Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)
Psalm 119
Dieser Psalm ist im allgemeinen das im Herzen eingeschriebene Gesetz; daher nimmt er einen wichtigen Platz unter den Psalmen ein; auch steht er deutlich in Verbindung mit Israels Drangsalen in den letzten Tagen und ihrem vorhergegangenen Abweichen von Gott. Die verschiedenen Abschnitte des Psalmes (jedes Mal 8 Verse) zeigen uns, wie ich denke, die verschiedenen Arten der Herzensübungen des Überrestes in Verbindung mit dem Gesetz, das auf ihr Herz geschrieben ist, obgleich der allgemeine Grundsatz selbstverständlich durch den ganzen Psalm geht. Ich will ganz kurz auf die hauptsächliche Bedeutung jedes einzelnen dieser Abschnitte hinweisen.
Der erste Abschnitt (V. 1 – 8) macht uns natürlich mit dem allgemeinen Grundsatz bekannt. Wir finden hier zum drittenmal in den Psalmen den Ausdruck: „Glückselig ist der Mann“ – ein Beweis, dass die Seele unter schmerzlichen Prüfungen und Drangsalen zu der großen Wahrheit zurückgekehrt ist, die der erste Psalm entfaltet, wo die Folgen der praktischen Gerechtigkeit in Verbindung mit dem Gesetz Jehovas unter der unmittelbaren Regierung Gottes dargestellt werden. Psalm 32 weist auf die Glückseligkeit der Vergebung hin, und unser Psalm hier auf die Glückseligkeit eines Wandels mit Gott, nachdem der Abgeirrte trotz aller Schwierigkeiten und Schmähungen zurückgekehrt ist. Allerdings finden wir am Ende des ersten Buches der Psalmen (in Ps 41), wo Christus so klar eingeführt wird, auch eine Seligpreisung besonderer Art. Dort wird derjenige glückselig gepriesen, der die Stellung der Niedrigkeit, die Christus hienieden einnahm, versteht und darauf acht hat – sei es im Blick auf Ihn Selbst oder auf diejenigen, die in Seinen Fußstapfen wandeln. Denn der 1. Psalm ließ voraussetzen, dass der Gerechte unter der Regierung Gottes gesegnet sein würde, indem Gott Seinen ganzen Willen in bezug auf Ihn ausführte. Aber das Gegenteil schien wahr zu sein; ja, tatsächlich ist, wie wir wissen, vor den Augen des Menschen jene Erwartung gar nicht eingetreten, indem eine himmlische und göttliche Gerechtigkeit und Erlösung herbeigeführt wurde.
Daher besteht die wahre Glückseligkeit in der Erkenntnis und dem Verständnis der Stellung, in der Er, der wahre Glückselige, als der von Menschen Verworfene Sich befand – Er, der wahre Arme, der Selbst praktisch den Platz einnahm, den Er als einen glückseligen bezeichnet, wie wir dies in der Bergpredigt sehen, in der die große Wahrheit von dem „Gesetz im Inneren des Herzens“ niedergelegt ist. Doch auch der Umstände, in denen sich der Gerechte befindet, wird in diesem ersten Abschnitt mit den Worten gedacht: „Verlass mich nicht ganz und gar.“
Der zweite Abschnitt (V. 9 – 16) geht weiter. Das Wort bringt die Seele in Verbindung mit Gott. Wer dasselbe in seinem Herzen verwahrt, ist nicht nur glückselig, sondern das Wort übt auch eine reinigende Wirkung aus; die Seele verlangt wirklich nach dem Worte und wird darin befestigt. Man beachte die Verbindung zwischen Jehova und Seinem Worte (V. 10. 11).
Im dritten Abschnitt (V. 17–24) sehen wir, wie der, der das Wort im Herzen verwahrt, sich in der Prüfung auf die göttliche Barmherzigkeit stützt. Der fromme Israelit fleht, dass Jehova an ihm wohl tun möge; williger Gehorsam wird die Folge sein. In Vers 19 finden wir seine Lage gekennzeichnet. Vers 21 beweist, was wir in diesem ganzen fünften Buche der Psalmen gefunden haben, dass der Überrest schon Jehovas Einschreiten zu seiner Befreiung erfahren hat, obwohl die volle Segnung noch nicht erreicht ist. Die Verse 22 und 23 deuten hin auf die Verachtung, unter der der arme Überrest in den letzten Tagen leidet; Jehovas Gesetz ist in dieser Lage sein Trost und seine Wonne.
Der vierte Abschnitt (V. 25–32) enthält mehr innere Übungen. Die Seele klebt am Staube, doch bittet sie, dass Gott sie nach Seinem Worte beleben möge; sie möchte ihr Verlangen gestillt sehen durch dieses lebendige Wasser von Gott. Vor Gott ist sie offenbar geworden; sie hat ihre Wege erzählt. So ist es stets. Sie wünscht, dass Gott jeden Weg des Bösen von ihr abwende. Sie hängt an Seinen Zeugnissen und fleht: „Lass mich nicht beschämt werden!“ Die völlige Befreiung ist noch nicht da, aber der Psalmist sehnt sich nach derselben, um frei und ungehindert auf den Wegen Gottes gehen zu können; das ist die sichere Wirkung der Zucht Gottes. Eine Seele, die ihre Wonne an Seinen Geboten und an Seiner Heiligkeit gefunden hat, sehnt sich danach, frei und ungehindert in Seinen Wegen wandeln zu können. Obwohl auch hier das Wort im Herzen verwahrt wird, handelt es sich in diesem Abschnitt doch mehr um den bestimmt ausgedrückten Willen Gottes, um Seine Gebote, so wie Zacharias und Elisabeth „untadelig wandelten in allen Geboten und Satzungen des Herrn“ – eine liebliche und treue Darstellung des Überrestes! Bei dem Christen wird dies alles unbeschränkter und mehr innerlich sein; es wird sich bei ihm mehr um Heiligkeit als um einzelne Gebote handeln (obwohl es vielleicht mit diesen begonnen hat), sei es nun bei seiner ersten Berufung von Seiten Gottes, oder später unter der Zucht. Für den Christen handelt es sich darum, „im Licht zu wandeln, wie Gott im Lichte ist“, nicht um „Gebote und Satzungen Jehovas“. Doch dem Grundsatz nach ist die Sache wesentlich dieselbe. Diesen Psalm jedoch direkt auf den Christen anwenden, hieße von der Höhe der göttlichen Gedanken auf einen niedrigeren Standpunkt herabsteigen. Ihrer Natur nach sind indessen die in diesem Psalm dargestellten inneren Übungen voll Unterweisung für uns; denn Unterwürfigkeit und Vertrauen inmitten der Prüfung sind immer am Platz, obwohl die Formen, in denen diese Eigenschaften sich zeigen, bei einem Israeliten weit niedriger stehen als bei einem Christen. (Man vergleiche hiermit den Philipperbrief, der uns die christliche Erfahrung zeigt.)
Im fünften Abschnitt (V. 33 – 40) fleht der Psalmist um göttliche Leitung und Unterweisung in den Wegen Gottes und in Seinem Gesetz;
im sechsten (V. 41- 48) um die sichtbare Erweisung der Gütigkeiten Jehovas auf diesem Pfade, damit er den Feinden gegenüber Zuversicht haben und an dem Gesetz Gottes festhalten könne.
Im siebenten Abschnitt (V. 49 – 56) stützt sich der Psalmist, da er durch das Wort Jehovas belebt worden ist, auf dieses Wort; denn Gott hat ihn gelehrt, darauf zu vertrauen, weil es Sein Wort ist, so dass er sich nun auf alle Seine Zusagen verlässt. In den Bedrängnissen, in denen es an jeder Ermunterung von außen her fehlte, trösteten die Rechte Jehovas das Herz.
Dies führt weiter zu dem achten Abschnitt (V. 57–64). Das Teil des Psalmisten war Jehova; er hatte Ihn gesucht, Selbstgericht geübt und seine Füße zu Seinen Zeugnissen gekehrt. Er vertraut auf Jehova und preist Ihn in den stillen Stunden der Nacht, wo das Herz mit sich allein ist. Er ist der Gefährte derer, die Jehova fürchten. So werden seine Gedanken freudiger gestimmt, und er sieht schon um sich her die Entfaltung der Güte Jehovas in Macht. Wahrlich, eine liebliche Äußerung der Übungen und Gefühle des Herzens.
Der neunte Abschnitt (V. 65–72) macht uns mit den Umständen des Psalmisten bekannt. Getröstet durch die Güte Jehovas, wie wir im vorigen Abschnitt sahen, kann er nun die ihn umgebenden Umstände mit den Augen Gottes und nach Seinen Gedanken betrachten. Es handelt sich in diesem Abschnitt, wie wir schon sagten, wesentlich um die Umstände, d. h. wir erfahren die Gefühle des Psalmisten über dieselben. Schon hat Jehova Gutes an ihm getan nach Seinem Worte, und er trachtet nach weiterer göttlicher Unterweisung, um die Absichten Gottes völlig zu verstehen. Er ist gedemütigt worden; vorher war er irregegangen, jetzt aber geht er voran in dem Geist und auf dem Pfade des Gehorsams. Die Übermütigen haben Lügen wider ihn erdichtet, und ihr Herz ist dick geworden wie Fett; sie stehen nicht in Verbindung mit Jehova, nicht im Gehorsam Ihm gegenüber. Der Psalmist erkennt, wie gut es für ihn ist, dass er gedemütigt worden ist, um die Satzungen Jehovas zu lernen. Nichts kennzeichnet klarer die richtige innere Stellung der Seele als dieses Sichhinwenden zu den Vorschriften Jehovas („Herr, was willst du, dass ich tun soll?“); man heißt dann alles willkommen, was dahin führt, und gibt dem Willen Gottes den richtigen Platz im Herzen, indem man ihn in seiner Autorität und Vollkommenheit anerkennt.
Der zehnte Abschnitt (V. 73 – 80) enthält zwei Hauptgedanken, der Psalmist wendet sich erstens zu Jehova als zu seinem Schöpfer: „Deine Hände haben mich gemacht und bereitet“, und er bittet Ihn, Sein armes Geschöpf als ein treuer Schöpfer zu leiten. Die, welche Jehova fürchten, werden ihn sehen und sich freuen, denn sie haben auf Sein Wort geharrt. Zweitens weiß der Psalmist, dass es die Treue Jehovas ist, die ihn gedemütigt hat; aber er bittet nun, dass Seine Erbarmungen über ihn kommen und die Übermütigen beschämt werden möchten, und dass die, welche Jehova fürchten, sich zu Ihm kehren möchten. Dies alles ist verbunden mit dem Begehren, dass das eigene Herz in den Satzungen Jehovas untadelig sein möge.
Im elften Abschnitt (V. 81 – 88) wird der Ruf dringlicher. Die Seele ist unter dem Druck der Prüfung und schmachtet nach Befreiung; sie erwartet, dass Jehova Gericht übe, denn sie wandelt in Seinen Vorschriften; von den Übermütigen, die Jehova und Sein Gesetz verachten, wird sie ohne Ursache verfolgt.
Der zwölfte Abschnitt (V. 89 – 96) erblickt in der Schöpfung einen Beweis von der unwandelbaren Treue Gottes: Sein Wort steht fest in den Himmeln, wo nichts dasselbe antasten oder erschüttern kann. Wäre nicht das Gesetz Jehovas die Wonne der Seele und ihr Trost gewesen, so wäre sie dem Druck der Prüfung erlegen. Wahrlich, ein kostbarer Besitz ist das Wort inmitten einer solchen Welt! Wir besitzen mehr als nur Gebote. Doch wir können sagen: „Von aller Vollkommenheit habe ich ein Ende gesehen.“
Ein anderer tröstlicher Gedanke erwächst aus all diesen Übungen: „Ich bin dein.“
Im dreizehnten Abschnitt (V. 97 – 104) gibt der Psalmist seiner Wonne an dem Gesetz Jehovas Ausdruck; es wirkt geistliche Einsicht im Herzen.
Im vierzehnten Abschnitt (V. 105 – 112) ist es das Wort, das die Seele auf ihrem Pfade leitet; bekümmert und niedergebeugt schaut sie nach Trost aus von Dem, in dessen Vorschriften sie wandelt trotz aller Feinde und ihrer Schlingen.
Im fünfzehnten Abschnitt (V. 113 – 120) sagt der Psalmist: „Die Doppelherzigen hasse ich.“ Gott ist sein Bergungsort, die Übeltäter weist er von sich. Er ruft Jehova an, ihn zu unterstützen, damit er nicht beschämt werde in seiner Hoffnung. Im Blick auf das sichere Gericht der Gesetzlosen empfindet er eine heilige Furcht.
Im sechzehnten Abschnitt (V. 121 – 128) fleht er ernstlicher um das Einschreiten Jehovas zu seiner Befreiung. Dass die Bösen das Gesetz Jehovas gebrochen haben, dient nur dazu, dass er selbst sich um so fester an dasselbe klammert. Es ist Zeit für Jehova, zu handeln.
In den folgenden fünf Abschnitten (V. 129 – 168) zeigen sich die Folgen dieses Sich-Anklammerns des Gläubigen an das Gesetz und die Zeugnisse Jehovas sowie der Wert, den diese in jeder Hinsicht für sein Herz haben. Wir finden die Prüfung, in der er sich noch auf dem Pfade der Gerechtigkeit befindet, und das Verlangen, nach seiner Befreiung aus derselben in den Wegen Jehovas zu wandeln, zugleich auch den Ausdruck seines tiefen Schmerzes darüber, dass die Treulosen das Gesetz nicht halten. Er wartet auf Unterweisung, Belebung und Bewahrung, und erinnert sich des ewigen Charakters der Zeugnisse Gottes, so dass er daran festhält, obwohl er von den Bösen unterdrückt wird.
Der zweiundzwanzigste Abschnitt (V. 169 – 176) trägt, da er den Schluss des Psalmes bildet, einen mehr allgemeinen Charakter; er bringt sozusagen eine kurze Wiederholung des Inhalts aller vorhergehenden Abschnitte. Der Bedrängte, der seine Wonne an dem Gesetz hat, fleht: „Lass mein Schreien nahe vor dich kommen“; er begehrt Einsicht nach dem Worte Jehovas und Errettung nach Seiner Zusage; er will Sein Lob hervorströmen lassen, wenn Er ihn Seine Satzungen gelehrt hat. Seine Zunge soll laut reden von Seinem Worte. Er hat das Bewusstsein, dass alle Gebote Jehovas Gerechtigkeit sind; er erwartet Hilfe von der Hand Jehovas, weil er Seine Vorschriften erwählt hat; er sehnt sich nach Seiner Rettung, denn er hat kein Vertrauen auf Menschen; er hat seine Wonne an dem Gesetz Jehovas, nicht an seinem eigenen Willen oder an den Wegen des Übermütigen. „Lass meine Seele leben“, so bittet er, damit sie Gott preise. Er sagt. „Deine Rechte mögen mir helfen“, denn die Macht des Todes umgibt ihn, und er ist von den Bösen bedrängt. Schließlich erkennt er an, dass er umhergeirrt ist wie ein verlorenes Schaf, und er fleht zu Jehova, dem Hirten Israels: „Suche deinen Knecht, denn ich habe deine Gebote nicht vergessen.“ Das ist der innere Zustand Israels in den letzten Tagen, wenn (bei der Rückkehr ins Land, denke ich) das Gesetz im Innern ihres Herzens eingeschrieben, aber ihre volle Befreiung und endgültige Segnung noch nicht gekommen ist. Der 119. Psalm beschreibt in der Tat den inneren Zustand der Gottesfürchtigen in den Umständen, die der 118. Psalm prophetisch darstellt.