Der zweite Brief an die Korinther
Kapitel 2
In den beiden letzten Versen des vorigen Kapitels bezeugt der Apostel nochmals feierlich, indem er Gott zum Zeugen anruft, warum er nicht nach Korinth gekommen sei. Es war allein ihrer Schonung wegen. Dies sagte er nicht, wie es leicht mißgedeutet werden konnte, um über ihren Glauben zu herrschen, sondern um Mitarbeiter ihrer Freude zu sein; denn sie standen durch den Glauben. Er wollte alles aus dem Weg räumen, wodurch ihre Freude im Glauben gestört werden könnte; und deshalb war er auch fern geblieben, um nicht bei seiner Gegenwart genötigt zu sein, Zucht an ihnen zu üben. „Ich habe aber bei mir selbst dieses beschlossen, nicht wieder in Traurigkeit zu euch zu kommen“ (Vers 1). Denn die natürliche Folge wäre gewesen, dass er auch sie traurig gemacht hätte. Und „Wenn ich euch traurig mache, wer ist es auch, der mich fröhlich mache, wenn nicht der, welcher durch mich traurig gemacht wird?“ (Vers 2). Es ist so lieblich zu sehen, wie sehr sich der Apostel mit den Korinthern eins macht. Sind sie traurig, so ist auch er traurig; und wo soll er dann Trost finden? Nur die Liebe des Christus ist fähig, solche Gefühle im Herzen zu erwecken. Fern von aller Eigenliebe und Selbstsucht ist sie stets mit anderen beschäftigt. „Und eben dieses habe ich euch geschrieben, damit ich nicht, wenn ich komme, von denen Traurigkeit habe, deren ich mich freuen sollte, indem ich euch allen vertraue, dass meine Freude die euer aller ist. Denn aus vieler Drangsal und Herzensangst schrieb ich euch mit vielen Tränen, nicht dass ihr traurig gemacht werden solltet, sondern dass ihr die Liebe erkennen möchtet, die ich überschwänglicher zu euch habe“ (Verse 3–4). Welch ein Zeugnis seiner Liebe zu den Korinthern waren diese Gefühle und diese Tränen des Apostels, womit er seinen ersten Brief geschrieben hatte! Ihr Zustand erforderte solche ernste Zurechtweisungen; aber der Gedanke, dass sie dadurch traurig gemacht würden, beugte ihn tief danieder. Dies ist stets die Gesinnung eines Herzens, in dem die Liebe des Christus wohnt und wirkt. Diese Liebe leitete den Apostel, als er schrieb; und er erwartete, die Korinther würden erkennen, dass er dies nicht tat, um sie traurig zu machen, sondern weil er sie vor allen so ausnehmend liebte.
Jetzt kommt der Apostel auf die Sache jenes Hurers zurück, von dem im ersten Brief die Rede ist, und die ein Gegenstand tiefer Betrübnis gewesen war. Aber mit welcher Zartheit und Schonung spricht er jetzt davon! Wie sehr ist er bemüht, das Band der Einheit zwischen ihm und der Versammlung zu befestigen! „Wenn aber jemand traurig gemacht hat, der hat nicht mich traurig gemacht, sondern in gewissem Maß (damit ich nicht beschwere) euch alle“ (Vers 5). Er drückt die Überzeugung aus, dass das, wodurch sein Herz beschwert und besorgt gewesen war, auch das ihrige niedergebeugt habe; und dies hatten die Korinther durch ihr ernstes Verfahren gegen jenen Gefallenen bewiesen. Sie waren zum Teil alle durch jene Sünde traurig gemacht worden, was der Apostel voraussetzt und besonders hervorhebt, um sie nicht zu beschämen. Er stellt sie mit sich auf gleichen Boden; sie haben mit ihm dieselbe Gesinnung in jener Sache an den Tag gelegt. Die Zucht aber, die durch die Gesamtheit der Korinther ausgeübt worden war, hatte den so tief Gefallenen gedemütigt; der Zweck des Ausschlusses war erreicht. Darum ermahnt er sie, ihn wieder aufzunehmen und zu trösten, weil er in Gefahr war, durch die Zucht der Vielen überwältigt zu werden. „Genügend ist einem solchen diese Strafe, die von den Vielen ist, so dass ihr im Gegenteil vielmehr vergeben und ermuntern solltet, damit nicht etwa ein solcher durch übermäßige Traurigkeit verschlungen werde. Deshalb ermahne ich euch, Liebe gegen ihn zu betätigen“ (Verse 6–8). Eine sehr beherzigenswerte Sache! Sobald eine Sünde offenbar wird und keine wahre Demütigung vorhanden ist, muss die Zucht ausgeübt werden, nicht zu dem Zweck, den Schuldigen zu bestrafen, sondern um ihn wieder herzustellen. Sobald deshalb die Demütigung erfolgt ist, soll die Zucht aufhören.1 Der Eifer für die Heiligkeit des Herrn und die Liebe zu dem Schuldigen sind die einzigen Motive, welche die Herzen derer leiten sollen, welche die Zucht handhaben.
In Bezug auf die Ausübung der Zucht hatte Paulus die Bewährung der Korinther kennen gelernt. Sie hatten ihren Gehorsam gezeigt, und jetzt erwartete der Apostel dasselbe bezüglich der Wiederzulassung (Vers 9). Und wenn die Korinther dem Schuldigen vergaben, so tat dies auch der Apostel. Er wünschte mit der Versammlung in völliger Übereinstimmung zu handeln, damit Satan keinen Anlass nehmen konnte, um zwischen ihm und den Korinthern Uneinigkeit zu säen (Verse 10–11). Der Apostel kannte die Gesinnung des Feindes; er wusste, zu welchem Zweck er diese Sache so gern benutzt hätte. Darum erklärt sich der Apostel sowohl bei dem Ausschluss, als auch bei der Wiederzulassung als eins mit der Versammlung. Und der Apostel vergab in der Person des Christus. In Wahrheit kann in beiden Fällen das Handeln der Versammlung nur dann gesegnet sein, wenn die Versammlung es in völliger Gemeinschaft mit Christus tat.
Weiter stellt der Apostel seine Liebe zu den Korinthern auf eine noch deutlichere Weise ans Licht. Er macht sie mit den Gefühlen bekannt, die ihretwegen sein Herz auf der Reise überwältigt hatten. Anstatt persönlich nach Korinth zu kommen, hatte er Titus mit einem Brief dorthin gesandt; er selbst aber war durch Kleinasien gereist und nach Troas gekommen, wo er dem Titus zu begegnen hoffte. Als er aber diesen dort nicht fand und wegen der Korinther sehr bekümmert war, hatte er keine Ruhe in seinem Geist, um dort das Werk des Herrn zu vollbringen, obgleich der Herr ihm dort eine Tür geöffnet hatte. Er nahm Abschied und reiste weiter nach Mazedonien, wo er dann, wie wir später hören, den Titus wirklich fand (Verse 12+13). Zugleich aber war er innerlich bewegt, dass er Troas verlassen hatte; denn für ein Herz, dem Christus alles ist, ist es höchst schmerzlich, eine Gelegenheit zur Verkündigung der frohen Botschaft nicht benützen zu können, besonders, wenn der Herr die Türe öffnet und die Herzen geneigt macht, das Wort anzunehmen oder es doch zu hören. Die Tatsache, dass er Troas verließ, war jedenfalls ein schlagender Beweis seiner Liebe zu den Korinthern und seiner starken Verbundenheit mit ihnen. Und er teilte ihnen diese Umstände mit, um in ihren Herzen dies Band der Liebe noch mehr zu befestigen. Beim Gedanken an die Unmöglichkeit, das Evangelium in Troas zu verkündigen, tröstet er sich mit dem Bewusstsein, dass Gott ihn allezeit im Triumphzuge umherführe und ihm, wo es auch sei, aufs neue Gelegenheiten bot, das Evangelium des Christus kundzutun. „Gott aber sei Dank, Der uns allezeit im Triumphzuge umherführt in Christus, und den Wohlgeruch Seiner Erkenntnis an jedem Ort durch uns offenbart“ (Vers 14). Und das Evangelium, das Zeugnis von Christus, das Gott durch ihn ausbreitete, vergleicht er mit dem Wohlgeruch der Gewürze, die bei den Triumphzügen der weltlichen Sieger jener Zeit verbrannt wurden, bei welcher Gelegenheit etliche Gefangene sterben mussten und andere freigelassen wurden, indem er sagt: „Denn wir sind Gott ein Wohlgeruch des Christus in denen, die errettet werden, und in denen, die verloren gehen; den einen ein Geruch des Todes zum Tode, den andern ein Geruch des Lebens zum Leben“ (Verse 15–16). Überall, wohin Paulus kam, verbreitete das Evangelium diesen Wohlgeruch, der für die einen, die in ihren Sünden beharrten, ein Geruch des Todes, und für die anderen, die es annahmen, ein Geruch des Lebens wurde. Die wahre Verkündigung des Evangeliums bleibt also nie ohne Wirkung und dies macht alle, die mit der Verkündigung desselben betraut sind, verantwortlich, es nach dem Willen Gottes zu offenbaren. Und beim Gedanken an die große Wichtigkeit und den Wert des Evangeliums, und im Blick auf die Schwachheit dessen, der es verkündigt, ruft der Apostel aus: „Wer ist dazu tüchtig? Denn wir verfälschen nicht, wie die Vielen, das Wort Gottes, sondern als aus Lauterkeit, sondern als aus Gott, vor Gott, reden wir in Christus“ (Vers 17). Der Apostel arbeitete in wahrer christlicher Lauterkeit. Was er verkündigte, kam aus Gott; und er verfälschte es nicht, sondern er verkündigte es vor Gott und in der Kraft und in der Abhängigkeit von Christus.
Fußnoten
- 1 In unsern Tagen sind viele Christen der Meinung, dass die Wiederaufnahme eines Gefallenen nicht eher erfolgen dürfe, bis sich dieser seiner Vergebung völlig bewusst und sein Herz wieder glücklich sei; allein man verkennt dabei die wahre Stellung der Versammlung in ihrer Einheit in Christus. Erst die Wiederzulassung eines Schuldigen von Seiten der Versammlung kann für jenen das Zeugnis der Vergebung sein und das, wodurch er nun wieder wahrhaft glücklich werden kann. Paulus sagt den Korinthern nicht: „Nehmt ihn auf, denn sein Herz ist wieder glücklich“ sondern: „damit er nicht etwa durch übermäßige Traurigkeit verschlungen werde.“ Es handelt sich hierbei allein um die Frage, ob der Schuldige gedemütigt ist.