Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Psalm 120-134

Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)

Wir kommen jetzt zu den „Stufenliedern“ (Ps 120 – 134), die, wie ich nicht bezweifle, auf die äußeren Umstände des Überrestes zu derselben Zeit hindeuten wie die vorhergehenden Psalmen, nämlich auf die Zeit, wo Israel im Lande Kanaan ist, aber die Macht Gogs (Hes 38; 39) noch nicht zerstört ist.

Psalm 120

Psalm 120 lässt uns den Ruf des Frommen vernehmen, der in seiner Bedrängnis zu Jehova schreit, und Jehova erhört ihn. Was hier besonders den Bedränger kennzeichnet, ist Lüge und Trug; das Gericht darüber wird nicht ausbleiben (V. 4). Es handelt sich hier jedoch nicht um die Jerusalem zugefügte Gewalttat und Bedrückung, noch um den Druck, den das abtrünnige Volk ausübt, sondern um das, was dem Frommen persönlich zugefügt wird. Er bricht in Klagen darüber aus, dass er in Mesech weilt und bei den Zelten Kedars wohnt. Ungerechtigkeit ist im Herzen der Bedrücker, und wenn der Fromme von Frieden redet, so beginnen sie den Krieg. Es scheint mir, dass es sich hier nicht um die Bedrückung von Seiten des Antichrists oder des Tieres in Jerusalem handelt, sondern um die letzte feindliche Macht, die zuerst vorgibt, die Juden, die sich im Lande befinden, zu begünstigen 1, und viele zum Abfall verleitet, indem sie ihnen dafür Ruhe und Wohlergehen verspricht, sich dann aber als ein trügerischer Bedrücker offenbart.

Psalm 121

In Psalm 121 wird nachdrücklich versichert, dass Jehova der Hüter Israels ist. Er, der nicht schlummert noch schläft, wird nicht zulassen, dass der Fuß des Treuen wankt. Der allgemeine Gedanke, der dem Psalm zugrunde liegt, ist einfach. Ich bin mir nicht ganz klar über die Bedeutung des ersten Verses, es sei denn dass in demselben Jehova, der Schöpfer des Himmels und der Erde, mit dem Berge Zion, der Stadt des großen Königs, verglichen wird 2. Wie dem auch sei, Jehova, als der große Schirmer Seines Volkes, ist der Gegenstand des Psalmes; das ist ganz klar, und Sein Name wird immer wieder genannt. In diesem doppelten Charakter wird Jehova hier betrachtet: als der Schöpfer des Himmels und der Erde und als der Hüter Israels; Er wird den treuen Überrest unter allen Umständen und für immer bewahren.

Psalm 122

In Psalm 122 steht Jerusalem im Vordergrund; es ist eine Freude für den Frommen, dorthin zu gehen. Die Stämme ziehen dort hinauf, die Throne zum Gericht, die Throne des Hauses Davids, stehen daselbst. Das Herz des frommen Israeliten hängt an Jerusalem, sowohl um seiner Brüder und Genossen als auch um des Hauses Jehovas, des Gottes Israels, willen. Die Beziehungen mit Jerusalem werden wiederhergestellt, die alten in Erinnerung gebracht und neue angeknüpft.

Psalm 123

Der Überrest fühlt seine Leiden, kennt aber auch seine Hilfsquelle. Die volle Segnung ist noch nicht da, aber die Frommen heben ihre Augen auf zu Jehova, der in den Himmeln thront, und zwar zu Ihm als dem Gott Israels; der Überrest sagt jetzt „unser Gott“, obwohl er noch den Spott der Sorglosen und die Verachtung der Hoffärtigen zu tragen hat.

Psalm 124

Der Feind hatte seine Macht gerade jetzt völlig entfaltet gegenüber den Frommen im Lande, die auf Jehova vertrauen. Und nur, weil Jehova für sie gewesen, sind sie dem Untergang entronnen; sonst wären sie von dem Feinde völlig verschlungen worden. Es handelt sich hier, wie ich denke, um die letzte feindliche Macht, die sich erhebt, nachdem das Tier und der Antichrist bereits vom Schauplatz verschwunden sind.

Psalm 125

Die Sicherheit derer, die auf Jehova vertrauen, wird hier gepriesen sowie die Stellung, die sie aufgrund des Einschreitens Jehovas nunmehr einnehmen. Jehova Selbst wird sie schützen, und sie werden ewiglich bleiben. Wohlfahrt ist nun Israels gesegnetes Teil. Diejenigen, die auf ihre krummen Wege abbiegen, wird Jehova dahinfahren lassen zum Gericht mit den offenbaren Übeltätern. Die Rute der Gesetzlosigkeit wird nicht auf dem Lose der Gerechten ruhen. Die Rute der Gesetzlosigkeit (welche die Gesetzlosen als eine Gesamtheit darstellt) wird für immer hinweggetan werden; man wird sich von dem Bösen, das durch sie geschehen ist, absondern, damit die Gerechten nicht mehr abirren. Dies alles bezieht sich, wie ich glaube, auf den letzten kriegerischen Einfall der Macht Gogs, oder auf den letzten Zustand des Assyrers, vielleicht auf Daniel 8 (nur wird uns in diesem Kapitel der Charakter dieses Einfalls vollständig gezeigt, nicht nur das Ende desselben); vielleicht bezieht es sich auch auf den letzten König des Nordens, der nach dem König, der nach seinem Gutdünken handelt (Dan 11, 36), auftreten wird.

Psalm 126

Jetzt, da die Befreiung gekannt ist, findet das Herz des frommen Überrestes seinen Mittelpunkt in Zion. Wie tief hatte Zion daniedergelegen; wie war es bedrängt worden! (Vgl. Jes. 29, 1 – 4; Jes.17,12–14 und andere Stellen.) So groß, so unerwartet ist die Freude über die Rettung, dass alles wie ein Traum erscheint; selbst die Nationen erkennen in derselben die Hand Jehovas. Doch die volle Segnung ist noch nicht erreicht; die Frommen schauen nach ihr aus und möchten die Gefangenschaft in den Vollbesitz der Segnungen umgewandelt sehen. Doch Gott hat Sich offenbart, und die Getreuen, die Sein Zeugnis inmitten der Leiden, unter Schmach und Verachtung, aufgenommen haben, ernten jetzt mit Jubel. So ist es stets; volle Freude wird nur auf dem Wege der Leiden erreicht, denn das Zeugnis Gottes befindet sich inmitten einer bösen Welt.

Psalm 127

Das Bauen des Hauses, das Bewachen der Stadt, eine reiche Anzahl von Söhnen, das sind die Segnungen, nach denen die gläubigen Israeliten ausschauen und die ihnen auch zuteil werden sollen. Jedoch ist es Jehova, der allein diese Segnungen bewirken und darreichen kann; ohne ihn ist das Wirken und Wachen des Menschen vergeblich. Die hier genannten Segnungen tragen, wie wir sehen, einen durchaus jüdischen Charakter. Eine zahlreiche Nachkommenschaft wird deutlich als eine Gabe Gottes bezeichnet: „Siehe, ein Erbteil Jehovas sind Söhne ... Glückselig der Mann, der mit ihnen seinen Köcher gefüllt hat!“

Psalm 128

In Psalm 128 werden die besprochenen Segnungen als das Teil eines jeden, der Jehova fürchtet, bezeichnet. Es sind gegenwärtige, zeitliche Segnungen, Segnungen aus Zion und das Begehren des gottesfürchtigen Herzens, nämlich das Wohl Jerusalems zu schauen alle Tage seines Lebens. Obwohl es sich auch hier zunächst um den Überrest handelt, werden doch die Nationen, die Jehova fürchten und den Gott Israels anerkennen, dem Grundsatz nach die gleichen Segnungen genießen und sich mit Seinem Volke freuen.

Psalm 129

Psalm 129 blickt jetzt mit Freude auf die Trübsale und Prüfungen zurück, durch welche die Kinder Zions gegangen sind. Doch Jehova ist gerecht, Er hat das Seil der Gesetzlosen durchschnitten. Alle, die Zion hassen (denn Zion ist hier immer der Hauptgedanke), werden verwelken wie das Gras der Dächer und ohne Hilfsmittel sein, man entbietet ihnen keinen Gruß.

Psalm 130

Psalm 130 nimmt einen anderen Gegenstand auf, von dem wir schon früher deutliche Spuren gefunden haben – er beschäftigt sich mit den Sünden Israels, die zwischen dem Volke und Gott stehen. Jedoch ist es nicht eine nur gesetzliche Betrübnis, die sich hier kundgibt; sie wird vielmehr durch Vertrauen auf Jehova gekennzeichnet, allerdings begleitet von tiefer Beugung und Demütigung. Das wird immer die Wirkung sein, wenn in der Seele die Sünde, zugleich aber auch die Barmherzigkeit Gottes gefühlt wird. Bei einer rein gesetzlichen Betrübnis – so sehr sie dazu dienen mag, jedes Selbstvertrauen zu vernichten und zu zeigen, dass man ganz auf Gnade angewiesen ist – ist die Seele in ihrer Angst mehr mit sich selbst beschäftigt, während sie, wenn das Herz die Gnade kennt, ein tieferes Gefühl darüber hat, dass sie gegen den Gott aller Güte gesündigt hat. Und dies geht schließlich doch tiefer. Der Psalmist sagt hier: „Bei dir ist Vergebung, damit du gefürchtet werdest“, und obwohl die Seele aus den Tiefen ruft, harrt sie doch auf Jehova. Es ist sowohl Verlangen nach Gnade als auch geduldiges Harren auf Jehova vorhanden. In Vers 7 sehen wir den Grund, warum die Seele vertrauen und harren kann und in Vers 8 das volle Ergebnis, das sie vertrauensvoll erwartet. In Vers 3 und 4 erkennt die Seele an, woher ihre Not rührt, aber sie weiß auch, dass die Gnade dieser Not entsprechen kann; ja, sie weiß, worauf sie bei Jehova rechnen darf (V. 7); und in Vers 8 vertraut sie völlig auf Erlösung für Israel, und zwar nicht nur auf Erlösung aus den Bedrängnissen, sondern von allen Ungerechtigkeiten.

Psalm 131

Die Seele beruft sich vor Jehova darauf, dass sie ohne jedes Selbstvertrauen ist und in Niedriggesinntheit gewandelt hat. Israel wird aufgefordert, auf Jehova zu vertrauen von nun an bis in Ewigkeit.

Psalm 132

Psalm 132 ist in mancher Hinsicht von großem Interesse. Er handelt von dem Zurückbringen der Bundeslade an die Stätte ihrer Ruhe, und von den Verheißungen, die Jehova Seinem Knechte als Antwort auf sein Gebet gibt. Wie wir aus den geschichtlichen Büchern gesehen haben, war es eine wichtige Handlung, als David die Bundeslade nach Zion hinaufbrachte. Die Gnade handelte darin mit Macht, nachdem Israel so gänzlich gefehlt hatte, dass die Verbindung mit Gott, insoweit sie auf der Verantwortlichkeit des Volkes beruhte, völlig abgebrochen war; die Bundeslade war in Gefangenschaft geraten, und „lkabod“ (Nicht-Herrlichkeit) war auf alles geschrieben 3. Nun aber war in vollerem, dauernderem Sinne eine Wohnung gefunden für den mächtigen Gott Jakobs, wo die Frommen „niederfallen wollten vor dem Schemel seiner Füße“. Der wahre Sohn Davids, der Gesalbte Jehovas, soll auf Seinem Throne sitzen, und zwar auf immerdar. Jehova wird in Seine Ruhe eingehen – Er und die Lade Seiner Stärke. Wenn Er in früheren Zeiten aufstand, so geschah es, um „seine Feinde zu zerstreuen“, und dann „kehrte er wieder zu den Myriaden der Tausende Israels“ (4. Mo 10, 35. 36). jetzt aber – und das verleiht dem Psalm seinen wahren Charakter – sind die Feinde für immer zerstreut, und Jehova steht auf zu Seiner Ruhe inmitten Israels. Die freie Erwählung von Seiten Gottes kommt hier zum Ausdruck (V. 13); und dann wird man bemerken, dass die Verheißung, mit der Gott auf die Bitten antwortet, jedes Mal weit über diese hinausgeht (vgl. V. 14 u. 15 mit V. 8; V. 16 mit V. 9; V. 17 u. 18 mit V. 10). Dies ist von höchstem Interesse, da es uns die Gnade des Herrn zeigt sowie Sein Interesse für Sein Volk, und wie Seine Liebe alle Erwartungen Seines Volkes weit übersteigt.

Psalm 133

Israel wohnt nun einträchtig beieinander, und das ist gleich dem köstlichen Öl, mit dem Aaron gesalbt wurde und das, ausgegossen auf das Haupt, den Duft der göttlichen Gunst über alles verbreitete; es ist wie der reiche Tau der hohen Berge, der, von welcher Höhe er auch kommen mag, seine erfrischende Kraft ausdehnt bis zu der Stätte, wo Gott Segen und Leben bis in Ewigkeit verordnet hatte 4. Ich sehe hier durchaus keine Notwendigkeit, nach einem Berge gleichen Namens in der Nähe des Hermon zu suchen; im Gegenteil.

Psalm 134

Psalm 134 schließt die Reihe der Stufenlieder, indem die Knechte Jehovas aufgefordert werden, Ihn zu preisen. Nacht und Tag soll Lob zu Ihm emporsteigen, und heilige Hände sollen im Heiligtum erhoben werden, um Jehova zu preisen. Jehova ist gegenwärtig, und Seine Knechte sind da, um Ihn zu erheben. Jehova, der Himmel und Erde gemacht hat, segnet nunmehr nicht einfach vom Himmel aus, sondern von Zion aus; denn Zion ist jetzt der Ort, wo Jehova gepriesen wird und von wo aus Er segnet. In dem letzten Verse möchte ich fast die Stimme Christi als des Sohnes Davids erkennen, etwa in dem Charakter Melchisedeks, der sagte: „Gesegnet sei Abram von Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt! Und gepriesen sei Gott, der Höchste!“ (1. Mo 14, 19. 20); nur dass die Segnung in unserem Psalm besonders in Verbindung mit Jehova steht (wie in Sach 6, 13), der den gläubigen Überrest von Zion aus segnet. Dieser letzte Vers ist wie eine Antwort auf die beiden vorhergehenden: der Geist Christi fordert die Knechte Jehovas auf, Jehova zu preisen, und diese segnen von Jehova aus den frommen Überrest.

Fußnoten

  • 1 Ich nehme hier Bezug auf Daniel 8, nicht auf Daniel 9.
  • 2 Ein Berg ist das Bild erhabener Macht; hier handelt es sich um den Berg Jehovas.
  • 3 Drei Regierungsgrundsätze sind in Israel zur Anwendung gekommen: erstens unmittelbare Verantwortlichkeit Gott gegenüber unter dem Priestertum; mit Eli fiel dasselbe, und „lkabod“ war das Ergebnis; es war aus mit Israel auf dem Boden der Verantwortlichkeit. Dann trat Gott ins Mittel durch einen Propheten; das konnte Er noch tun; es war eine Handlung in Unumschränktheit. Aber auch dies hielt nicht stand, ebenso wenig das Königtum, welches das Volk eigenwillig errichtete. Dann aber finden wir das Königtum als eine Macht in Gnade errichtet, wie es einst in Christo der Fall sein wird, und nun kehrt die verlorene Bundeslade zurück. Das ist, was in diesem Psalm gefeiert wird.
  • 4 Hier ist die eine der beiden Stellen im Alten Testament, wo von „Leben bis in Ewigkeit“, also von ewigem Leben, die Rede ist; die andere finden wir in Daniel 12. Beide werden in der kommenden Segenszeit des Tausendjährigen Reiches erfüllt werden. Im Neuen Testament ist das ewige Leben, wie ich wohl nicht zu sagen brauche, in Christo völlig offenbart worden; wer an Ihn glaubt, hat ewiges Leben.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel