Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)
Psalm 88
Psalm 88 zeigt uns den Überrest unter dem tiefen und schrecklichen Gefühl, dass das Gesetz gebrochen ist, und dass die Zornglut Gottes gerechterweise über diejenigen kommt, die das getan haben. Es handelt sich hier nicht um Leiden von außen oder um Bedrückung seitens der Feinde, sondern um etwas viel Tieferes, das zwischen der Seele und Gott vorgeht. Und obwohl die Gerichte Gottes den Überrest so tief gebeugt und zu dem Bewusstsein seiner Nichtigkeit gebracht haben – und so ist es stets mit der Seele, wenn Gott sie in solcher Weise heimsucht; denn was kann der Mensch dann tun, wenn er auch helfen wollte? –, so war dies doch nur ein Teil der Leiden, betrachtet als der volle Ausdruck des Zornes Gottes. Tod und Zorn sind vielmehr die eigentliche Bürde, die dieser Psalm ausdrückt: die Schrecken Gottes lasten auf der Seele. Auch gibt es hier nichts, was für die Gegenwart ein Trost sein könnte, noch einen Ausblick auf Befreiung wie bei menschlicher Bedrückung, so gering dieser Lichtstrahl für den Glauben auch sein möchte. Der Psalm endigt in Elend, alles, wovon er redet, geht zwischen der Seele und Gott vor, und so muss Gott erkannt werden, bis man die Gnade kennenlernt. Israel unter dem Gesetz muss zu dem Bewusstsein kommen, dass Gottes Zorn auf ihm ruht, weil es das Gesetz gebrochen hat, es ist nicht mehr als gerecht, dass es dahin kommt.
Lasst uns aber auch beachten, dass der Überrest doch zu diesem Gott in Beziehung steht. Er ist befreit, in das Land zurückgebracht, Gott näher gekommen, und daher auch zu dem Bewusstsein gebracht, welche Stellung er in bezug auf diese Beziehung verdient hat. – Das muss wohl beachtet werden, nicht nur im Blick auf Israel, sondern auch auf uns selbst; denn man kann wirklich und aufrichtig einen Gott der Rettung im allgemeinen kennen, ohne dass das Gewissen wahrhaft durchforscht und der göttliche Zorn im Gewissen erkannt und so von ihm abgewälzt worden ist.
„Jehova, Gott meiner Rettung!“ ist die Anrede in diesem Psalm. Das verleiht ihm seine Tragweite und drückt ihm sein wahres Gepräge auf; zugleich macht es ihn um so schrecklicher. Der volle Segen der Freiheit in Gnade mag nicht gekannt sein; aber die Beziehung zu dem Gott der Rettung, zu Ihm Selbst, das Bewusstsein, es mit Ihm zu tun zu haben, ist genügend gekannt, um das Entbehren Seiner Gunst und das Gefühl Seines Zornes zu dem Schrecklichsten alles Schrecklichen zu machen. Bei den Juden unter dem Gesetz mögen die Umstände und die Regierungswege Gottes dem hier beschriebenen Fall noch mehr entsprechen, weil ihre Beziehung zu Jehova mit diesen Dingen verbunden ist. Doch ist die Zornglut Jehovas die große und schreckliche Bürde; und diese Schrecknisse des Allmächtigen, oder genauer Jehovas, die den Geist verzehren, sind der Gegenstand unseres Psalmes. Es ist das Bewusstsein des Zornes unter einem gebrochenen Gesetz, das der Überrest in jenen Tagen haben wird. Leiden hatten sie schon früher erfahren; elend und verscheidend waren sie von Jugend auf gewesen. Das war in der Tat ihr Heil gewesen, als vertrieben aus Jerusalem; aber jetzt wiederhergestellt und insoweit in Verbindung gebracht mit Jehova, dem Gott ihrer Rettung, müssen sie die Tiefen ihrer moralischen Stellung zwischen Gott und ihnen allein fühlen – den Zorn Jehovas, den sie verdient haben. Ohne dies können sie nicht wirklich wiederhergestellt und gerechterweise des Segens teilhaftig werden. Das will nicht sagen, dass der Zorn wirklich auf ihnen bleiben soll. Daher finden wir in diesem Psalm Glauben und Hoffnung, obwohl keinen Trost; denn dieses Elend kommt über sie, nachdem die Gnade ihnen erwiesen und von ihnen erkannt worden ist, nachdem sie wieder in ihre Beziehung zu Gott eingetreten sind mittels jener Gnade, damit sie, wie gesagt, deren Wert fühlen möchten. Gerade wie bei Hiob: nachdem er gesegnet war, lernte er sich erkennen und verstehen, was der Mensch ist, indem er es mit Jehova zu tun hatte, als die Frage der Annahme und der Gerechtigkeit erhoben wurde. Der Zorn wird nicht auf den Treuen bleiben, weil Christus den wahren Kelch des Zornes getrunken hat; aber sie müssen zu dem Verständnis dieses Zornes gelangen, da sie unter Gesetz sind; denn sie haben unter dem Gesetz gestanden und unter ihm Anspruch auf Gerechtigkeit gemacht – wenigstens war diese Frage für sie nicht gelöst worden. In welch wahrhaftiger Weise Christus am Ende Seines Lebens hierin eingetreten ist, brauche ich nicht zu sagen. Es ist die eine wichtige Tatsache, die Seine ganze Geschichte kennzeichnet.
Beachten wir auch in Verbindung mit dem unmittelbaren Gegenstand dieses Psalmes, dass jene Schrecknisse nicht immer auf dem Leidenden gelegen haben. Elend und verscheidend war er immer gewesen, so hatte sich sein Leben abgewickelt. Aber jetzt fühlte er sich verstoßen; selbst Freund und Genossen, die er einst gehabt, waren durch die Hand Gottes von ihm entfernt. So ist es in der Tat mit Christo gewesen. Seine Jünger konnten da nicht mit Ihm in Seinen Versuchungen ausharren. Er bezeugte ihnen, dass sie es bis dahin getan hatten, aber jetzt wurden sie gesichtet wie der Weizen, und die Besten unter ihnen sollten Ihn verlassen oder verleugnen. Das war das Teil unseres Heilandes, nur mit dem Unterschiede gegenüber dem Überrest, dass Er nicht verschont und nicht gerettet wurde, sondern den Kelch trank, wodurch jene dem Tode, den sie fürchten, entrinnen werden. Jenes Teil mag auf ihnen lasten, damit sie die Gerechtigkeit und die Rettung kennenlernen, aber den Kelch des Zornes werden sie niemals trinken. Sie werden erhört und befreit werden auf der Erde. Unser Psalm stellt uns also den Zorn unter dem Gesetz vor; in dem folgenden finden wir Gnade und Gunst in Christo, jedoch noch als etwas Verheißenes. Die tatsächliche Rettung kommt erst im folgenden Buche durch die volle Einführung des Jehova-Messias für die Welt und der Sabbath Israels.