Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)
Psalm 93-100
Psalm 93
Psalm 93 verkündet die großen und gesegneten Ergebnisse der Wege Gottes; Jehova regiert. Zwar steht Sein Thron von alters her fest; doch die Ströme hatten ihre Stimme erhoben, die Wogen der Gesetzlosen waren hoch gegangen. Jehova in der Höhe aber war mächtiger. Zwei andere große Grundsätze beschließen diese kurze, aber bemerkenswerte Zusammenfassung der Regierungswege Gottes mit dem Menschen. Erstens: „Die Zeugnisse Jehovas sind sehr zuverlässig“; der Glaube kann auf sie rechnen, komme was da will. Zweitens jedoch ergibt sich eine andere große Wahrheit hinsichtlich des Charakters Gottes: kein Friede kann den Gesetzlosen zuteil werden. Heiligkeit geziemt dem Hause Gottes. Indessen glaube ich, dass sich der letztere Grundsatz hier mehr auf die Heiligkeit bezieht, die dem Hause Gottes während des Zeitraumes geziemt, mit dessen Anbruch der Inhalt dieser Psalmen zusammenfällt und im Blick auf den der Erdkreis festgestellt worden ist.
Wir kommen jetzt zu den Einzelheiten der Einführung des Eingeborenen in die Welt, um die Herrlichkeit und göttliche Ordnung hienieden aufzurichten. Diese Einführung wird eingeleitet durch den Notschrei des Überrestes in Israel.
Psalm 94
In Psalm 94 finden wir diesen Notschrei, der gleichzeitig ein volles Verständnis bezüglich der eigenen Lage, der Handlungsweise Gottes, der Stellung der Gesetzlosen sowie des zu erwartenden Endergebnisses zum Ausdruck bringt, und zwar, wie in allen Psalmen dieses Buches, aufgrund wohlbekannter Beziehungen zu Jehova. Wir haben in Psalm 91 gesehen, wie Christus Sich mit dem Volke eins macht, damit sie, also mit Ihm vereinigt, zum Genuss der vollen Segnung gelangen möchten. Psalm 94 wendet sich an Jehova als den Gott der Rache und wünscht, dass Er erscheinen, Sich als Richter der Erde erheben und den Hoffärtigen Vergeltung geben möchte. Das „bis wann?“ wird jetzt ernstlich und dringend; die Gottlosigkeit und Gewalttätigkeit der Bösen nimmt überhand. In den Versen 8 – 10 wird den ungläubigen Israeliten die Torheit ihrer Handlungsweise vorgestellt. In den Versen 12 – 15 finden wir eine Erklärung der Wege Jehovas, die voll der tiefsten Unterweisung ist: „Glückselig der Mann, den du züchtigst, Jehova, und den du belehrst aus deinem Gesetz!“ So handelt Jehova mit dem gläubigen Überrest, um ihm Ruhe zu geben vor den bösen Tagen, bis dem Gesetzlosen die Grube gegraben wird.
Ohne Zweifel haben die Frommen (wie wir das in den Psalmen ausgedrückt finden) zu Zeiten diese Wahrheit fast vergessen (vgl. Ps 73). Doch war dies nicht immer der Fall (siehe Ps 27, 5). Der Glaube vergisst sie nicht, und darin liegt der Schlüssel zum Verständnis der Leiden des Überrestes – auch der unseren unter der Leitung unseres Gottes und Vaters. Inmitten des uns umgebenden Bösen hat es die Seele mit Gott zu tun; nicht nur indem sie sich willig unterwirft, sondern indem sie die Leiden, durch die sie geht, als einen Kelch betrachtet, der ihr von Jehova (uns von unserem Vater) gereicht wird. Damit schwindet alsbald die Störung und Bestürzung, die gefühlt wird, solange der eigene Wille ungebrochen ist und wir meinen, es mit Menschen zu tun zu haben, und uns nicht zu helfen wissen. Sobald der Eigenwille, dieses große Hindernis, gebrochen ist, unterweist Gott das nun unterwürfige Herz; es nimmt jetzt die richtige Stellung vor Ihm ein 1. Dem Glauben steht es überdies fest, dass Jehova Sein Volk niemals verwerfen wird. Aber das Gericht wird zur Gerechtigkeit zurückkehren, und die Aufrichtigen werden ihm folgen. Das ist der große und überaus wichtige Grundsatz, auf dem der Umschwung beruht, den wir in diesen Psalmen wahrnehmen. Das Gericht, das so lange von der Gerechtigkeit getrennt war, kehrt jetzt zu ihr zurück. Einst war das Gericht in den Händen eines Pilatus, während die Gerechtigkeit in Christo war. In jenem Augenblick war der Gegensatz vollständig, aber wir finden ihn mehr oder weniger zu allen Zeiten und überall. Zu leiden um der Gerechtigkeit willen und eine in den Himmeln festgestellte göttliche Gerechtigkeit zu besitzen, mag ein noch besseres Teil sein, als auf der Erde das Gericht zur Gerechtigkeit zurückkehren zu sehen – ja, es ist sicherlich besser; es ist das Teil Christi, als des jetzt verherrlichten Menschen, – aber das ist nicht die Handhabung der Gerechtigkeit auf der Erde. In jener Zeit aber, von der die vorliegenden Psalmen reden, wird die Gerechtigkeit tatsächlich auf der Erde gehandhabt werden.
Wer aber ist es, der das zur Ausführung bringen wird? Wer wird die Sache der Frommen in seine Hand nehmen und für den Überrest aufstehen gegen die so mächtigen Übeltäter? Hätte Jehova es nicht getan, so würde die Seele der Frommen bald ins Schweigen hinabgefahren sein. Wie wahr dieses in bezug auf Christum war, insoweit die Menschen in Betracht kommen, und wie völlig Er daher in diese Gedanken und Gefühle des Überrestes eingehen kann, brauche ich wohl kaum zu sagen. Selbst wenn der Überrest fürchtet zu fallen, hilft ihm Jehova, und bei der Menge der Gedanken, ja, inmitten aller Macht des Bösen, erfüllen die Tröstungen Jehovas die Seele mit Wonne. In Vers 20 ruft der Überrest in höchst bemerkenswerter Weise die Gerechtigkeit Jehovas an: sollte der Thron des Verderbens vereinigt sein können mit dem Throne Jehovas? Wenn nicht, so sind die Tage der Herrschaft der Gesetzlosigkeit gezählt. Dass Bosheit vorhanden ist, ist jetzt offenbar. Doch Jehova, die Zufluchtsstätte der Frommen, der Richter der Bösen, wird das Unheil, das die letzteren gestiftet haben, auf ihr eigenes Haupt zurückbringen: Er wird sie vertilgen. So gibt uns dieser Psalm, wie ich schon sagte, einen beachtenswerten und vollständigen Überblick über die ganze Lage des Überrestes und Jehovas Wege mit ihm.
In den Psalmen 95 – 100 schreitet die Einführung des Eingeborenen in den Erdkreis deutlich fort. Doch wird Er hier überall betrachtet als Jehova, der vom Himmel her zum Gericht kommt und schließlich Seinen Platz zwischen den Cherubim einnimmt; und die Welt wird aufgefordert, Ihn an diesem Platz anzubeten. Die Aufrichtung und Segnung Israels in Macht wird in Gegensatz gestellt zu ihrem einstigen Fehlen nach ihrer ersten Befreiung.
Psalm 95
fordert Israel auf, mit Danksagung und Lobgesang vor Jehova zu treten. Die Verse 3 und 4 reden von Seiner Erhabenheit über alle Götter der Nationen und von Seiner Herrlichkeit als Schöpfer. Ja, Jehova ist es, der Israel gemacht hat; Er ist ihr Gott, und jetzt wird ihnen nach so langer Zeit und nach wiederholtem Fehlen ihrerseits Ruhe in Aussicht gestellt. Bis Macht geübt wird im Gericht, also solange es „heute“ heißt – denn wenn das große „Morgen“ angebrochen sein wird, wird nichts Böses, kein aufrührerischer Wille, mehr geduldet werden –, werden sie aufgefordert, ihre Herzen nicht zu verhärten, wie sie es einst in der Wüste getan hatten, als Gott schwur, dass sie nicht in Seine Ruhe eingehen sollten. Jetzt aber hat die Gnade trotz allem noch ein „Heute“ und ladet sie ein, in die Gegenwart Dessen zu kommen, der der Fels ihres Heils ist.
Psalm 96
Psalm 96 fordert im Sinne des „ewigen Evangeliums“ (Off 14, 6. 7) die ganze Erde auf, Jehova zu nahen und Ihn als Gott anzuerkennen, denn „alle Götter der Völker sind Nichtigkeiten“. In Psalm 95 richtet sich die Aufforderung an die Gefährten: „Kommet, lasset uns Jehova zujubeln“; hier dagegen werden solche, die fern sind, aufgefordert: „Singet Jehova!“ Unter allen Nationen soll Seine Herrlichkeit kundgetan werden, denn Er ist es, der alles gemacht hat (V. 5). Dann ist von Seiner Herrlichkeit die Rede, doch wird Er gekannt in Seinem Heiligtum inmitten Israels auf der Erde (V. 7. 8). Aufs neue wird die ganze Erde aufgefordert, Ihn dort anzuerkennen und anzubeten in Übereinstimmung mit der Ordnung Seines Hauses auf der Erde, denn Jehova regiert; der Erdkreis steht fest, und Jehova wird die Völker richten in Gerechtigkeit. Dies bildet die Einleitung zu einer Aufforderung an die ganze Schöpfung, Jehova im Jubelchor zu preisen und vor ihm zu frohlocken, der da kommt, um den Erdkreis zu richten in Gerechtigkeit und die Völker in Seiner Treue.
Psalm 97
In Psalm 97 wird die Ankunft Jehovas Selbst gefeiert: Er hat Seine Macht und Herrschaft angetreten. Die Erde und die vielen Inseln sollen sich freuen. Gewölk und Dunkel sind um Ihn her, denn es handelt sich um die Offenbarung Seiner richterlichen Macht, nicht Seiner Selbst. Gerechtigkeit und Gericht kennzeichnen stets Seinen Thron. Das Feuer des Gerichts geht vor Ihm her und verzehrt Seine Feinde. Jehova, der Herr der ganzen Erde, tritt hervor. Die Himmel verkünden Seine Gerechtigkeit in Macht, denn auf der Erde ist bisher keine Gerechtigkeit. Die Völker sehen Seine Herrlichkeit. Dann finden wir die Wirkung der Gerichte. Alle Götzendiener werden vor Ihm beschämt, alle Herrschaften und Fürstentümer, von den Engeln abwärts, sollen Ihn anerkennen als den Höchsten. Doch noch ein anderes Ergebnis zeigt sich, nämlich Freude und Rettung für Zion. Das Gericht über alles Böse ist ihre Rettung, denn es ist die glorreiche Erhöhung Jehovas, ihres Gottes 2. In Vers 10–12 finden wir den gläubigen Überrest, die Frommen, die die gesegneten Gegenstände dieser Rettung sind: „Licht ist gesät den Gerechten, und Freude den von Herzen Aufrichtigen.“ Das Kommen des Herrn auf die Erde wird also hier in einer vollständigen und charakteristischen Weise geschildert.
Psalm 98
In Psalm 98 feiert Israel auf der Erde das Ergebnis dieses persönlichen Einschreitens des Herrn. „Jehova hat Seine Rettung kundgetan, Er hat Seiner Güte und Seiner Treue gedacht dem Hause Israel.“ Die ganze Erde wird aufgefordert, Jehova als König zu ehren. Hier werden nicht, wie in Psalm 96, die Himmel aufgefordert; sie sind schon erfüllt von Seiner Herrlichkeit, wie auch die Engel bereits aufgefordert worden sind, Ihm zu huldigen; sondern das Meer und seine Fülle, der Erdkreis und seine Bewohner sollen frohlocken vor Jehova, der da kommt, um die Erde, ja, die ganze Welt zu richten.
Psalm 99
In Psalm 99, obwohl er einfachen Charakters ist, finden wir einige wichtige Grundsätze. Jehova regiert jetzt, und zwar nicht nur, indem Er göttliche Macht vom Himmel her übt, sondern indem Er Seine Macht als König auf der Erde errichtet. Er thront jetzt zwischen den Cherubim, wie vor alters in Israel. Er ist groß in Zion und hoch erhaben über alle Völker 3. Ferner liebt der König (der Messias, doch zugleich Jehova) das Recht und stellt die Geradheit fest, indem Er Recht und Gerechtigkeit in Jakob übt. So soll Jehova, der Gott Jakobs, erhoben werden, und zwar in Jerusalem. Doch noch ein anderer rührender und wichtiger Grundsatz tritt dann hervor. Israel hat völlig gefehlt und sich von Jehova abgewandt, es hat den Messias verworfen, ist gerichtet und beiseite gesetzt worden. Doch Jehova hat nie Seine Treue und Gnade aufgegeben. Daher greift der Geist hier zurück und erkennt die Heiligen des Alten Bundes an, die sich durch die Gnade treu erwiesen hatten. (Der Überrest wurde zu allen Zeiten anerkannt, in gewissem Sinne bilden auch wir heute den Überrest, sind alle Kinder Jerusalems, das jetzt verlassen ist, und harren aus unter der Regierung und Züchtigung Gottes, nur dass wir Ihn jetzt als Vater kennen.) „Mose und Aaron unter Seinen Priestern, und Samuel unter denen, die Seinen Namen anrufen“ – die wahren Propheten ohne Amt, wie groß auch das Maß ihrer Treue und der Wirksamkeit des Geistes in ihnen sein mochte –, „sie riefen zu Jehova, und er antwortete ihnen.“ Sie standen durch den Glauben in Beziehung zu Jehova; Er antwortete ihnen, wenn Er auch das Volk Seine Regierung fühlen lassen musste, indem Er ihr verkehrtes Tun rächte. So wird am Ende jeder, der den Namen Jehovas anruft, errettet werden; aber ebenso gewiss wird Jehova ihr verkehrtes Tun strafen. Dies sind die beiden Angelpunkte aller Wege Gottes: Gnade und ein offenes Ohr für den Schrei der Elenden und Armen und andererseits Seine Regierung in Heiligkeit und Wahrheit. (So ist es auch uns gegenüber, nur dass es für uns des Vaters [und doch Gottes] Regierung ist, nachdem wir Errettung und Kindschaft empfangen haben.) So wird das neugeborene Israel der letzten Tage einsgemacht mit den Treuen in Israel vor alters, so wie einst von dem Kinde der Ruth und des Boas gesagt wurde: „Ein Sohn ist der Noomi geboren“ (Ruth 4, 17); ihr früherer Name „Mara“ (Bitterkeit) ist vergessen.
Psalm 100
ist eine Aufforderung an die ganze Erde, Jehova anzubeten mit Freude und Jubel, denn „Jehova ist gut, seine Güte währt ewiglich“. Das ist dem Grundsatz nach jene oft wiederholte große Wahrheit, auf die sich Israels Hoffnung betreffs der Zukunft stützt, aufgrund deren der Glaube fragen darf: „Bis wann?“ Israel ist Jehovas Volk und die Herde Seiner Weide.
Hiermit schließt diese bedeutungsvolle Reihe der Psalmen, die das Kommen Jehovas (Christi) schildern, um Gerechtigkeit und Gericht auf der Erde zu üben und Seinen Thron in Israel aufzurichten.
Fußnoten
- 1 Obwohl der Herr Jesus alles, was Ihm bevorstand, aufs tiefste fühlte, finden wir doch bei Ihm gerade das Gegenteil von diesem Widerstreben des Eigenwillens, da in Ihm vollkommene Unterwürfigkeit war (vgl. Joh 12,27.28; Lk 22,42). Petrus hätte gern Widerstand geleistet, Christus aber sah in dem Kelche den Willen Seines Vaters und trank ihn.
- 2 In Jes 30,32 finden wir dies: „Jeder Streich der verhängten Rute ergeht unter Tamburin und Lautenspiel.“
- 3 Ich habe keinen Zweifel darüber, dass dieses Wort „Völker“ (ammim) nicht in demselben Sinne wie „Nationen“ (gojim) gebraucht wird. Mit „Nationen“ (Ps 98,2 und anderswo) werden solche bezeichnet, die im Gegensatz zu Israel und zu der Erkenntnis Jehovas stehen, während als „Völker“ diejenigen bezeichnet werden, welche zwar nicht Israel Selbst sind, wohl aber in Beziehung zu Israel und also zu Jehova Selbst stehen. Israel wird eine „Nation“ genannt, wenn es gerichtet und verworfen ist (Ps 43,1).