Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)
Psalm 18
Psalm 18 zeigt uns die Verbindung Christi mit der ganzen Geschichte Israels, und insbesondere Christum, wie Er in die Leiden des Todes eintritt; jedoch nicht in die sühnenden Leiden, diese finden wir im 22. Psalm. Wir sehen die Befreiung Israels und das Gericht, das zugunsten Israels am Ende der Tage auf Erden ausgeübt wird, und zwar in seiner Verbindung mit dem Anrecht, das Christus auf dessen Ausführung hat. Gewiss war hierzu die Versöhnung unumgänglich nötig; aber unter diesem Gesichtspunkt werden die Leiden Christi hier nicht betrachtet. Gott hat Sein Wohlgefallen an Ihm; Er antwortet Ihm nach der Reinheit Seines Herzens und errettet den leidenden Überrest, in dessen Leiden Christus eingetreten ist. Mit einem Wort, Christus ist der Mittelpunkt der Rettungen Israels; Er ist die Ursache ihrer Rettung aus Ägypten und auch ihrer völligen und endgültigen Erlösung in Macht in den letzten Tagen; zugleich ist Er ihr persönlicher Retter. Er ist abhängig von Jehova, Er wird erhört, und Seine Leiden werden uns gezeigt. Doch am Ende führt Er durch die Macht Jehovas die Rettung Seines Volkes herbei, und dann ist Er der getreue Zeuge von der Güte Gottes gegen Seinen Gesalbten, David und seinen Samen ewiglich (V. 50). Die Güte, von der hier die Rede ist, ist nicht einfach göttliche Barmherzigkeit, wie wir sie Sündern vorstellen würden, sondern vielmehr eine offenbarte und genossene Gunst und Gnade, so dass dieser Ausdruck selbst zur Bezeichnung der Frömmigkeit im Menschen gebraucht wird. Diese Güte wird besonders im 89. Psalm besungen, wo das Wort auf Christum persönlich angewandt wird, weil all diese Gütigkeiten in Ihm ihren Mittelpunkt finden. Er ist der Fromme (V. 19). Darum werden die Segnungen, die Israel am Ende zuteil werden (und nicht nur Israel, sondern auch allen denen, die sie dann genießen werden), mit demselben Wort bezeichnet, nämlich: „Die gewissen Gnaden Davids“, bestätigt durch einen ewigen Bund, und wie der Apostel (Apg 13, 34) zeigt, tatsächlich durch die Auferstehung Christi sichergestellt. Durch die letztgenannte Stelle wird die im 18. Psalm hervortretende Verbindung jener Gnaden mit den Leiden Christi im Tode sehr deutlich gemacht.
Dieser Psalm versieht uns auch unmittelbar mit einem schriftgemäßen Muster und Beispiel eines sehr wichtigen Grundsatzes, der allen Psalmen, was ihre Natur betrifft, gemeinsam ist, und gibt uns dadurch einen Schlüssel in die Hand zum Verständnis des allgemeinen Charakters und der Form der Psalmen. Wir ersehen nämlich aus 2. Samuel 22, dass David diesen Psalm bei Gelegenheit seiner Rettung aus der Hand aller seiner Feinde und aus der Hand Sauls gesungen hat. Es ist aber klar, dass die Worte des Psalmes sich keineswegs auf irgendwelche Ereignisse aus dem Leben Davids beschränken, oder dass der Geist Gottes hauptsächlich das im Auge hat, was dem schon gesalbten Dulder begegnete, der die Veranlassung zu dem Psalm war. Der Geist Gottes benutzt vielmehr die Umstände (die ein augenblickliches persönliches Interesse für denjenigen haben, dessen Er Sich nur als Prophet bedient) als eine Gelegenheit, um den viel ausgedehnteren Schauplatz vor unseren Blicken zu enthüllen, dessen Mittelpunkt allein Christus sein kann, wodurch Er uns zugleich die Erklärung des Ganzen gibt. Angesichts dieser ausgedehnteren Anwendung des Psalms bilden die unmittelbaren Umstände nur ein Glied (wenn auch vielleicht von hohem Interesse) in der Kette, die hinaufreicht bis zu der vollen Offenbarung Gottes und dem herrlichen Endergebnis Seiner Wege. So war es mit allen Propheten, nur dass diese mehr persönlich weissagten. Der feindliche Einfall Sanheribs z. B. diente als Veranlassung, den Assyrer der letzten Tage auf den Schauplatz zu führen (Jes 37). So fanden die Prophezeiungen allerdings eine höchst bedeutungsvolle Anwendung auf die damalige Zeit und wurden das Werkzeug der derzeitigen Regierung Gottes; aber sie waren zugleich die Offenbarung jener Ereignisse der letzten Tage, die hienieden stattfinden werden inmitten derselben Völker und Nationen, unter denen die Regierung Gottes völlig und endgültig offenbart werden soll. Die Weissagungen sind nicht „von eigener Auslegung“ (2. Pet 1, 20), sondern bilden einen Teil des allgemeinen Planes der Regierung Gottes.
In den Psalmen verschwinden der Schreiber und die unmittelbare Veranlassung zuweilen fast ganz, nie bilden sie den Hauptgegenstand, wenngleich sie in solchen Stellen nicht aus dem Auge verloren werden dürfen, wo die Worte des Psalmes der Ausdruck persönlicher Gefühle und nicht die Offenbarung objektiver Tatsachen sind; im letzten Falle finden die Umstände, in denen sich der Schreiber befand, nur geringe Anwendung. Die Psalmen lassen notwendigerweise den Redenden mehr hervortreten, als dies in anderen Teilen der Prophezeiung der Fall ist; doch wird der Gläubige finden, dass der Heilige Geist Sich der Gefühle des Redenden bedient, um dadurch für andere ein Hilfsquelle zu schaffen. obwohl Er diese Gefühle beherrscht, in dem Schreiber wirkt und ihn durch Seine Macht weit über das hinausführt was die Umstände ihm hätten in den Mund legen können. Diese Gefühle, die in ihrer Natur den Umständen entsprechen, welche den Psalm hervorgerufen haben, waren für den Heiligen Geist nur eine Gelegenheit, um Sich des Schreibers zur Hervorbringung einer göttlichen Urkunde zu bedienen, durch die den Gefühlen in künftigen Tagen die richtige Leitung gegeben, oder die Gefühle Christi, indem Er die Sache Seines Volkes auf Sich nahm, offenbart werden sollten. Diese Gefühle konnten auch die des Schreibers sein, wie es oft der Fall war, wenn es sich einfach um Frömmigkeit handelte; aber in allen Fällen sind die Worte, die uns mitgeteilt werden, eine durch den Heiligen Geist getroffene Vorsorge für künftige Tage, oder aber eine Weissagung, die sich auf Christum Selbst und Seinen Anteil an den Wegen Gottes mit Israel bezieht, und die – wenn wir das Buch der Psalmen im Ganzen betrachten –, sich bis auf die völlige und unverhüllte Verherrlichung der Endergebnisse erstreckt.
Der 18. Psalm behandelt, wie schon gesagt, die ganze Geschichte Israels und redet in einer Weise, als ob die Befreiung von dem Druck der feindlichen Macht bereits vollbracht sei; besonders aber verherrlicht er Jehova Selbst, den Retter, betont indes dabei immer die Abhängigkeit des Redenden von Jehova. Das ist der Gegenstand dieses Psalmes. Dann durchschreitet er, wie es gewöhnlich in den Psalmen geschieht, alle Umstände, welche die Seele zu dem geführt haben, was in den ersten Versen verkündet wird. Christus wird vor unsere Augen gestellt: Er ist umgeben von den Leiden des Todes und bedrängt von der Rotte der Bösen; die Bande des Scheols umringen Ihn, es ereilen Ihn die Falltricke des Todes. Ich zweifle nicht daran, dass wir wörtlich hier das ausgedrückt finden, was David gefühlt hat, wie es auch der 50. Vers zeigt. Doch, wie oben gesagt, dient es nur als Anlas zu dem Psalm; sein Inhalt bezieht sich auf Christum. Wie in Gethsemane geht Seine Seele durch die Schrecken des Todes. Das ist die Grundlage von allem übrigen.
Dann folgen die Ausdrücke der Abhängigkeit und des Flehens. In Seiner Bedrängnis ruft Er zu Jehova und schreit zu Seinem Gott. Jehova hört Seine Stimme als Der, der in der Mitte Israels wohnt, und Sein Geschrei kommt vor Ihn. Dann werden uns die Folgen dieser Erhörung mitgeteilt. Christus stellt hier nur Israel dar; mit der Kirche oder Versammlung haben wir hier nichts zu tun. Die Verse 7 – 16 zeigen uns die Befreiung Israels aus Ägypten durch die mächtigen Taten Jehovas. Aber für Israel gab es noch andere Schwierigkeiten: die Macht seiner Feinde, die ihm dem Fleische nach weit überlegen waren, musste zerstört werden. Auch das ist geschehen, und Israel wurde in ein, reiches Land gebracht.
Dies führt uns zu einem anderen Gegenstand, nämlich zu der Gerechtigkeit, an der Gott Wohlgefallen hat, und die, obwohl sie vollkommen und unbeschränkt nur bei Christo als Mensch auf der Erde zu finden war, doch auch den treuen Überrest Israels kennzeichnen wird, indem die Liebe zu dem Gesetz Gottes eingeprägt sein wird in ihre Herzen. Dieser Gegenstand wird vom Ende des 19. bis zum 26. Verse behandelt. Christus ist die Grundlage von dem allem, doch nimmt Er hier Seinen Platz in Verbindung mit dem Zustand und den Leiden Seines Volkes ein. Er ist Israel im Geiste, und deshalb müssen wir uns auf den Standpunkt des Überrestes und Davids selbst stellen, während der ganze Wert Seiner Vollkommenheit für die Gläubigen vor den Augen Gottes ist, der Vollkommenheit dieses Einen, dessen ganzes Leben in Seiner Verbindung mit dem Überrest vor Gott wohlgefällig war. Denn wenn auch Christus in der Ihm eigenen Vollkommenheit in diese Stellung des Überrestes eintrat, um ihnen den Wert dieser Vollkommenheit vor Gott zu geben, damit auch sie vor Ihm angenehm seien, ist doch der Zustand derer, denen diese Vollkommenheit zugerechnet werden soll, so, wie er uns in diesem Psalm vor Augen gestellt wird. Daher finden wir hier den Ausdruck: „Ich hütete mich vor meiner Ungerechtigkeit“ (V. 23). Dieser Ausdruck ist, wenn es sich um die Frage des buchstäblichen Gebrauchs der Psalmen handelt, sehr wichtig. Christus hätte sagen können: „Ich hütete mich vor Ungerechtigkeit“, aber nicht im persönlichen Sinne: „vor meiner Ungerechtigkeit“. Doch der Geist der Gottesfurcht (der Geist Christi), der so in den Treuen des Überrestes wirkt, bewahrt sie davor, dem Fleische zu folgen. Sie erkennen an, dass, wenn Israel abgewichen ist (und das Volk in seiner Gesamtheit hat das getan), diese Bosheit grundsätzlich die ihrige ist, so sind sie in sich selbst. Allein sie sind davor behütet worden, und das ist Wahrheit im Innern, gerade das, was Gott sucht. Die Regierung Gottes wird uns hier in ihren unwandelbaren Grundsätzen klar vorgestellt (V. 25 u. 26). Da nun Christus die Sache des Überrestes übernommen hat, indem Er Sich mit diesen „Herrlichen der Erde“ vereinigte, so ist der ganze Wert dessen, was Gottes Wohlgefallen an Ihm hervorrief und was sich durch die Gnade in ihnen wieder zeigt, der Grund ihrer Annahme bei Gott, obwohl der eigentliche Grund derselben die Versöhnung ist. In den Gläubigen indes offenbart sich diese Lauterkeit und diese göttliche Natur darin, dass sie vor ihrem natürlichen Wege bewahrt bleiben. Daneben gibt es einen anderen Teil dieser Regierung, nämlich die zärtliche Fürsorge für die Elenden, indem diese gerettet werden und aller Stolz des Menschen erniedrigt wird (V. 27). Die Finsternis wird erhellt werden; ja, für den Gerechten geht das Licht auf in der Finsternis.
Ein anderes Bild enthüllt sich jetzt vor unseren Blicken: Macht tritt auf den Schauplatz zugunsten des Überrestes. Und wie Christus im Anfang des Psalmes an der Trübsal teilnahm und wir dann die Gläubigen in ihrer eigenen Stellung sahen, worin jedoch Christus nicht von ihnen getrennt ist, soweit es Seine Anteilnahme und Seine Verbindung mit ihnen betrifft (denn es handelt sich hier nicht um Einssein; das ist das Teil der Versammlung), so muss auch hier Christus in Person die Macht ergreifen, ähnlich wie wir Ihn im Evangelium Markus sowohl mit dem Säen als auch mit der Ernte beschäftigt sehen, während die dazwischen liegende Zeit verläuft, ohne dass Sein persönliches Eingreifen oder Seine augenscheinliche Fürsorge an den Tag tritt, obwohl die Ernte immer Ihm gehörte. Gottes Wort hat sich durch alles hindurch fest erwiesen, und Jehova Selbst ist ein Schild gewesen allen, die auf Ihn trauen. jetzt aber gibt Er Seinem Gesalbten Kraft und Sieg für Israel (V. 29 bis zum Ende des Psalms). Ohne Zweifel ist es die Sprache Davids, aber in Wirklichkeit haben wir hier die Einführung des Reiches Christi.
Wenn der allgemeine Charakter des letzten Teiles unseres Psalmes verstanden ist, genügen wenige Bemerkungen, um die Einzelheiten hervorzuheben. Der Hauptzug dieses Teiles ist Sieg, ein Sieg, dem nichts zu widerstehen vermag. Nur im 43. Verse sind einige Besonderheiten zu beachten. Drei Klassen von Personen werden hier erwähnt: das Volk, aus dessen Streitigkeiten Christus errettet ist; die Nationen, zu deren Haupt Er gesetzt ist; und dann ein bis dahin unbekanntes Volk, mit dem Er, weil Er Sich in Israel befand, noch nicht in Beziehung gestanden hat, das Ihm dienen wird. Das heißt, der Messias ist errettet aus den Streitigkeiten der aufrührerischen, gottlosen Juden, Er ist zum Haupt der Nationen gesetzt, und dann wird ein bis dahin unbekanntes Volk Ihm dienen, weil es Ihm nunmehr als Volk angehört. Die Unterwerfung wird unmittelbar erfolgen, so überwältigend werden Seine Macht und Herrlichkeit dann sein. Selbst diejenigen, die nicht wirklich aufrichtig sind oder wenigstens keinen Beweis davon gegeben haben, werden Ihm ohne weiteres gehorchen; jedes Knie wird sich vor Ihm beugen. So wird es im Tausendjährigen Reiche sein; Jehova wird wieder anerkannt werden.
Nachdem wir Israel, oder doch die Juden, durch alle Schwierigkeiten des Weges begleitet haben, befinden wir uns jetzt gleichsam wieder vor dem ursprünglichen Gegenstand unseres Psalmes. Den Antichrist finden wir darin nicht; der einzige Ausdruck, der sich vielleicht auf ihn beziehen könnte, ist das Wort „Mann der Gewalttat“ in Vers 48; doch ich denke, dass es sich um einen auswärtigen Feind handelt, weil der Befreite Jehova unter den Nationen lobt, während er die Vernichtung des Antichrists unter den Juden feiern würde.
Es ist beachtenswert, dass Christus hier, obwohl Er von Gott mit Kraft bekleidet ist, als der abhängige Mensch auf der Erde betrachtet wird, sowohl in Seinen Leiden als auch in Seinem Siege. Wir finden Ihn anfänglich (in den Versen 4–6) in Seinen Leiden und Trübsalen, und dann vom 32. Verse an als Sieger; denn obwohl dieser Teil des Psalmes auch wohl auf David angewandt werden kann, ist es in Wirklichkeit doch der Messias, der uns hier vorgestellt wird. Dazwischen, von Vers 7 bis 31, haben wir Israel, zuerst befreit als Nation und dann in Trübsal und Bedrängnis. Sodann werden die Grundsätze der Regierung Gottes vorgestellt, und die Befreiung wird eingeführt. Es ist von hohem Interesse zu sehen, nachdem uns die Person des Messias und Seine Verbindung mit dem gläubigen Überrest vor Augen gestellt ist, wie die ganze Geschichte Israels, von Anfang bis zu Ende, abhängt von Seiner Teilnahme für sie, von Seinem Eintreten in ihre Trübsal, indem Er „in all ihrer Bedrängnis bedrängt war“.