Der zweite Brief an die Korinther
Kapitel 3
Die beiden letzten Verse des vorigen Kapitels konnten zu der Auffassung Anlass geben, als wollte der Apostel sich und seinen Dienst aufs Neue bei den Korinthern selbst empfehlen. Deshalb bezeugt er, dass er, zumal bei ihnen, keiner solchen Empfehlung bedürfe, und nimmt zugleich Veranlassung, den Gegensatz zwischen dem Evangelium und dem Gesetz ans Licht zu stellen. Dies war umso nötiger, weil die falschen Lehrer, seine Gegner, das Gesetz mit dem Evangelium zu vermengen suchten und dadurch das letztere seiner Kraft beraubten!
Mochten nun andere der Empfehlungsbriefe an die Korinther oder von ihnen nötig haben, mochten sie wegen ihrer Abhängigkeit von Menschen des Lobes der Menschen bedürfen – Paulus bedurfte dies nicht (Vers 1). Er konnte sagen: „Ihr seid unser Brief, eingeschrieben in unsere Herzen, gekannt und gelesen von allen Menschen“ (Vers 2). Die Korinther selbst waren sein Empfehlungsbrief. Sie waren in ihrem Glauben der lebendige Ausdruck seiner Lehre, der deutlichste Beweis von der Macht und der Göttlichkeit des ihm anvertrauten Dienstes. Unauslöschlich in sein Herz eingeschrieben, trug er sie stets mit sich umher. Dies hebt er bei jeder Gelegenheit hervor und ist glücklich, es zu tun, weil ihr Gehorsam offenbar geworden war. Sie waren ein Brief, der von allen Menschen gekannt und gelesen wurde. Ihr Glaube und ihr geistliches Leben stellten dem Apostel, durch den sie bekehrt worden waren, die beste Empfehlung aus, der gegenüber alle Empfehlungsbriefe überflüssig waren. „Die ihr offenbar geworden“, fährt der Apostel fort, „dass ihr ein Brief des Christus seid.“ Sie gehörten Ihm an und waren zugleich Sein Zeugnis in dieser Welt. Durch den Dienst des Paulus und des Timotheus war dieser Brief angefertigt worden, „nicht mit Tinte“, wie die Empfehlungsbriefe, „sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln“, wie das Gesetz, „sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens“ durch die Macht des Heiligen Geistes (Vers 3). Es war also nicht das Werk der Menschen, sondern Gottes Werk, und deshalb hatte auch der Apostel betreffs seines Dienstes völliges Vertrauen. Der in die Herzen gelegte Grund war unerschütterlich, weil er durch den Geist des lebendigen Gottes bewerkstelligt war; ebenso war die Macht des Dienstes des Apostels erwiesen, weil er das Werkzeug gewesen war. Zugleich kann dieser Vers in jedem gläubigen Herzen zu einer ernsten Betrachtung Gelegenheit geben. Ein Brief des Christus zu sein, Ihm anzugehören und, wandelnd in Seinen Fußstapfen, Sein Zeugnis in dieser Welt fortzusetzen, das schließt ein großes Vorrecht und eine ernste Verantwortlichkeit in sich. Der Herr selbst möge dies unseren Herzen tief einprägen!
Was war es nun, das den Apostel in Bezug auf seinen Dienst und dessen Wirkung so gewiss machte? Er kannte die Quelle und die Kraft seines Dienstes. „Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott“ (Vers 4). Auch wusste er, dass seine Fähigkeit zu demselben nicht aus ihm selbst kam, dass sie nicht auf menschliche Weisheit oder Kraft, sondern auf Gott gegründet war. „Nicht dass wir von uns selbst aus tüchtig sind, etwas zu denken, als aus uns selbst, sondern unsere Tüchtigkeit ist von Gott“ (Vers 5). Und Gott hatte ihn zu einem Diener des „Neuen Bundes“ fähig gemacht, „nicht des Buchstabens“, nicht einer äußern Vorschrift, „sondern des Geistes“, der wahren Kraft der Gedanken Gottes, wie der Geist sie mitteilt (Vers 6). „Denn der Buchstabe“, als Richtschnur den Menschen gegeben, „tötet, der Geist aber macht lebendig“, indem Er die Kraft Gottes in Gnade mitteilt. Dies gilt offenbar von allen göttlichen und menschlichen Vorschriften, obgleich es sich hier nur um das Gesetz handelt. Nicht der Buchstabe, sondern der Geist hat Leben gebende Kraft.
Der Dienst des Apostels bestand also darin, die Gedanken und Ratschlüsse Gottes durch die Kraft des Heiligen Geistes den Menschen mitzuteilen, um sich darin zu erfreuen. Er offenbarte die Segnungen des Neuen Bundes, der auf eine unumschränkte Gnade, auf das Blut des Christus, den Mittler dieses Bundes gegründet ist, und mit Israel errichtet werden wird (Vergl. Heb 10, 15–17). Gott wird ihnen dann alle ihre Ungerechtigkeiten vergeben und unter Mitteilung des Heiligen Geistes Sein Gesetz in ihre Herzen schreiben und sie auf diese Weise befähigen, in Seinen Wegen zu wandeln. Mit uns hat Gott keinen Bund gemacht, weil wir Seine Kinder sind und also in einem innigeren Verhältnis zu Ihm stehen, wo von keinem „Bunde“ die Rede sein kann; aber wir genießen alle die Segnungen dieses Neuen Bundes, die durch den Dienst des Apostels angekündigt sind und durch die Kraft des Heiligen Geistes mitgeteilt werden.
Jetzt kommt der Apostel auf den Gegenstand des Dienstes zu sprechen, wodurch der Unterschied zwischen dem Dienst des Neuen Bundes und dem des Gesetzes noch schärfer hervortritt. Dieser war ein „Dienst des Todes“. Er verhieß zwar das Leben, indem er sagte: „Tue dies, und du wirst leben“ (Lukas 10, 28), aber er brachte den Tod. Er konnte das Leben nur denen geben, die das Gesetz erfüllten, denn auf diesem Grundsatz war es angeordnet; aber niemand konnte das Gesetz erfüllen! Es wandte sich an solche, die bereits unter dem Urteil des Todes lagen, an Sünder von Natur, an solche, die das begehrten, was das Gesetz verbot. Es konnte deshalb niemandem das verheißene Leben mitteilen, sondern brachte für alle, die unter dem Gesetz waren, den Tod; es war ein Dienst des Todes. Dennoch war dieser Dienst nicht ohne Herrlichkeit; aber im Vergleich mit der Herrlichkeit, die mit dem Dienst des Geistes verbunden war, war sie schwach und vergänglich. Die alttestamentliche Herrlichkeit verschwand nach und nach ganz, ein Beweis, dass das Gesetz als Mittel der Beziehung zwischen Gott und den Menschen aufhören sollte. „Wenn aber der Dienst des Todes, mit Buchstaben in Steine eingegraben, in Herrlichkeit begann, so dass die Söhne Israels das Angesicht Moses nicht unverwandt anschauen konnten wegen der Herrlichkeit seines Angesichts, die hinweggetan werden sollte, wie wird nicht vielmehr der Dienst des Geistes in Herrlichkeit bestehen?“ (Verse 7–8).
Wir lesen im 2. Buch Mose 34, 29–35, dass das Antlitz Moses, als er mit den beiden Tafeln des Zeugnisses zum zweiten Mal vom Berg Sinai herab kam, glänzte. Dies war nicht der Fall bei seinem ersten Herniedersteigen, wo er die Tafeln zerbrach, ehe er ins Lager kam (Kap. 32, 19). Das zweite Mal aber, als der Herr vor seinem Angesicht vorüber gegangen war und gerufen hatte: „HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit“ (2. Mose 34, 6), da zeigte sich auf seinem Angesicht der Widerschein jener Herrlichkeit, die er gesehen hatte. Die Kinder Israel aber konnten diesen Widerschein nicht ertragen, weil jene Herrlichkeit die Gedanken und Neigungen ihrer Herzen richtete und Angst und Schrecken hervorbrachte, indem sie den Sünder und Ungehorsamen mit Tod und Verdammnis bedrohte. Denn obwohl Gott sie beim ersten Mal in Gnade verschont und ihnen aufs neue Sein Gesetz gegeben hatte, wurde doch die Forderung des Gesetzes in nichts gemindert, sondern völlig aufrecht erhalten, und ein jeder hatte die Folgen seines Ungehorsams zu tragen. Wenn also auch die Gnade mit dem Gesetz vermengt wird, so verliert das Gesetz dadurch nichts an seiner Wirkung; im Gegenteil, es vermehrt die Strafe dessen, der es übertritt.
Da nun der Mensch ein Sünder war, so war das Gesetz nicht allein ein „Dienst des Todes“, sondern auch „der Verdammnis“, durch welche Gott in Seiner Autorität das Urteil des Gesetzes über jede Seele, die es übertrat, bestätigte. Und wenn dennoch „der Dienst der Verdammnis Herrlichkeit ist, so ist vielmehr der Dienst der Gerechtigkeit überströmend in Herrlichkeit“ (Vers 9). Diese Herrlichkeit übertraf jene weit, welche im Vergleich mit ihr nur sehr gering war und völlig in den Hintergrund trat. „Denn auch das Verherrlichte ist nicht in dieser Beziehung verherrlicht worden, wegen der überschwänglichen Herrlichkeit“ (Vers 10). Und dazu kam noch ihr allmähliches Verschwinden und zuletzt ihre gänzliche Beseitigung. „Denn wenn das, was hinweggetan wird, mit Herrlichkeit eingeführt wurde, wie vielmehr wird das Bleibende in Herrlichkeit bestehen!“ (Vers 11).
Das Evangelium offenbart die Dinge, die da bleiben; sein Gegenstand ist die Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus, eine Herrlichkeit, welche die jüdischen Verordnungen nur schwach im Bild darstellten. Dieses Bewusstsein gab dem Apostel große Freimütigkeit in seinem Dienst. Er verhehlte nichts von der geoffenbarten Wahrheit; denn er kannte die Wirklichkeit und den hohen Wert dessen, was sie mitteilte, und war zugleich völlig gewiss, dass er selbst ein Teilhaber jener Herrlichkeit war. Er erwartete mit Sicherheit, sie einmal völlig zu genießen, wozu er schon den Heiligen Geist als Unterpfand empfangen hatte. „Weil wir nun eine solche Hoffnung haben, so gebrauchen wir große Freimütigkeit und tun nicht gleichwie Mose, der eine Decke über sein Angesicht legte, damit die Kinder Israel nicht anschauen möchten das Ende dessen, das hinweggetan werden sollte“ (Verse 12–13). Das Gesetz, unter dem Israel stand, war derart, dass Israel sogar dadurch verhindert wurde, die mit ihm verbundene Herrlichkeit, die doch nur ein Vorbild der besseren und bleibenden Herrlichkeit war, zu erkennen. Das ganze System, das durch die Hand Moses angeordnet war, bedeckte ihre Augen so sehr, dass sie das Ende der darin mitgeteilten Herrlichkeit nicht anschauten, sondern gänzlich unter den Buchstaben fielen, und dies selbst in Bezug auf jenen Teil des Gesetzes, der ein Zeugnis späterer Dinge war. Auf diese Weise wurde aber nach Gottes weiser Anordnung die Wirkung des Gesetzes an denen, die unter ihm standen, völlig offenbart; sein Dienst war ein „Dienst des Todes“ und ein „Dienst der Verdammnis“ (Verse 7 und 9).
Was aber damals bei Israel stattfand, das findet man mehr oder weniger auch heutzutage bei vielen Gläubigen: sie stellen sich selbst unter das Gesetz und müssen nicht allein dessen verdammende Wirkung erfahren, sondern sind auch nicht einmal imstande, die Herrlichkeit des Evangeliums zu erkennen. Die Wirkung des Gesetzes macht sie unfähig, den Anblick der Herrlichkeit zu ertragen! Es gibt nicht wenige, die selbst aus der Liebe des Christus ein Gesetz machen! Sie betrachten diese Liebe einfach als einen neuen Beweggrund, als eine vermehrte Schuldigkeit, Ihn zu lieben, und sie fühlen sich verpflichtet, dieser Schuldigkeit nachzukommen. Sie erkennen weder ihre Befreiung, noch den wahren Charakter ihres Verhältnisses zu Christus. Sie betrachten es nicht als ein Vorrecht, ihn zu lieben, sondern als eine Vorschrift, und stehen also unter einem Gesetz, und folglich, da sie in dessen Erfüllung mangeln, unter der Verdammnis. Der Dienst aber, den Paulus erfüllte, war ganz anderer Art; es war der „Dienst der Gerechtigkeit“ und der „Dienst des Geistes“ (Verse 8 und 9). Er fordert nicht die Gerechtigkeit, um vor Gott zu stehen, sondern offenbart sie, ja schenkt sie! Christus ist diese Gerechtigkeit, und sie ist auf Gottes Seite für uns vollbracht. Der Apostel verkündigte also diese Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und der Heilige Geist ist das Siegel dieser Gerechtigkeit. Er kam hernieder auf Christus als Mensch, weil Er vollkommen vor Gott bewährt war; Er war gerecht. Er kam auf uns hernieder, weil wir in Christus die Gerechtigkeit Gottes geworden sind (Kap. 5, 21).
Es war also der Dienst des Geistes, Dessen Macht im Evangelium wirkte, und welcher denen mitgeteilt wurde, die das vom Apostel verkündigte Wort annahmen. Durch diesen Geist empfingen sie auch das Verständnis über die Gedanken und Ratschlüsse Gottes, wie sie in der Person des verherrlichten Christus offenbart waren, in welchem die Gerechtigkeit Gottes erfüllt wurde und auf ewig für die Glaubenden vorhanden ist. Der Heilige Geist offenbart also durch das Evangelium die Gedanken Gottes in Verbindung mit der Herrlichkeit des Christus und befähigt die Gläubigen, indem Er in ihnen wohnt und wirkt, sich darin zu erfreuen. Unter dem Buchstaben aber, unter dem Israel stand, war diese Herrlichkeit verborgen; deshalb sagt der Apostel: „Aber ihr Sinn ist verstockt worden, denn bis auf den heutigen Tag bleibt beim Lesen des Alten Bundes dieselbe Decke unaufgedeckt, die in Christus weggetan wird. Aber bis auf den heutigen Tag, wenn Mose gelesen wird, liegt die Decke auf ihrem Herzen“ (Verse 14–15). Da die Kinder Israel die mit dem Gesetz verbundene Herrlichkeit nicht anschauen konnten, so haben sie auch das Verschwinden derselben nicht gesehen; das Ende des Alten Bundes ist ihnen verborgen geblieben. Und noch immer bleibt beim Lesen des Alten Bundes die Decke auf ihren Herzen. In Christus aber ist alles unverhüllt; die Decke ist weggenommen. Und sobald Israel zum Herrn zurückkehrt, wird die Decke weggenommen (Vers 16), wie schon vorbildlich in 2. Mose 34 gezeigt worden ist, indem Mose die Decke von seinem Angesicht wegnahm, wenn er ins Heiligtum des Herrn ging. Eine Seele unter das Gesetz bringen, ist gleichbedeutend mit dem: sie vom Herrn wegbringen und sie unter Tod und Verdammnis stellen!
„Der Herr aber ist der Geist, wo aber der Geist des Herrn ist, ist Freiheit“ (Vers 17). Der Abschnitt von Vers 7–16 ist eine Parenthese (Zwischensatz), und deshalb steht der 17. mit dem 6. Vers in Verbindung, wo vom Dienst des Geistes im Gegensatz zu dem des Buchstabens die Rede ist. Sobald Israel zum Herrn umgekehrt sein wird, wird es des Geistes teilhaftig werden, wie dies bei jeder Seele der Fall ist, die in Wahrheit zum Herrn bekehrt wird. Der Herr ist der Geist; Er ist im Geist gegenwärtig; und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Alsdann wird Israel nicht mehr unter dem Joch des Gesetzes und unter der Furcht des Todes und der Verdammnis sein. In Christus finden alle Gläubigen eine vollkommene Freiheit; sie sind im Frieden vor Gott; sie stehen in der Liebe und Gunst Gottes, wie Christus selbst. Jede Hülle ist weggenommen, und vollkommene Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit. Sie schauen den Herrn mit aufgedecktem Angesicht. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (Vers 18). Dieser Geist befähigt uns, diese Herrlichkeit zu verwirklichen und zu genießen. Durch die Kraft des innewohnenden Geistes offenbaren wir immer mehr die Gesinnung und das Wesen des Christus, bis wir endlich, wenn Er kommt, völlig Seinem Bild gleichförmig sein werden.