Der zweite Brief an die Korinther
Kapitel 12
Der Zustand der Korinther hatte den Apostel, wie wir sehen, gezwungen, von sich selbst zu reden und an Dinge zu denken, die er längst hinter sich hatte. Er war genötigt, die gewöhnlichen und sicheren Geleise zu verlassen und eine Bahn zu betreten, die dem Fleisch hätte Raum geben können. Er musste es tun um der Schwachheit derer willen, die auf das sahen, was vor Augen war, und um ihnen eine Waffe in die Hand zu geben gegen jene, die sich nach dem Fleisch rühmten. Für ihn selbst aber hatte es keinen Wert. „Zu rühmen nützt mir wahrlich nicht“, sagt er. Und wenn er auf irgendeine Weise gezwungen war, von sich selbst zu reden, so wollte er sich nur seiner Schwachheiten rühmen, seines Unvermögens inmitten der ihn umgebenden Umstände. Dies hatte er schon am Ende des vorigen Kapitels bekannt, aber es kommt jetzt noch ein Ereignis in seine Erinnerung, wobei der Mensch im Fleisch sich nicht rühmen konnte. Das Ich war hier ganz und gar beiseite gesetzt. „Zu rühmen nützt mir wahrlich nicht, denn ich will auf Gesichte und Offenbarungen des Herrn kommen. Ich kenne einen Menschen in Christus, vor vierzehn fahren (ob im Leib, weiß ich nicht, oder außer dem Leib, weiß ich nicht, Gott weiß es), der entrückt wurde bis in den dritten Himmel. Und ich kenne einen solchen Menschen (ob im Leib, oder außer dem Leib, weiß ich nicht, Gott weiß es), dass er in das Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte, welche der Mensch nicht sagen darf“ (Verse 1–4).
Wir haben bei dieser Mitteilung weder an seine wunderbare Bekehrung auf dem Weg nach Damaskus, die vierzehn Jahre früher stattfand, noch an seine in
„Über einen solchen werde ich mich rühmen“, sagt der Apostel, „über mich selbst aber werde ich mich nicht rühmen, es sei denn meiner Schwachheiten. Denn wenn ich mich rühmen will, werde ich nicht töricht sein, denn ich werde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand höher von mir denke, als was er an mir sieht, oder was er von mir hört“ (Verse 5–6). Wie weit war sein Herz davon entfernt, sich selbst zu erheben! So wie er am Ende des vorigen Kapitels, nachdem er die Korinther mit seinen tiefen Wegen hienieden, mit seinen so mannigfach durchlebten Leiden und Gefahren bekannt gemacht hatte, sie an seine Schwachheit erinnert und dieselbe durch eine Tatsache feierlich bezeugt, so richtet er auch jetzt ihren Blick aufs neue darauf, nachdem er von seiner Erhöhung bis zum dritten Himmel gesprochen hat. Er ist ängstlich besorgt, dass ihr Auge irgendwie auf ihm ruhen, ihm als Mensch Kraft und Weisheit zutrauen und Ehre darbringen könnte, wie es die falschen Lehrer so gern für sich in Anspruch nahmen, und kommt deshalb immer wieder auf seine Schwachheiten zurück. Er will nicht anders gekannt sein, damit dem Herrn allein aller Ruhm bleibe. Wie so ganz anders ist die Gesinnung eines fleischlich gesinnten Christen! Ein solcher wünscht, geehrt und selbst höher geachtet zu werden, als man an ihm sieht oder über ihn hört; er ist eifrig bemüht, seine Schwachheiten zu verbergen. Ein wahrhaft demütiges Herz aber, das an sich nur seine Schwachheiten sieht und bekennt, erblickt im Herrn allein alle Weisheit und Macht. Diese Gesinnung finden wir in einer schlagenden Weise in dem Leben des Apostels! Er wollte nicht höher geachtet sein, als was man an ihm sah und über ihn hörte. Er machte die Korinther sogar auf die Merkmale seiner Schwachheit aufmerksam. „Und damit ich mich nicht durch die Überschwänglichkeit der Offenbarungen überhebe, wurde mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, dass er mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe“ (Vers 7). Wie lehrreich ist diese Erfahrung zugleich für uns! Weder des Apostels wunderbare Bekehrung, noch seine öffentliche Berufung des Heiligen Geistes zu seinem apostolischen Dienst; weder seine tiefen Wege hienieden durch Leiden und Gefahren aller Art, noch seine Erhöhung zum Paradiese vermochten das Fleisch zu ändern: es bleibt stets Feindschaft wider Gott. Sicher hatte Paulus eine außerordentliche Mission, einen außergewöhnlichen Auftrag auf der Erde, aber er hatte dies in einem irdenen Gefäß. Und die Tatsache, dass er solche hohe Offenbarungen empfangen hatte, war nicht seine fleischlich-menschliche Kraft; denn das Fleisch bleibt immer Fleisch. Sobald er zum Bewusstsein seines menschlichen Daseins auf der Erde zurückgekehrt war, war dasselbe sicher darauf bedacht, ihn wegen der besondern Gunst, die er genossen, in seinen Augen zu erheben, ihn höher als andere zu stellen, die sich keiner solchen Bevorzugung von Seiten Gottes erfreuen konnten. In der Herrlichkeit, außerhalb des Leibes, Gott nahe zu sein, macht nicht aufgeblasen. Dort ist Christus alles, und das eigene Ich ist völlig vergessen. Die Gegenwart Gottes lässt uns unsere Nichtigkeit fühlen und bringt das Fleisch zum Schweigen. Aber dort gewesen zu sein, das ist eine andere Sache; dann ist das Fleisch beschäftigt, seinen Gewinn daraus zu ziehen, sich dessen zu rühmen, was allein Gott zukommt. Ach, wie traurig steht der Mensch da! Gott aber in Seiner Gnade ist wachsam. Er zügelt das Fleisch durch allerlei Mittel. Er wollte nicht, dass das reich gesegnete Leben des Apostels ein trauriges Ende nehme. Welch eine Unehre würde es für den Namen des Herrn gewesen sein, wenn dieser vortreffliche Knecht Gottes dem Hochmut verfallen wäre! Die Gefahr war bei der Geneigtheit des Fleisches ungeheuer groß. Die Gnade Gottes aber hat Mittel genug, um dies zu verhüten. Darum gab Er dem Apostel einen Dorn für das Fleisch, einen Engel Satans, der ihn mit Fäusten schlug (Vers 7). Täglich musste er es fühlen, wie wenig das Fleisch für den Dienst Gottes zu gebrauchen ist. Das war für Paulus sehr demütigend, aber reich gesegnet; er wurde so stets daran erinnert, in Abhängigkeit vom Herrn zu leben und in Ihm allein die Kraft zu suchen.
Welch eine Gnade, solch einen Gott zu haben, der alle unsere Schwachheiten kennt, unsere Gefahren sieht und in Treue über uns wacht und alles vorsieht, damit wir keinen Schaden erleiden!
Zugleich sehen wir hier den großen Unterschied zwischen Christus und jedem Menschen, wie bevorzugt dieser auch sonst sein mag. Christus konnte auf dem Berg mit Mose und Elia in der Herrlichkeit sein und durch den Vater selbst als Dessen Sohn bezeichnet werden und dann in die Wüste, in die Gegenwart Satans oder unter die Volksmenge zurückkehren; aber immer, so verschieden auch diese Szenen sein mochten, war Er gleich vollkommen. In den Aposteln, besonders in Paulus, finden wir bewunderungswürdige Tugenden, Werke, von denen der Herr sagte, dass sie größer seien als die Seinigen, mannigfache Erfahrungen des Herzens und erstaunliche Reife durch Gnade; mit einem Wort, wir finden in diesem außerordentlichen Diener des Herrn durch den Heiligen Geist eine wunderbare Macht offenbart; aber wir finden dennoch nicht die Gleichheit, die in Christus war. Die Demütigung war nötig, um der Erhebung des Fleisches vorzubeugen und ihn seine stete Abhängigkeit von Gott fühlen zu lassen. Alles, was von uns ist, unser ganzes Ich, ist nur Schwachheit, nur Hindernis.
Es handelt sich bei diesem Dorn, der dem Apostel gegeben wurde, nicht um die Sünde im Fleisch, nicht um eine ungezähmte Leidenschaft oder Begierde, was sogar manche Gläubige haben daraus machen wollen, sondern im Gegenteil, es war etwas, wodurch das Fleisch in Schranken gehalten und gezähmt wurde. Wir können aus
Das Herz des Apostels ist so sehr mit der Verherrlichung des Christus erfüllt, dass er mit Schmerz daran denkt, auch nur einen Augenblick von sich gesprochen zu haben, außer sich seiner Schwachheiten zu rühmen, und ruft deshalb aus: „Ich bin ein Tor geworden, ihr habt mich gezwungen“ (Vers 11). Er war von denen dazu gezwungen worden, die an sich selbst die Vortrefflichkeit seines Dienstes rühmten, und auf dessen Frucht unter ihnen sich der Apostel berufen konnte. „Denn ich sollte von euch empfohlen werden, denn ich habe in nichts den ausgezeichnetsten Aposteln nachgestanden, wenn ich auch nichts bin. Die Zeichen des Apostels sind ja unter euch gewirkt worden in allem Ausharren, in Zeichen und Wundern und mächtigen Taten“ (Verse 11–12). Jene Zeichen, durch welche Gott seinen apostolischen Dienst legitimierte, waren durch die Wirkung des Geistes in reichem Maß unter ihnen hervorgebracht worden, obgleich er selbst nur ein nichtiges Werkzeug war. Wenn sie in irgendeiner Weise hinter andern Versammlungen hinsichtlich des Beweises seines Apostelamtes zurückgeblieben waren, so war es allein darin, dass sie nichts zu seinem Unterhalt beigetragen hatten. Er konnte mit aller Freimütigkeit fragen: „Denn was ist es, worin ihr gegen die andern Versammlungen verkürzt worden seid, es sei denn, dass ich selbst euch nicht lästig geworden bin? Verzeiht mir dieses Unrecht“ (Vers 13). War es denn wirklich ein Unrecht? Jedenfalls war es ein Verlust für sie; denn wenn die dem Apostel dargereichten Gaben der Philipper, die ein duftender Wohlgeruch, ein angenehmes, Gott wohlgefälliges Opfer waren, sich am Tag des Christus als eine überströmende Frucht offenbaren, die ihnen zugerechnet wird (
„Doch es sei so, ich habe euch nicht beschwert, weil ich aber schlau bin, so habe ich euch mit List gefangen“ (Vers 16). Dies war ein anderer Vorwurf seiner Gegner. Wenn sie auch zugeben mussten, dass er selbst niemandem beschwerlich gewesen war, so betrachteten sie dies nur als eine feine List, um den Schein seiner Uneigennützigkeit aufrecht zu erhalten, während er sich durch Verwendung anderer Arbeiter schadlos zu halten gewusst habe. Was aber konnte er ihnen erwidern? „Habe ich euch übervorteilt durch einen von denen, die ich zu euch gesandt habe? Ich habe Titus gebeten und den Bruder mit ihm gesandt, hat etwa Titus euch übervorteilt? Haben wir nicht in demselben Geiste gewandelt, nicht in denselben Fußstapfen?“ (Verse 17–18). Es war in der Tat ein gesegnetes Werk der Gnade, die in jenen Mitarbeitern im Dienst unter den Korinthern dieselbe Gesinnung gewirkt hatte. Der Apostel konnte sich mit aller Freimütigkeit darauf berufen, weil die Korinther selbst davon überzeugt waren; und dies musste jede Anklage derer, die, weil selbst durch schlechte Motive geleitet, auch bei andern dieselben voraussetzten, völlig zu Boden werfen. Doch sicher war es für ein Herz, dem solch schlechte Wege fremd waren, höchst schmerzlich, sich damit zu beschäftigen und sich darin zu rechtfertigen. Aber die Liebe trägt alles; sie geht selbst auf alle die Dinge ein, in denen das schwache und selbstsüchtige Herz umherirrt, und sucht es ohne Ermüden zur Einfalt gegen Christus zurückzuführen.
Die ganze Beweisführung zu seiner Rechtfertigung führt der Apostel nicht durch, weil er sich vor ihnen verantworten, oder sie zu Richtern über sein Verhalten machen wollte. O nein! Er redete stets vor dem Angesicht Gottes in Christus Jesus, Dem er allein verantwortlich war; er hatte bei allem nur ihre Erbauung, die Vollendung ihres christlichen Lebens im Auge (Vers 19). Er fürchtete aber, dass, wenn er zu ihnen käme, sie sich gegenseitig so finden würden, wie sie nicht erwarteten: dass viele da sein würden, die zwar den Namen des Christus bekennten, aber nach den Begierden und Lüsten der sie umgebenden Welt wandelten, und dass er deshalb bei seiner Gegenwart gedemütigt sein und über viele zu trauern haben würde, die zuvor gesündigt und über ihre Missetat nicht Buße getan hätten (Vers 20–21).
Fußnoten
- 1 Nach Galater 4,15: „Denn ich gebe euch Zeugnis, dass ihr, wenn möglich, eure Augen ausgerissen und mir gegeben hättet“ halten wir es für möglich, dass Paulus ein Augenleiden hatte, das ihn im Dienst hinderte und ihn unansehnlich machte.