. Die Beziehungen zwischen Gott und dem Volke, sogar hinsichtlich eines treuen Überrestes, wurden daraufhin für eine Zeit völlig abgebrochen. Der Glaube Daniels wurde von Israel in der Person Christi, des ihm von Gott erweckten Propheten, verworfen; es sagte sich völlig von Christo los, indem es erklärte, dass es keinen König haben wolle, als nur den Kaiser. Volk und Stadt wurden daher der Verwüstung preisgegeben.

Indessen war diesem ungläubigen und verkehrten Geschlecht noch eine Woche bestimmt, ehe seine Ungerechtigkeit vergeben und eine ewige Gerechtigkeit eingeführt und Gesicht und Prophezeiung durch ihre Erfüllung zum Abschluss gebracht werden sollten. Diese Woche soll sich durch einen Bund auszeichnen, den der Fürst oder Führer mit dem jüdischen Volke (mit Ausnahme des Überrestes) eingehen wird, sowie durch die zwangsweise Aufhebung seines Gottesdienstes durch diesen Fürsten. Nachdem sich darauf die Juden unter den Schutz von Götzen gestellt haben und somit dieser unreine Geist des Götzendienstes, der vor langer Zeit von dem Volke ausgetrieben worden war, wieder mit sieben anderen Geistern, böser als er selbst, bei ihm eingezogen ist, kommt der Verwüster, und es werden die letzten Strafgerichte über das Volk verhängt. Es sind furchtbare Gerichte, doch ist ihnen von Gott eine bestimmte Grenze gesteckt; wenn das Maß voll sein wird, ist ihr Ende erreicht. Wir sehen also, wie der Bitte des Propheten eine ganz genaue Antwort zuteil wird, in der sehr deutlich die Folgen der Verbindung des Volkes Daniels mit der Macht der Nationen dargestellt werden. Die Stellung, welche es einnimmt, solange die Beziehung zu Gott noch durch die Fürbitte des Propheten aufrechterhalten bleibt, wird uns klar vor Augen geführt.

Gleichzeitig kündigt die Prophezeiung die allgemeine Tatsache an, dass nach Verlauf der neunundsechzigsten Woche und, nachdem die Gunst des Tieres ihnen eine scheinbar kurze Ruhepause gewährt hat, bis zum Schluss der siebenzigsten das Volk Verwüstung treffen wird. Der Grund dazu ist ihre Verwerfung des Messias, die gerade zu der Zeit geschah, als die mit der Prophezeiung verbundene Verheißung auf dem Punkte stand, sich zu erfüllen. Die Verwerfung Dessen, der im Namen Seines Vaters kam, hat zu der lange andauernden Zerstreuung der Juden geführt, und diese wird fortdauern bis zu der Zeit, da sie wieder gesammelt werden, aber nur um dann der Bosheit des Hauptes der Nationen zur Beute zu fallen, ja, bis zu der Zeit, da sie in die Hände dessen fallen werden, der in seinem eigenen Namen kommen wird. In der Tat, es ist eine traurige Lage, in der sie sich während der letzten Woche befinden werden; doch hat Gott derselben eine Grenze gesetzt, über die keine Bosheit des Feindes hinausreichen kann.

Fußnoten

  • 1 Das ist der Sinn des Ausdrucks „die Vielen“, wie dies aus mehreren anderen Stellen unseres Buches klar hervorgeht.
  • 2 Es ist zu beachten, dass der Herr ausdrücklich nur von der letzten Halbwoche, der Zeit der Drangsal, spricht, welche der Aufstellung des verwüstenden Götzenbildes an heiligem Orte folgen wird. Manche Ausleger haben infolgedessen gemeint, es würde nur noch diese Halbwoche kommen, da Christus in der Mitte der Woche weggetan worden sei. Andere sind der Meinung, die siebenzigste Woche sei vor dem Tode des Herrn vollständig vergangen, werde aber, da Jesus verworfen worden sei, nicht gerechnet; diese Woche finde sich daher zu der Zeit wieder, wenn die Juden mit dein Gesetzlosen in Verbindung stehen. Das eine ist gewiss, dass der Fürst in den letzten Tagen einen Bund für eine ganze Woche schließt und dass andererseits der Herr von der letzten Hälfte der Woche als der Zeit unvergleichlicher Drangsal redet, die Seinem Kommen unmittelbar vorhergehen soll. Wäre dies alles, so würde die vorhergehende Geschichte des kommenden Fürsten, der einen Bund schließt, mit zu der Geschichte des allgemeinen Zustandes der Dinge gehören. Die vollständige Beantwortung der Frage, ob noch eine oder zwei Halbwochen (für die Zeit, da sich die Macht des Bösen offenbaren wird) ihrer Erfüllung harren, und wie letztere zu erwarten ist, behalte ich mir für die Betrachtung des Buches der Offenbarung vor und bemerke hier nur, dass der Messias weggetan wird, nachdem 69 Wochen vergangen sind. Aus dem Neuen Testament wissen wir, dass die Zeit Seines Dienstes gerade eine halbe Woche währte. Ohne Zweifel würde dies der Fürst oder der Jude, mit dem jener das Bündnis eingeht, nicht in Rechnung ziehen. Die Deutung der vorliegenden Stelle ist klar: Mit dem kommenden Fürsten wird ein Bund für eine Woche abgeschlossen, als ob nur 69 Wochen verflossen wären; des Messias sowie der Tatsache, dass Er weggetan worden ist, wird nicht geachtet, und eine Halbwoche lang findet um der Götzen willen bis zur beschlossenen Vernichtung äußerste Unterdrückung statt.
  • 3 Das Wort bedeutet buchstäblich „Flügel“, also: „auf“ oder „wegen des Flügels der Gräuel“; bekanntlich wird das Wort „Flügel“ häufig für „Schutz“ gebraucht.
  • 4 Dieser Ausdruck wird immer wieder gebraucht, wenn es sich um die letzten Gerichte handelt, welche die Juden treffen sollen (siehe Jesaja 10,23; 28,22). In dem zweiten Verse des letztgenannten Kapitels wird der Verwüster mit einer Flut verglichen; so auch in Vers 26 des unserer Betrachtung unterliegenden Kapitels. Der aufmerksame Leser wird bemerken, dass sich die beiden Stellen in Jesaja ebenfalls auf die Ereignisse der letzten Tage beziehen. Man beachte auch den Bund in Jesaja 28,15 .
  • 5 Andere übersetzen: „über den Verwüster“. Aber ein jeder, der mit dem Inhalt und der Ausdrucksweise der Bibel bekannt ist, wird zugeben, dass die obige Übersetzung richtiger ist. Die Bedeutung der Prophezeiung ist in beiden Fällen die gleiche. Die eine Übersetzung drückt aus, dass die Verwüstung fortdauern wird, bis das von Gott zuvor beschlossene Gericht vollendet ist; die andere, dass sie nicht aufhören wird, bis der Verwüster vernichtet ist - was auf dasselbe hinausläuft. Die oben gegebene Übersetzung scheint mir genauer und mehr in Übereinstimmung mit dem Worte zu sein. Auch hat das hebräische Wort nicht dieselbe Form wie das an anderen Stellen, wo die Bedeutung sicher ist, mit „Verwüster“ übersetzte.
  • 6 Gleichzeitig besteht die Macht der Nationen. Aus der Schrift wissen wir, dass die Wiederherstellung Jerusalems, wie der ganze Verlauf der neunundsechzig Wochen, die bestimmt vergangen sind, unter der Herrschaft der Nationen stattgefunden hat. In dieser Hinsicht sind sich die siebenzig Wochen alle gleich. Erst am Ende derselben tritt Vergebung ein. Wer auch das Werkzeug sein mag, durch welches der Bund hergestellt wird, jedenfalls wird zu jener Zeit das vierte Tier die herrschende Macht der Nationen sein, welchen Gott einst Gewalt und Autorität übertragen hat. Wollen wir die siebenzig Wochen verstehen, so ist es von großer Bedeutung, diese Lage der Dinge zu beachten, nämlich dass die Juden zurückgebracht sind, die Stadt wieder aufgebaut ist, und dass die Nationen den Thron der Welt noch innehaben. Nur unter diesen Verhältnissen findet der Verlauf der siebenzig Wochen statt. Man muss wohl im Auge behalten, dass hier das Volk Daniels und seine Stadt gemeint sind, denen Gott wieder wie in früheren Zeiten Seine Gunst erzeigen will. Noch immer harrt die Langmut Gottes. Die heidnische Macht hat bereits ihre Untreue bewiesen; Babel ist gestürzt worden. Die Juden kehrten aufgrund der für sie eingelegten Fürbitte vorläufig zurück, und der Tempel wurde wieder erbaut. Die siebenzig Wochen waren beinahe zu Ende gegangen, als Christus kam. Hätten die Juden und Jerusalem an diesem ihrem Tage Buße getan, so wäre alles für ihre Wiederherstellung in Herrlichkeit bereit gewesen. Abraham, lsaak und Jakob hätten auferweckt werden können, gerade so wie es mit Lazarus geschehen war. Aber die Stadt hat den Tag ihrer Heimsuchung nicht erkannt; so musste denn notwendigerweise der Abschluss der siebenzig Wochen, samt der Segnung, die auf dieselben folgen sollte, hinausgeschoben werden. Die Gnade hat uns belehrt, dass Gott noch herrlichere Gedanken und Absichten hatte, und dass des Menschen Zustand ein solcher war, dass die erwähnten Dinge nicht eintreten konnten, was auch durch die Tatsachen bewiesen worden ist. Demgemäss wird alles hier im voraus angekündigt (vgl. Jesaja 49,4-6).
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