Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Kapitel 4

Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

In diesem Kapitel offenbart sich der menschliche Hochmut; der König rühmt sich des Werkes seiner Hände, als wenn er selbst seine Größe und Herrlichkeit geschaffen hätte. Dieser Hochmut führt das Gericht herbei. Die Macht sinkt zu dem Zustand der Tiere herab, die von Gott nichts wissen und denen der menschliche Verstand fehlt. Das einzige wahre Vorrecht des Menschen, das, was ihn wahrhaft erhebt, ist, dass er zu Gott aufblicken und Ihn anerkennen kann. Ohne das blickt er nach unten; er sinkt herab, denn er kann sich selbst nicht genügen. In der Abhängigkeit besteht seine Herrlichkeit; denn sie gibt ihm seinen Platz vor Gott und lässt ihn Gott erkennen, und sein Geist, der mit Gott in Verbindung getreten ist, empfängt von Ihm seinen Maßstab und seine Erkenntnis. Hochmut und das Streben nach Unabhängigkeit trennen den Menschen von Gott; er wird zu einem Tier, das wirklicher Einsicht ermangelt. Nun, dieser Zustand beschreibt denjenigen der Königreiche, von denen der Prophet redet (indem dieselben als ein vor Gott stehendes Ganzes betrachtet und durch Nebukadnezar, das von Gott eingesetzte Haupt, dargestellt werden). Sieben Zeiten oder sieben Jahre gehen über dem Haupte des seiner Vernunft beraubten Nebukadnezar dahin. Er hatte sich selbst erhöht und ist erniedrigt worden. Die Zeiten der Nationen kennzeichnen sich durch den völligen Mangel eines Verständnisses, das die regierende Macht mit Gott in Verbindung bringen würde. Götzenbilder aufrichten, Babel erbauen und Gott nicht kennen - das sind die moralischen Charakterzüge einer Macht, die Gott anstelle Seines eigenen Thrones in Jerusalem aufgerichtet hatte. Damit ist an den Tag gelegt, wozu der Mensch im Besitz der ihm anvertrauten Macht fähig ist 1.

Das Kapitel schließt mit einem Zeugnis, welches für die Herrlichkeit Gottes, des Höchsten, des Königs des Himmels, abgelegt wird. Nachdem Er Sein Gericht aufgehoben hat, erkennt Nebukadnezar Seine Majestät an und preist Ihn. Er erkennt Ihn als den ewig Lebenden an, der erniedrigt und erhöht, wen Er will, der im Himmel und auf Erden nach Seinem Willen handelt und vor dessen Macht und Majestät alle Menschen nur Eitelkeit sind. Hier ist es nicht die Errettung der Treuen, die ihre Wirkung hervorruft, sondern das Gericht, welches die Nationen selbst traf. Dieselben werden, nachdem das Gericht vorüber ist, errettet und erhalten Verständnis im Blick auf Jehova, und zwar geschieht dies in Verbindung mit dem Zeugnis, das den Juden durch den von Gott dem Überrest verliehenen Geist der Weissagung anvertraut worden war. Statt nur ein Tier zu sein, das zur Erde herabblickt, erhebt der König nun seine Augen gen Himmel. Er wird verständig, unterwürfig, und voll Freuden preist er Gott, den Höchsten.

Diese Bezeichnung „der Höchste“ ist bemerkenswert. Es ist der Name, der Jehova bei dem Zusammentreffen Melchisedeks und Abrahams beigelegt wurde; nur wird dort noch hinzugefügt: „Der Himmel und Erde besitzt“. Wenn Gott alles unter einem Haupte zusammenbringen wird in dem Christus, das was in den Himmeln und das was auf der Erde ist, dann wird Er tatsächlich jenen Charakter annehmen, und Christus wird Sich als der wahre Melchisedek offenbaren. Die Nationen werden Gott völlig unterworfen sein. Das wird die Zeit der „Wiederherstellung aller Dinge“ sein, von welcher die Propheten geredet haben.

Es erübrigt uns noch, einige Bemerkungen bezüglich verschiedener Einzelheiten zu machen. Die Wirkung, die wir eintreten sahen, wird durch ein Gericht hervorgerufen, auf das Rettung folgt. Beachtenswert ist auch die Bedeutung des hier vorkommenden Sinnbildes eines großen Baumes. Es ist ein Mächtiger der Erde, der imstande ist, andere unter seinen Schutz zu nehmen. In dem vorliegenden Falle war es einer, der die höchste Stellung, die für den Menschen erreichbar ist, innehatte. Die Vögel des Himmels wohnten in seinen Zweigen; das heißt: Personen aller Klassen suchten bei ihm Obdach und Schutz. Auch vernehmen wir, dass Gott von den Grundsätzen, durch die sich die irdischen Regierungen leiten lassen, Kenntnis nimmt, indem letztere als Verwalter der ihnen von Gott verliehenen Macht betrachtet werden. Obgleich jetzt nicht (wie einst in Israel) Sein Thron auf der Erde steht, so überwacht Gott doch alles und richtet diejenigen, denen Er eine Autorität anvertraut hat, Er regiert nicht unmittelbar, macht aber denjenigen, in dessen Hände Er die Regierung gelegt hat, verantwortlich, damit dieser die Herrschergewalt Gottes als die oberste in dieser Welt anerkenne.

Was den Ausdruck „Wächter“ betrifft, so glaube ich nicht, dass die Einsicht über die Frage, wer es war, der den Gerichtsbeschluss überbrachte, über den religiösen Zustand Nebukadnezars hinausgeht. Daniel schreibt den Beschluss unmittelbar dem Höchsten zu. Die Annahme, dass Engel die verständnisvollen Werkzeuge desselben gewesen seien und dass ihnen die Ausführung in gewisser Beziehung übertragen worden sei, bietet keine Schwierigkeit. Die Epistel an die Hebräer lehrt im Einklang mit anderen Schriftstellen, dass Engel in dieser Weise verwendet werden. Der zukünftige Erdkreis wird ihnen nicht in dieser Weise unterworfen sein.

In Vers 27 sehen wir, wie Daniel Nebukadnezar seine Verantwortlichkeit vorhält, indem er ihn ermahnt, sein Verhalten zu ändern.

Wir mögen hier noch bemerken, dass es der „König des Himmels“ ist, den Nebukadnezar anerkennt. Dies war notwendigerweise Sein Platz. Der Gott der Erde hatte Seinen Thron in Jerusalem. Wäre derselbe noch dort gewesen, so hätte Nebukadnezar nicht den Platz haben können, den er einnahm. Des Thrones zu Jerusalem geschieht bei Daniel keinerlei Erwähnung, weder in moralischer noch in prophetischer Hinsicht. Seine Weissagungen brechen immer ab, ehe sie an diesen Punkt kommen. Er ist ein Gefangener unter den Nationen, der in dieser Lage Gott treu ist und von Ihm belehrt wird. Gott kann für ihn aber nicht der Gott der Erde sein 2. Er ist der Gott des Himmels, der überall und über alle Dinge herrscht, der im Himmel und auf Erden nach Seinem Willen handelt, der aber noch nicht als König der Erde über dieselbe regiert. Er hatte dies im Gegenteil soeben aufgegeben und die Macht in die Hände Nebukadnezars gelegt, während Er Sich angesichts der Bosheit Seines irdischen Volkes zurückzog, um Sich auf die Ausübung Seiner höchsten, unveränderlichen Macht zu beschränken, deren Wirkungen sich erst später zeigen sollten, durch welche Er aber selbst damals, obwohl den Augen der Menschen verborgen, regierte.

Der Leser erwartet vielleicht mehr Einzelheiten. Dieselben werden wir in den Mitteilungen finden, welche Daniel unmittelbar empfing. Wer aber die Grundsätze, die wir aufstellen (und deren Darlegung ist der große Zweck dieser Kapitel) erfasst hat, der hat über Punkte Klarheit gewonnen, welche für das Verständnis aller Weissagungen dieses Buches von höchster Wichtigkeit sind. Wo das Verständnis über diese Grundsätze mangelt, wird auch die Bedeutung der Offenbarungen, die unser Buch enthält, nie klar erfasst werden. Wir müssen stets im Gedächtnis behalten, dass wir uns hier auf dem Boden der Juden befinden, die unter den Nationen in Gefangenschaft sind und die Wege Gottes mit diesen verstehen, sowie Sein Gericht über ihren Zustand, während die Macht ihren Händen überlassen ist.

Fußnoten

  • 1 Davids Thron war mit einer Macht bekleidet gewesen, die an Gehorsam gebunden war, indem der König eine Abschrift des Gesetzes anzufertigen und dasselbe zu beobachten hatte; der Thron Nebukadnezars dagegen war ein Thron unbedingter Macht: es war der Mensch, unbeschränkt in der Ausübung seines eigenen Willens. In dieser doppelten Weise wurde der Mensch im Besitz der Macht auf die Probe gestellt.
  • 2 Wenn Gott Seinen Platz als Gott der Erde wieder einnimmt, wird der Same Davids nicht in Babel in Gefangenschaft schmachten.
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