Betrachtung über die Psalmen (Synopsis)
Psalm 9-10
Psalm 9 und Psalm 10 führen uns geschichtlich in die Umstände ein, in denen sich der Überrest in den letzten Tagen im Lande befinden wird. Nachdem in den vorhergehenden Psalmen die wichtigsten Grundzüge dargelegt sind: der Überrest, der Messias, die Trübsal in Israel infolge der Verwerfung des Messias, der Pfad, den Er persönlich kennen gelernt hat, und endlich die Herrlichkeit in dem Sohne des Menschen – finden wir in Ps 9 und Psalm 10 eine Art Vorwort betreffs jener Umstände, eine Darlegung derselben, um uns den Schauplatz vor Augen zu stellen, auf dem die Herzensübungen der Heiligen, stattfinden, sowie die Sachlage, die diese hervorruft, und die Errettung, die durch das Gericht Gottes bewirkt wird.
In den ersten acht Psalmen ist uns der Gerechte, der Messias, nach den Ratschlüssen Gottes, jedoch verworfen, vor Augen gestellt worden, sowie die durch Seine Verwerfung hervorgerufenen Trübsale des Überrestes, in die Er eintritt. Zugleich haben wir gesehen, dass Er infolge Seiner Verwerfung als Sohn des Menschen verherrlicht und über alle Werke der Hände Gottes gesetzt worden ist. Hier jedoch sehen wir uns (wenn wir in die geschichtlichen Einzelheiten der Umstände eintreten) sogleich in die letzten Tage versetzt; der treue Überrest befindet sich unter dem Druck der Gesetzlosen und der Heiden. Der Messias erkennt, im Geiste, in dem unterdrückten Überrest die Gerechtigkeit Jehovas im Gericht an: auf dem Throne sitzend, richtet Gott recht.
Beachten wir im Vorbeigehen auch den großen Unterschied zwischen dem rühmenden Verkünden der Gerechtigkeit Gottes, der, auf dem Throne sitzend, recht richtet und den Gerechten vor dem Unterdrücker schützt, und jener anderen Szene, wo wir Christum auf dem Kreuze erblicken, nicht hienieden beschützt, sondern von Gott verlassen, indem Seine Feinde äußerlich mit Ihm tun konnten, was sie wollten, und der darauf folgenden Aufrichtung der Gerechtigkeit in einer himmlischen Weise, der Gerechtigkeit Gottes Selbst, die sich darin offenbarte, dass Er Ihn zu Seiner Rechten setzte in den himmlischen Örtern. In Verbindung hiermit sagt der Herr in Johannes 16, 10 von dem verheißenen anderen Sachwalter: „Er wird die Welt überführen ... von Gerechtigkeit, weil ich zu meinem Vater gehe, und ihr mich nicht mehr sehet.“ Was diese Gerechtigkeit anlangt, so wurde Christus ganz aus dieser Weit weggenommen, so dass die Jünger, da sie sich noch im Fleische befanden, wie auch die Juden, Ihn nicht mehr sahen. Er hatte Gott verherrlicht und wurde in Gott verherrlicht, gleichwie Gott in Ihm verherrlicht worden war. Die Gerechtigkeit, von der in unseren Psalmen die Rede ist, die den Unterdrücker richtet, findet aber, obschon sie durch Gott ausgeübt wird, der allein in Wahrheit gerecht und mächtig ist, ihren Wirkungskreis und ihren Maßstab in der irdischen Regierung und in der Unterscheidung des Gerechten von dem Gesetzlosen, des Unterdrückten von dem Unterdrücker; sie steht in Verbindung mit der gerechten Regierung Gottes unter den Menschenkindern. Ein klares Verständnis über diesen Unterschied ist der Schlüssel zu dem ganzen Gedankenaufbau in den Psalmen.
Psalm 9
Wenden wir uns jetzt zur näheren Betrachtung des 9. Psalmes. Er zeigt uns Jehova, den Höchsten – die Namen Gottes in Verbindung mit den Juden und der Erfüllung der dem Abraham gegebenen Verheißungen im Tausendjährigen Reiche –, wie Er das Volk durch Gericht von der Unterdrückung seitens der Heiden befreit und den Gesetzlosen vertilgt. Der befreite Jude preist diese Güte, die das Recht und die Rechtssache des Gerechten ausgeführt hat. Der Geist Christi ist es, der hier als der Vertreter der Sache des Gerechten spricht. In Wirklichkeit ist es Sein Recht, und wenn der Jude irgendein Recht hat, so ist es nur durch Ihn; wenn die Gläubigen sich auf dieses Recht berufen, so hat Er ihnen die Worte in den Mund gelegt. Wenn Christus nicht in ihre Trübsal eingetreten wäre und ihnen diese Worte gegeben hätte, so könnten sie in der Tat nicht sagen: „mein Recht“.
Der Demütige und Unterdrückte preist also in diesem leitenden Psalm Gott mit seinem ganzen Herzen unter dem doppelten Namen „Jehova“ und „Höchster“ 1. Die Vernichtung seiner Feinde ist nicht bloß ein menschlicher Sieg; sie straucheln und kommen um vor dem Angesicht Jehovas Elohim. Aber Jehova führt dadurch das Recht und die Rechtssache des Gerechten aus – in Wirklichkeit das Recht und die Rechtssache Christi, der Sich in Seinem erbarmenden Mitgefühl mit ihrer Sache einsgemacht hatte.
Die Verse 6 und 7 enthalten einen sehr wichtigen Grundsatz für den Glauben aller Zeiten, der sich aber am Ende der Tage in Wirklichkeit bewähren wird. Die Anstrengungen des Feindes sind hier nur für eine Zeit; er kann, wenn Gott es erlaubt, das gegenwärtige Wohlergehen zerstören; der Herr aber thront ewiglich. Wir haben während unseres Pilgerganges hienieden nur Gottes Willen zu tun. Am Ende wird doch stets alles so werden und gehen, wie Er es will. Dieser Wille Gottes, den wir auf dem Wege tun, vielleicht unter Trübsal und Leiden, wird gewisslich am Ende triumphieren. Hier in unserem Psalm ist die Zeit gekommen, dass die Verwüstungen für immer ein Ende nehmen sollen: die Städte und ihr Gedächtnis sind zerstört, Jehova aber thront ewiglich.
Wir haben von dem Ausharren Hiobs gehört, das war vorübergehend; aber wir haben das Ende des Herrn gesehen, und dieses ist die Grundlage für den Glauben. Der Glaube wandelt mit Ihm, der sicher und gewiss das Ende in Seiner Hand hat. Er thront ewiglich; Er hat Seinen Thron aufgestellt zum Gericht. Er wird den Erdkreis richten in Gerechtigkeit, wird über die Völkerschaften Gericht halten in Geradheit. Das ist der öffentliche Charakter Jehovas; aber es gibt auch eine besondere, private Seite Seines Charakters, wenn man so sagen darf, deren Offenbarung der Hauptgegenstand dieses Psalmes ist, und die in Verbindung mit dem erwähnten öffentlichen Charakter tatsächlich den Hauptgegenstand aller Psalmen bildet. Beide sind nur dem Glauben bekannt, werden aber im voraus gepriesen. Diese zweite Seite des Charakters Jehovas ist in dem 9. Verse ausgedrückt: „Und Jehova wird eine hohe Feste sein dem Unterdrückten, eine hohe Feste in Zeiten der Drangsal.“ Dies bringt zu allen Zeiten Vertrauen auf Jehova bei denen hervor, die Seinen Namen kennen. Das Einschreiten Jehovas in den Tagen des Überrestes zugunsten derer, die Ihn suchen, wird diesen Namen herrlich machen auf der ganzen Erde.
Noch ein anderer Punkt tritt uns hier entgegen: Jehova, der Sich also offenbart, wohnt in Zion. Seine Taten, d. h. das, was Er tut, um durch Gericht zugunsten des Überrestes Seinen Namen bekannt zu machen, sollen unter den Völkern erzählt werden, um diese dadurch zu lehren, auf Ihn zu vertrauen. Jehova ist also am Ende nach Zion zurückgekehrt. In den Versen 13 und 14 finden wir das Flehen des gläubigen Überrestes, der sich auf die Gnade stützt und nun begehrt, in Zion Gottes Lob zu verkündigen und über Seine Rettung infolge der Gerichte zu frohlocken. In Vers 15 endlich werden diese Gerichte gepriesen, deren sittliche Wirkung in Vers 16 hervorgehoben wird: „Jehova ist bekannt geworden: Er hat Gericht ausgeübt.“
Die Art und Weise, in welcher der 9. Psalm als eine Einleitung zum besseren Verständnis des Zweckes des Buches der Psalmen dient, und seine Anwendung auf die letzten Tage sind augenscheinlich. Hat man dies einmal erfasst, so hat man einen wesentlichen Schritt zum Verständnis des ganzen Buches getan. Vers 17 zeigt, dass die Gesetzlosen 2, wer sie auch sein mögen, ob Juden oder Heiden – zunächst aber wohl die Juden und sodann alle Nationen, „die es nicht für gut fanden, Gott in Erkenntnis zu haben“ (Röm 1, 28) – verworfen und gerichtet werden und durch dieses Gericht ihren Platz im Hades finden. Hierbei erinnert Sich Gott der Armen und Elenden, denn die Vernichtung der Gesetzlosen ist ihre Rettung; deshalb ruft auch der Überrest: „Stehe auf, Jehova!“ Dieser Charakterzug erklärt gewisse Ausdrücke in den Psalmen, auf die ich weiter oben schon hingedeutet habe, nämlich das Verlangen nach Gericht. Man vergleiche hiermit die sittlichen Kennzeichen derer, die in Römer 1 und Römer 2 gerichtet werden. Nur ist dort von dem Zorn die Rede, der vom Himmel her offenbart wird, nicht von dem, der durch die Regierung auf der Erde von Zion ausgeht; auch findet man in dem Briefe an die Römer naturgemäß eine größere sittliche Entwicklung, nicht aber das äußere Gericht der Völker 3.
Psalm 10
schildert seinem Hauptinhalt nach den Zustand der Dinge in den letzten Tagen, bis Jehova zum Gericht aufsteht, und im Besonderen den Charakter des Gesetzlosen (denn an seinem Charakter wird er erkannt), und dieser Charakter wird besonders in dem Juden gefunden. Man vergleiche Jesaja 40–48 mit Jes 49–58; in dem einen Abschnitt ist besonders von Abgötterei und Babel die Rede, in dem anderen von der Verwerfung des Messias – den zwei Hauptsünden (gegen Jehova und Seinen Gesalbten), die das Gericht über die Juden bringen. Der Gesetzlose handelt in seinem Stolz nach dem Sichtbaren, während der Gerechte durch den Glauben an das, was Jehova ist, durch den Glauben an Ihn, in seinem Tun geleitet wird. Der Gesetzlose rühmt sich des Gelüstes seiner Seele und schätzt den glücklich, welchen Jehova verabscheut. Er verfolgt gewissenlos seine Pläne, indem er den Elenden durch List zu verderben sucht, und denkt, dass Gott denselben vergessen habe. Wie gut kann Christus dem Überrest in diesen Umständen helfen! Die Elenden schreien unter dem Druck; warum steht Jehova fern und verbirgt Sich in der Zeit der Drangsal? Freilich sind diese Elenden noch weit entfernt von den Leiden, in denen Christus Sich befand; doch geht sozusagen der Schatten dieser Leiden über sie hin; aber sie können auf Gott hoffen. So rufen sie in Vers 12 zu Gott, dass Er Seine Hand erheben und der Elenden nicht vergessen möge; warum sollte der Gesetzlose Gott verachten? Jehova hat es gesehen und wird vergelten; der Arme übergibt sich Ihm.
Der Schluss des Psalmes, von Vers 16 an, rühmt das Eingreifen Jehovas als Antwort auf das Schreien der Elenden sowie die daraus entstehenden Folgen. „Jehova ist König immer und ewiglich; die Nationen sind umgekommen aus seinem Lande.“ Das ist das öffentliche Gericht. Dann kommt das Geheimnis Jehovas: „Den Wunsch der Sanftmütigen hast du gehört.“ Er hat ihr Herz befestigt, und dann hat Sein Ohr aufgemerkt; und die Folge davon ist das Gericht, indem Er Richter ist für die Waise und den Unterdrückten, damit der Mensch, der von der Erde ist – der, welcher seine Kraft und Hoffnung auf der Erde hat –, hinfort nicht mehr schrecke.
Noch mögen einige andere Bemerkungen über die beiden Psalmen, die wir soeben betrachtet haben, hier Platz finden. Außer dem armen, unterdrückten Überrest, der auf Gott harrt, begegnen wir hier noch zwei, in gewissem Sinne drei Klassen von Personen, zunächst haben wir die Heiden (gojim), die Israel fremd, seine Unterdrücker und Gottes Feinde sind, und dann die Gesetzlosen, die, wie wir gesehen haben, vornehmlich den Juden entstammen. Wenn ich von drei Klassen rede, so denke ich an die zwiefache Weise, in der von den Gesetzlosen die Rede ist. Im allgemeinen wird von dem Gesetzlosen (Einzahl) gesprochen, in Psalm 10 überall, in Psalm 9 ebenfalls, ausgenommen in Vers 17. Hier steht das Wort in der Mehrzahl, um zu zeigen, dass alle Gesetzlosen ihren Platz in dem Scheol finden werden. Wenn es in der Einzahl steht, so bezeichnet es, wie ich glaube, den Charakter; doch zweifle ich nicht daran, dass es in besonderem Sinne einen Gesetzlosen geben wird (harascha), den Antichrist, der aber hier sicher nur nach seinem Charakter bezeichnet wird, nicht durch eine bestimmte Prophezeiung betreffs seiner Person. Die Gesetzlosigkeit ist offenbart, nicht aber der Gesetzlose, und sie ist nicht auf einen einzelnen beschränkt. Die Ähnlichkeit mit den Umständen, in denen Sich Christus in Seiner Verwerfung auf der Erde befand, tritt klar hervor, wie dies bei allen Formen der Gesetzlosigkeit der Fall ist; sogar die Dreieinheit im Bösen (Satan, das Tier und der falsche Prophet) ist im Buche der Offenbarung nachgeahmt. Man findet dort ferner die Stadt des Verderbens, die Braut Christi usw.
Mit Ausnahme des zweiten Psalmes, in dem der Messias der Ratschlüsse Gottes vor unsere Blicke tritt, ist uns bisher der Gerechte in charakteristischen Zügen vor Augen gemalt worden, und deshalb war es auch nötig, den Charakter der ganzen Klasse der Gegner Jehovas und Seines Christus zu zeichnen, obwohl dieser Charakter in einer einzelnen Person besonders zum Ausdruck kommen mag. Der Überrest muss alle nach diesem Charakter beurteilen.
Bemerken wir ferner, dass diese Gesetzlosen mit den Heiden gerichtet werden; sie fallen alle zusammen unter dasselbe Gericht. „Es werden zum Scheol umkehren die Gesetzlosen, alle Nationen, die Gottes vergessen“ (Ps 9, 17). So auch in Vers 5: „Du hast die Nationen gescholten, den Gesetzlosen vertilgt.“ Psalm 9 ist, wie wir gesehen haben, die allgemeine Darstellung des Eingreifens Jehovas im Gericht. In Psalm 10 haben wir besonders die Leiden und Trübsale, durch die der Überrest innerlich zu gehen haben wird. Daher finden wir hier den Gesetzlosen, aber nicht die Nationen, bis zur Ausführung des Gerichts in Vers 16, wo auch von ihnen gesagt wird, dass sie aus dem Lande Jehovas umgekommen sind, um so zu zeigen, dass dieses Gericht dasselbe ist, wie in den allgemeinen Darstellungen des 9. Psalmes. Wie völlig alles dieses der Geschichte der letzten Tage entspricht, braucht kaum gesagt zu werden.
Fußnoten
- 1 Diese Namen sind nicht ohne Wichtigkeit. Der eine ist der beständige Name Gottes in Israel, Sein Gedächtnis von Geschlecht zu Geschlecht (2. Mo 3,15); der andere ist der Name Gottes im Tausendjährigen Reich und wird durch die Gerichte, von denen in dem Psalm die Rede ist, eingeführt (Vgl. Ps 91 und 1. Mo 14,19.20).
- 2 Hier in der Mehrzahl. Der Unterschied ist oft wichtig, da Paulus auch von dem Gesetzlosen spricht (2. Thes 2,8).
- 3 In Offenbarung 4 findet man in den vier lebendigen Wesen sowohl den Charakter der Seraphim als auch den der Cherubim, da jene Wesen, wie ich glaube, die Gerichte ankündigen oder einführen, die sich als solche kennzeichnen, die der heiligen Natur Gottes entsprechen und zugleich Seiner Regierung Ausdruck geben. Allerdings ist Jesaja 6, wo nur Seraphim gefunden werden, auf ein Gericht im Wege der göttlichen Regierung anzuwenden, weil die Gnade einen Überrest bewahrt; aber was der Prophet sieht, ist die Unvereinbarkeit Jehovas mit der Unreinigkeit, mit dem Menschen in sich selbst.