Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)
Psalm 107-110
Psalm 107
Psalm 107 bildet eine Art Überschrift oder Einleitung zu diesem allem; er besingt die Güte Gottes, die ewiglich währt. Das ist jener gesegnete Ausdruck des Glaubens an die unwandelbare Güte Jehovas zu allen Zeiten, den wir seit der Entfaltung der Gnade in Davids Tagen so häufig finden. Es wird in besonderer Weise das glückselige Teil des wiederhergestellten Israel sein, diese Güte zu besingen. Unser Psalm zeigt uns die beiden Abschnitte der Befreiung Israels, in denen sich die Güte Jehovas erweist. Sie werden erlöst aus der Hand des Bedrängers, und sie werden gesammelt aus den Ländern von Osten und Westen, von Norden und Süden. Das ist der doppelte Charakter der Wiederherstellung Israels: Befreiung von den Feinden im Lande und Sammlung aus den Nationen von überall her. Aber der eigentliche Gegenstand des Psalmes ist die Güte Jehovas. Verschiedene Arten der Befreiung mit den sie begleitenden besonderen Umständen (und zwar als Antwort auf den Notschrei des Menschen, der sich durch seine Torheit selbst ins Elend gebracht hat) werden betrachtet mit dem Wunsche, dass die Menschen Jehova preisen möchten wegen Seiner Güte und wegen Seiner Wundertaten an den Menschenkindern. Israel ist es, an dem solche Wundertaten Jehovas in besonderer Weise wahrgenommen werden können. Der Psalm schreitet fort bis zu jener Zeit, wo die Juden nach ihrer Rückkehr im Lande Kanaan gezüchtigt werden, zeigt aber, wie schließlich der Stolz des Menschen gänzlich gebeugt werden wird: Jehova „schüttet Verachtung auf Fürsten“ und „hebt den Armen empor aus dem Elend und macht Herden gleich seine Geschlechter“. Das große Endergebnis der Regierungswege Gottes wird dann gezeigt: die Gerechten werden sich freuen, und alle Ungerechtigkeit wird ihren Mund verschließen. Wer weise ist und die Wege Gottes beachtet, wird die Gütigkeiten Jehovas verstehen. Man beachte, dass die Güte Gottes, wie sie hier betrachtet wird, sich ausschließlich in irdischer Rettung und Segnung kundgibt. Das ändert nichts daran, dass es Seine Güte, eine Güte voller Lieblichkeit, ist, aber wir erkennen daraus sehr klar, auf welchem Boden sich diese Belehrungen bewegen.
Psalm 108
Psalm 108 trägt einen besonderen Charakter, indem er aus den Endhälften von zwei anderen Psalmen zusammengesetzt ist, deren erste Hälfte der Notschrei aus tiefer Trübsal, und deren letzte Hälfte die Antwort auf diesen Schrei in Glauben und Hoffnung ist. Vers 1 – 5, das Ende von Psalm 57, ist der Ausdruck der festen Zuversicht des gläubigen Herzens, das nun singen und Gott preisen kann unter den Völkern (ammim), die jetzt mit Israel in näherer Verbindung stehen, sowie unter den übrigen verschiedenen Völkerschaften. Doch das volle Ergebnis dessen, was Gott in Seiner Gunst für Sein Volk tun will, ist noch nicht zutage getreten; deshalb verkündet derselbe Glaube, indem er Psalm 60 aufgreift, aber den Notschrei weglässt, das Hervortreten Gottes, dessen Güte groß ist über die Himmel hinaus, um diejenigen Völker, die noch Teile des Gebietes Israels in Besitz haben, zu unterwerfen.
Man beachte, dass im allgemeinen in diesem fünften Buche der Psalmen, wie auch in dem vorhergehenden, die Lage und Stellung Israels folgende ist: das Volk ist durch Gottes Hand in sein Land zurückgebracht und errettet, jedoch noch nicht frei von allen feindlichen Angriffen und noch nicht im Besitz des ganzen verheißenen Landes. Daher finden wir wohl Preis und Dank, denn Gott hat eingegriffen, und Israels Lage hat sich geändert, aber noch immer bedürfen sie der Hilfe und des Schutzes den noch nicht besiegten Feinden gegenüber, und die volle Segnung von Seiten Gottes, der ungestörte Friede, ist noch nicht da. Nur in einigen wenigen Psalmen am Ende finden wir unvermischtes Lob und Aufforderung nur zum Lobe. Diese Lage, in der das Volk wohl befreit ist, jedoch die volle Sicherheit noch erwartet, wird am Ende von Psalm 107 dargestellt. Was die endgültige Befreiung anbetrifft, so wird nur die Tatsache derselben festgestellt.
Die Verbindung zwischen den beiden Teilen dieses Psalmes ist nicht ohne Interesse. In der ersten Hälfte wird Jehova gepriesen im Blick auf das, was Er ist (im Gegensatz zu den Menschen) für ein Herz, das Ihn im Glauben kennt; Seine Güte ist groß über die Himmel hinaus, und Seine Wahrheit bis in die Wolken; auch hier wird die Güte wie immer zuerst genannt als die Quelle von allem. Die zweite Hälfte des Psalmes beginnt mit Vers 5: „Erhebe dich über die Himmel, o Gott! und über der ganzen Erde sei deine Herrlichkeit!“ Er wird aufgefordert, als Gott Seinen Platz einzunehmen und Seinen Namen zu rechtfertigen, damit Seine Geliebten befreit werden möchten. Von Vers 7 ab vernehmen wir Gottes Antwort hierauf, indem Er die Ansprüche und Rechte Israels als Seine eigenen geltend macht. So wird Jehova streiten wider die Nationen, die Israels Besitztum innehaben; doch das geschieht in Israel, und mit Gott werden sie mächtige Taten tun. Er ist in diesem Psalm nicht Jehova, sondern Gott, weil es sich nicht um Seine Bundesbeziehung zu Israel handelt, sondern vielmehr um das, was Er ist im Gegensatz zu den Menschen, deren Hilfe eitel ist.
Psalm 109
Dieser Psalm bezieht sich sicherlich auf Judas; jedoch wird man beim Lesen desselben bemerken, dass nicht alles ausschließlich auf Judas anwendbar ist. Und diese Wahrnehmung hilft uns zum Verständnis der Art und Weise, in welcher die Psalmen geschrieben sind. Wir finden in ihnen den allgemeinen Zustand der Heiligen in den letzten Tagen; und es gibt viele Stellen, die keineswegs auf Christum persönlich anwendbar sind, wie z. B. Psalm 118,10–12 und ähnliche Stellen, die sich allgemein auf die Gerechten beziehen; dann aber gibt es andere Stellen, die auf Christum und auf die Umstände angewandt werden können, in denen Er Sich befand, ja, die mit prophetischer Absicht und Genauigkeit auf Ihn hinweisen. An alles dieses sollten wir beim Lesen der Psalmen denken und göttliche Unterweisung suchen. Wie gesagt, bezieht sich Psalm 109 nicht ausschließlich auf Judas, der größere Teil des Psalmes redet in der Mehrzahl. In Vers 1–5 finden wir die Feindschaft der Gesetzlosen, der in Christo und dem frommen Überrest feindlich gesinnten Juden. Judas war ein besonderes Beispiel von dieser Bosheit und diesem Hass gegen Christum. Doch zweifle ich nicht daran, dass auch der zweite Teil des Psalmes (V. 6 – 19) allgemein anwendbar ist, auch dass die geforderten Gerichte allgemein sind, und dass man nicht etwa in dieser Stelle eine prophetische Offenbarung sehen darf, dass Judas Weib und Kinder hatte oder dergleichen. Vers 20 zeigt sogar klar, dass die Anwendung dieser Bitten um Gericht über die Gesetzlosen allgemein ist. Wir können daher keinen Zweifel darüber haben, dass unser treuer Herr diese Leiden durchgemacht hat, aber ebenso wenig zweifle ich daran, dass Er in diesem Schmerz in Gnade den Platz des Überrestes einnahm, und dass der Psalm sich auf den Überrest bezieht, der durch solche Leiden gehen wird. Das beweisen die Verse 30 und 31. Dessen ungeachtet ist es gewiss, dass Christus völlig in diese Leiden eintrat – und das ist von größtem Interesse für uns –, ja, dass Seine Teilnahme daran allem erst seinen wahren Charakter verleiht.
Psalm 110
Psalm 110 ist, obgleich höchst bedeutungsvoll, doch so einfach in seiner Anwendung, dass er nur wenige Bemerkungen erfordert. Der Arme und Verachtete, der Hass für Seine Liebe erntete, wie wir in Psalm 109 sahen, ist Davids Herr, zu dem Jehova gesprochen hat: „Setze dich zu meiner Rechten.“ Es ist von höchstem Interesse, zu sehen, wie in Jesaja 6 der „Herr“ (Adonai) zugleich im vollsten Sinne „Jehova der Heerscharen“ ist; und in unserem Psalm sitzt Er, der „Davids Sohn“ ist, zur Rechten Jehovas und zerschmettert Könige am Tage Seines Zornes (vgl. Ps 2). Die ganze Wahrheit bezüglich der Vereinigung der Versammlung mit Christo im Himmel wird hier übergangen, und der Psalm geht von der Tatsache, dass Christus Sich zur Rechten Gottes gesetzt hat, gleich dazu über, dass der Stab Seiner Macht aus Zion gesandt werden wird. Dies beweist wiederum, dass wir uns in den Psalmen auf völlig jüdischem Boden befinden. Man beachte ferner, dass Psalm 110 die Antwort Gottes auf die Verwerfung Christi hienieden ist. Wir finden hier nicht Sein Kommen vom Himmel, um den Antichristen zu vernichten; vielmehr sehen wir, dass Er schon von Zion Besitz genommen hat, und dass der Stab Seiner Macht von Zion ausgeht. Dies entspricht der ganzen Lage der Dinge in diesem fünften Buche der Psalmen, wo wir wohl die Juden wiederhergestellt, aber noch nicht Israels oder Christi Herrschaft in Zion völlig errichtet und in Ausübung sehen. jedoch ist Israel jetzt Sein williges Volk am Tage Seiner Macht (vgl. Hld 6,12). Ach wie ganz anders war es am Tage Seiner Erniedrigung! Das sahen wir in Psalm 109. Aber hier finden wir den Morgen eines neuen Tages, an dem wir nicht mehr die Väter, sondern die Kinder der Gnade erblicken!
Dann vernehmen wir den Schwur Jehovas, der Ihn nicht gereuen wird, dass Christus als Priester auf Seinem Thron sitzen soll auf der Erde. Dies ist gleichzeitig Verheißung und Prophezeiung. Auch der Tag Seines Zornes wird angekündigt; es ist der Tag des Zornes des Herrn (Adonai), der zur Rechten Jehovas sitzt – der Tag, an dem Seine Feinde zum Schemel Seiner Füße gelegt sein werden. Solange Er noch zur Rechten Jehovas sitzt, währt die Zeit der Gnade, die Zeit der Annehmung. Christus ist erhört und erhöht worden, und das Werk Seiner Gnade unter den Menschenkindern ist das Ergebnis Seines Versöhnungswerkes. Dann jedoch wird der Tag Seines Zornes kommen, an dem das geschriebene Gericht zur Ausführung gelangt. Ich denke, dass „das Haupt über ein großes Land“ (V. 6) die höchste Macht auf der Erde bezeichnet, nicht den Antichrist noch das Tier; denn diese beiden werden schon früher, bei Christi Herniederkommen vom Himmel, vernichtet. Der sich selbst erhöhende Mensch wird erniedrigt werden; Christus dagegen, der in Demut und Abhängigkeit von Seinem Vater die Erquickungen entgegennahm, die Ihm nach Gottes Willen auf dem Pfade der Erniedrigung zuteil wurden, wird dann Sein Haupt erheben und auf der Erde erhöht werden. Diese Psalmen bilden die Grundlage der ganzen Darstellung; was folgt, ist mehr ein Überblick über die Umstände und Ereignisse, sowohl vergangener als zukünftiger Zeiten mit daran geknüpften Betrachtungen, wenn wir sie so nennen dürfen, und Preis und Lob Gottes im Blick auf das Endergebnis.