Der Brief an die Philipper
Kapitel 2
Der einleitende Vers des 2. Kapitels spielt wohl auf die Unterstützung der Philipper für Paulus an, die er durch Epaphroditus empfangen hatte (4,18). Diese Gaben waren für ihn ein sehr erfrischender Ausdruck ihrer Liebe und Zuneigung und der Gemeinschaft des Geistes, die zwischen ihm und ihnen bestand. Dadurch war sein Herz in allen seinen Bedrängnissen mit Ermunterung und Trost erfüllt worden. Neben dieser unmittelbaren Bedeutung des ersten Verses wollen wir jedoch seine allgemeinere Bedeutung nicht übersehen. Christus ist die Quelle des Trostes, und die Liebe ist es, die Ermunterung hervorbringt; und der Geist Gottes, den alle wahren Gläubigen gleichermaßen besitzen, ist der Ursprung der Gemeinschaft. Diese Tatsachen gelten für alle Zeiten und für uns alle.
Da diese Dinge Tatsachen sind, benutzt der Apostel sie zur Veranschaulichung bei seiner Ermahnung. Das viermal im ersten Vers wiederholte „wenn“ bedeutet eigentlich „weil“. Weil dies so ist, bittet er sie, seine Freude bis zum Überfließen zu erfüllen, indem sie gleichgesinnt seien und sich auch von der kleinsten Spur der Uneinigkeit frei machten.
Die Erfahrung zeigt ja, daß Zwietracht ein Werk des Fleisches ist und zu den Dingen gehört, die mit am letzten verschwinden. Dieser Abschnitt zeigt, wie sehr der Apostel danach verlangte, daß diese Zwietracht aus der Mitte der Philipper verschwinden möge. Wir wollen die Vielfalt der Ausdrücke beachten, mit denen er dieses Verlangen beschreibt.
Zuallererst sollten sie einerlei gesinnt sein. Offensichtlich ist es eine gewaltige Sache, wenn Gläubige alle gleich denken, aber wir müssen auch auf die Gesinnung achten, die dieser Denkweise zugrundeliegt. Wenn sie falsch ist, wird auch die Übereinstimmung im Denken keine Garantie dafür sein, daß Zwietracht verhindert wird. Deshalb fügt er hinzu: „dieselbe Liebe habend.“ Nur Liebe kann das bewirken, wovon er als nächstes spricht, „einmütig“ zu sein (wörtlich: „zu einer Seele vereinigt“). Das wiederum führt dazu, „eines Sinnes“ zu sein.
Wenn wir zu Kapitel 3 kommen, finden wir, daß Paulus sagt: „Eines aber tue ich.“ Er war jemand, der sich immer auf eins ausrichtete, der einem nachjagte, statt seine Kräfte beim Trachten nach vielen Dingen zu vergeuden. Hier ermahnt er andere, alle eines Sinnes zu sein. Nur der, dessen Sinn sich auf das eine konzentriert, das allein bedeutend ist, kann auch durch das Trachten nach dem einen Ziel gekennzeichnet sein. Es ist nicht schwierig zu erkennen, daß es nicht mehr viel Platz für Zwietracht gäbe, wenn unser aller Sinn auf das eine gerichtet wäre und wir unter der Herrschaft der gleichen Liebe stünden.
Doch der Apostel hat noch mehr zu diesem Punkt zu sagen. In Vers 2 spricht er über die großen positiven Elemente, die zu praktischer Einheit führen, aber er möchte auch darauf hinwirken, die bösen Elemente auszuschließen, die sie zerstören. Daher Vers 3. Es ist durchaus möglich, daß wir viele Dinge tun, die an sich völlig richtig sind, die wir aber aus Streitsucht tun, wie wir bei der Betrachtung von Kapitel 1 gesehen haben, wo wir von Brüdern gelesen haben, die Christus „aus Neid und Streit“ predigten. Auch eitler Ruhm ist eine böse Wirkung des Fleisches, die besonders tief im gefallenen Menschenherzen nistet. Wie oft haben wir getan, was zwar richtig war, doch mit dem heimlichen Wunsch, von unseren Mitgeschwistern Anerkennung und Ehre zu bekommen? Wir wollen unserem Gewissen Zeit geben zu antworten; dann werden wir die scharfe Schneide dieser Worte fühlen.
Ruhmsucht ist die Wurzel von viel Streit und Zwietracht; sie kann sogar solche Christen befallen, die sonst geistlich gesinnt sind. Das Gegenteil von eitlem Ruhm ist eine demütige Gesinnung, die uns andere höher achten läßt als uns selbst. Diese Demut führt zu Weitherzigkeit, wie sie in Vers 4 beschrieben wird. Wenn ich mich um mich selbst drehe und nur meine eigenen Interessen und meine eigene Ehre verfolge, sehe ich natürlich nur auf das Meine. Wenn ich aber auf Christus ausgerichtet bin und Seine Interessen und Seine Ehre verfolge, sehe ich ebenso auch auf das der anderen. Und wenn das der anderen Seiner Ehre mehr dient als das Meine, werde ich auch mehr auf das der anderen sehen als auf das Meine.
An dieser Stelle scheint der Apostel zu erwarten, daß die Philipper ihn fragen könnten: „Du hast uns ermahnt, einerlei gesinnt zu sein, einmütig, eines Sinnes. Doch wie sollen wir das machen? Es ist gar nicht zu leugnen, daß es bei uns Unterschiede im Denken und Beurteilen gibt. Wessen Ansichten sollen denn den Ausschlag geben?“
Seine Antwort lautet: „Diese Gesinnung sei in euch“ – die Gesinnung, „die auch in Christus Jesus war.“ Unter „Gesinnung“ haben wir hier nicht eine Ansicht oder Meinung zu verstehen, sondern die gesamte Denkweise. Die Denkweise Christi sollte uns prägen, und das geht wesentlich tiefer. Wenn Seine Denkweise bei uns vorhanden ist, werden wir vor Zwietracht bewahrt, selbst wenn wir nicht in allem völlig übereinstimmen. Das zeigen uns die Verse 15 und 16 in Kapitel 3.
Was war denn die Gesinnung, die in Christus Jesus war? Die Antwort liegt in den drei Worten, die wir in Vers 8 finden: „sich selbst erniedrigte“. Die Gesinnung, die in Christus war, ist der Gesinnung Adams genau entgegengesetzt. Die Worte des Herrn in Matthäus 23,12 zeigen das deutlich. Die Gesinnung Adams war auf seine Selbsterhöhung gerichtet, und als Folge davon fiel er tief. In Christus zeigte sich eine Gesinnung der Selbstaufopferung und Selbsterniedrigung, und wie wir in diesem Abschnitt sehen, wurde Er hoch erhoben (V. 9).
In Vers 6 beginnen wir bei erhabenen Höhen. Er war in Gestalt Gottes. Unsere Stammeseltern erlagen der Versuchung, nach etwas zu greifen, was weit über ihnen lag – zu werden wie Gott, wie 1. Mose 3,5 bezeugt. Diese Stellung kam ihnen nicht zu, und daß sie danach griffen, war nichts als Raub. Nichts davon finden wir bei unserem Herrn. In Seinem Fall war die Gleichheit mit Gott nichts, wonach Er hätte greifen können. Sie gehörte Ihm von Anfang an, denn Er war Gott. Er konnte nicht höher sein, als Er schon war. Vor Ihm lag nur die Alternative, zu bleiben, wie und wo Er war, oder sich in Demut zu erniedrigen.
Gott sei gelobt: Er wählte letzteres. In Vers 7 beginnt diese wunderbare Geschichte. Obwohl Er ursprünglich in der Gestalt Gottes war, nahm Er doch eine andere Gestalt an, die Gestalt eines Knechtes, indem Er „in Gleichheit der Menschen geworden ist“. Und das bedeutete, daß Er sich selbst zu „nichts machte“ oder „sich selbst entäußerte oder entleerte“ (siehe Fußnote in der Elberfelder Übersetzung).
Als sich ungläubige Bibelkritiker vor Jahren in Widerspruch zu den Worten unseres Herrn setzten, erfanden sie die „kenosis-Theorie“, um an der Ablehnung Seiner Worte festzuhalten, aber Ihm zugleich eine gewisse Ehre und Hochachtung erweisen zu können, anstatt Ihn als Betrüger ganz ablehnen zu müssen. Kenosis ist eine Wortprägung, die von dem griechischen Wort abgeleitet ist, das hier gebraucht wird, wörtlich „entleert“ bedeutet und mit „sich selbst zu nichts machte“ übersetzt ist. Diese Theorie besagt, daß Christus sich selbst so völlig alles Göttlichen entäußerte, daß Er ein Jude wurde, der ebenso unwissend war wie die meisten Juden, die zu Seiner Zeit lebten. Der Kritiker des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts fühlt sich also durchaus in der Lage, indem er diese Theorie aufstellt – vermeintlich gestützt durch die moderne Gelehrsamkeit –, dem Sohn Gottes zu widersprechen oder Ihn zu berichtigen.
Das ist die „kenosis-THEORIE“, ein Netz, gesponnen von kritischen Spinnen aus ihrem eigenen ungläubigen Herzen heraus; sie sind nämlich die Lügner und nicht der Sohn Gottes. Ein Netz, das – so muß man leider sagen – den Absichten des Teufels nur allzu gut gedient hat. Wie viele unvorsichtige Fliegen haben sich schon darin gefangen! Es hat ihnen nämlich eine Begründung dafür gegeben, genau das denken zu können, was sie ohnehin denken wollten.
Wenn wir uns auch mit Abscheu von dieser üblen Theorie abwenden, wollen wir doch nicht die Tatsache übersehen, daß es eine wirkliche „kenosis“ gegeben hat, eine wirkliche Entäußerung, denn davon spricht diese Stelle. Wenn wir begreifen wollen, was das bedeutet, schlagen wir die Evangelien auf, um zu sehen, was Sein Menschsein in sich schloß, so wie wir auch sehen, was Seine Gottheit in sich schloß, die fortwährend durch Seine Menschheit hindurchschien. Um zu verdeutlichen, was wir meinen, führen wir drei Beispiele an.
Als Mensch wurde der Herr Jesus mit dem Heiligen Geist und mit Kraft gesalbt. Deshalb handelte Er nicht einfach in der Macht Seiner eigenen Gottheit, sondern in der Kraft des Geistes. So wirkte Gott durch Ihn (Apg 10,38; Lk 4,14; Apg 2,22).
Er ist der Schöpfer, wie Kolosser 1,16 so einfach darlegt, doch Er erklärte als Mensch, es stehe Ihm nicht zu, die Sitze im kommenden Reich zu vergeben (Mt 20,23).
Damit stimmt überein, daß Er es ablehnte, aus sich selbst heraus zu sprechen und zu handeln. Er schrieb alles dem Vater zu (Joh 5,19.27.30; 14,10).
Wenn wir das überdenken, sehen wir sofort, daß Er sich selbst so sehr zu nichts machte, daß Er wirklich Knechtsgestalt annahm. Wenn das nicht so wäre, wären wir wohl zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die Worte „und Knechtsgestalt annahm“ lediglich bedeuteten, daß Er nur in äußerlicher Weise die Stellung eines Knechtes eingenommen hätte, so wie der Papst in Rom, wie man sagt, zuweilen die Stellung eines Knechtes einnimmt, indem er die Füße gewisser armer Bettler wäscht. Er tut das der Form nach, aber man sorgt dafür, daß es in Wirklichkeit in höchst eleganter und reicher Umgebung geschieht. Als unser Herr Jesus Knechtsgestalt annahm, nahm Er sie mit all der Wirklichkeit an, die das in sich schloß.
Vers 8 führt die Beschreibung Seiner Erniedrigung zum Höhepunkt. Wenn Vers 7 uns das erstaunliche Hinabsteigen von der umfassenden Herrlichkeit der Gottheit zu dem Zustand und dem Platz des Menschen beschreibt, so zeigt uns dieser Vers ein weiteres Hinabsteigen des Menschen, der dem HERRN gleich war, bis zum Tod am Kreuz. Sein ganzes Leben war dadurch gekennzeichnet, daß Er immer weiter hinabstieg und sich immer weiter erniedrigte bis zum Tod, und zwar zu einem äußerst schändlichen und schmerzvollen Tod, dem Tod am Kreuz.
Seine Gesinnung war es, hinabzusteigen, und diese Gesinnung sollte auch in uns sein. Nur weil wir aus Gott geboren sind und den Geist Gottes haben, ist es uns möglich, in dieser Weise zu denken. Gott sei Dank, daß es für uns möglich ist, so gesinnt zu sein. So laßt es uns auch tun. Wir sind dazu verpflichtet. Wir wollen das so annehmen und uns selbst entsprechend beurteilen.
Den drei Versen, die Seine Erniedrigung in Einzelheiten beschreiben, folgen nun drei Verse, die Seine Erhöhung nach dem Ratschluß Gottes, des Vaters, verkündigen. Immer noch nimmt Er alles aus der Hand des Vaters an, und Ihm wird ein Name verliehen, der über jeden Namen ist. An dieser Stelle wird „Name“ wohl in derselben Bedeutung gebraucht wie in Hebräer 1,4. Hier geht es nicht um einen bestimmten Namen wie „Herr“ oder „Christus“ oder „Jesus“ oder irgendeinen anderen Namen, sondern es geht es vielmehr um Seinen Ruhm oder Sein Ansehen. Der einst verachtete und verworfene Jesus hat solch einen Ruhm und solch ein Ansehen, daß sich schließlich jedes Geschöpf vor Ihm beugen und Ihn als Herrn bekennen muß. Und wenn das ganze Universum versammelt sein wird, um Ihm Ehre zu erweisen – ob sie das nun freudig und freiwillig tun oder erzwungenermaßen –, wird alles zur Ehre Gottes, des Vaters, ausschlagen.
In Vers 12 verläßt der Apostel dieses erhabene Thema und kommt auf seine Ermahnung zurück, die in Kapitel 1,27 begann. Er wünschte, daß ihr Lebenswandel in allem dem Evangelium entspräche und daß sie sich durch hingebungsvolle Arbeit für das Evangelium in Einmütigkeit und durch Standfestigkeit angesichts der Anfeindungen auszeichneten. Damals, als Paulus bei ihnen ein- und ausging, waren sie allem, was er ihnen vorstellte, gehorsam gewesen. Jetzt, da sie seines persönlichen Beistands beraubt waren, sollten sie, wenn möglich, seinem Wort noch mehr gehorchen. Denn von außen bedrohten sie Gefahren, und innen war die versteckte Gefährdung durch die Zwietracht, und deshalb sollten sie mit doppelter Energie die Gesinnung, die in Christus Jesus war, suchen und offenbaren. Dadurch würden sie ihre eigene Errettung von alledem bewirken, was sie jetzt bedrohte. Und das sollten sie mit Furcht und Zittern tun, indem sie sich ihrer eigenen Schwachheit bewußt wären. Petrus hatte einmal gemeint, er könne seine eigene Errettung ohne Furcht oder Zittern bewirken, und wir wissen, was dabei herauskam.
Das ist offensichtlich die einfache Bedeutung dieses oft gebrauchten und mißbrauchten Verses. Kann nicht jeder von uns ihn auf sich selbst anwenden? Ganz sicher, wenn wir es wollen. So mache Gott uns willig, das auch zu tun. Wir brauchen nicht davor zurückzuschrecken, weil auch Vers 13 da steht. Wir werden zwar aufgefordert, unser eigenes Heil zu bewirken, aber Gott ist es, der in uns wirkt, sowohl das Wollen als auch das Wirken, nach Seinem Wohlgefallen. Wir wollen das beachten. Gott wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, und das Wollen kommt zuerst. So werden Gottes Werk und unser Werk als harmonisches Zusammenwirken betrachtet. Dabei hat das Werk Gottes gegenüber dem unseren immer den Vorrang, sowohl zeitlich als auch in seiner Bedeutung. Aber das steht nicht da, damit wir Fatalisten werden. Vielmehr wird unser Wirken zuerst erwähnt und in seiner ganzen Verantwortung auf uns gelegt. Die Tatsache, daß Gott wirkt, soll zu unserer Ermunterung und zu unserem Ansporn dienen.
Wir sind also von Gott gelehrt, Seinen Willen zu lieben, und so tun wir ihn, und wenn die Gesinnung Christi in uns ist, tun wir ihn in der rechten Weise. Nicht widerwillig mit Murren und zweifelnden Überlegungen, sondern als untadelige, lautere und unbescholtene Kinder Gottes, die Gottes Kennzeichen tragen, dessen Kinder wir sind. Die Menschheit ist ein verdrehtes und verkehrtes Geschlecht geworden, und unser Leben sollte den denkbar schärfsten Gegensatz dazu bilden. Nur so werden wir Lichter in der Finsternis dieser Welt sein.
Das Wort, das hier mit „scheinen“ übersetzt ist, wird für das Aufgehen oder die Erscheinung von Himmelskörpern gebraucht. Das ist eine bemerkenswerte Gedankenverbindung. Wir sollen als himmlische Lichter am Firmament dieser Welt scheinen. Tun wir das? Das können wir nur, wenn wir uns völlig von dem verdrehten und verkehrten Geschlecht dieser Welt unterscheiden, wie uns der erste Teil des Verses zeigt. Nur dann können wir vor anderen das Wort des Lebens wirkungsvoll darstellen.
Leben muß vorhanden sein und auch das Zeugnis unseres Mundes, wenn wir das Wort des Lebens darstellen wollen. Das zeugnishafte Wort wird sehr häufig für andere zum Wort des Lebens, wenn es zuerst in das Leben des Zeugen umgesetzt worden ist. Wenn das bei seinen geliebten Philippern erreicht wäre, hätte Paulus die Gewißheit, daß er nicht vergeblich an ihnen gearbeitet hatte. Dann könnte er sich genügend Gründe vorstellen, sich an dem Tag zu rühmen, wo Christus erscheinen und Sein Tag beginnen würde. Dann könnte er das Werk Gottes in ihnen betrachten, von dem er in Kapitel 1,6 gesagt hatte, daß Gott es zu seiner Krönung und Vollendung führen würde.
Nachdem er den Philippern das erhabene Beispiel des Herrn Jesus vorgestellt hat, der „gehorsam wurde bis zum Tode“, und nachdem er sie zum Gehorsam, nämlich das Wohlgefallen Gottes von Herzen zu erfüllen, ermahnt hat, kommt der Apostel in Vers 17 wieder auf sich selbst zurück. Obwohl er von seiner Erwartung gesprochen hatte, noch für eine Weile bei ihnen zu sein (1,25), erwägt er doch hier die Möglichkeit seines baldigen Märtyrertodes. Manche Menschen legen großen Wert auf ihre „Ahnungen“ und messen ihnen eine Gewißheit und Glaubwürdigkeit bei, die fast – wenn nicht ganz – der der Schrift gleichkommt. Das ist ein Fehler. Paulus hatte auch seine „Ahnungen“ betreffs seiner Zukunft, und wir glauben, daß diese Ahnungen durch die späteren Ereignisse bestätigt worden sind. Dennoch zog selbst er, der Apostel, in Betracht, daß der Ausgang seine Ahnungen widerlegen könnte.
Paulus spricht hier davon, daß er als „Trankopfer gesprengt“ wird, und gebraucht damit die gleichen Worte wie in 2. Timotheus 4,6, wo sein Märtyrertod unmittelbar bevorstand. Natürlich bezieht er sich dabei auf die im Gesetz vorgeschriebenen Trankopfer. Dort mußte „ein Viertel Hin Wein“ vor dem HERRN über bestimmte Opfer gesprengt werden.
Damit begegnen wir in den Versen 17 und 18 zwei sehr bemerkenswerten Dingen. Erstens nennt er die Gaben der Philipper, die sie aus ihrer Armut heraus durch Epaphroditus an ihn gesandt hatten, „das Opfer und den Dienst eures Glaubens“. Das heißt, daß er sie als das größere Opfer betrachtete. Sein eigenes Märtyrertum betrachtet er als eine kleine Menge Wein, die als Trankopfer über ihr Opfer gesprengt wird, also als das kleinere Opfer. Eine sehr ungewöhnliche Art, die Dinge darzustellen! Wir hätten sicher die Sache umgekehrt und die Selbstverleugnung der Philipper als das Trankopfer angesehen, das über Paulus' großes Opfer als Märtyrer gesprengt wurde.
Warum betrachtete Paulus die Dinge auf diese Weise? Weil er „nicht auf das Seine“ sah, sondern „auch auf das der anderen“ (Vers 4). Er war wirklich ein überzeugendes Beispiel dafür, wozu er die Philipper aufgefordert hatte, und für den Wert und die Vorzüglichkeit der Gesinnung, die in Christus Jesus war. Bei Paulus gab es keine Verstellung, keine billigen Komplimente. Er freute sich, die Gnade Christi in seinen geliebten Philippern zu sehen, und meinte das, was er sagte.
Zweitens ist es sehr bemerkenswert, daß er wirklich sein eigenes Märtyrertum als einen Anlaß zur Freude für ihn selbst und für die Philipper betrachtete – der gegenseitigen Freude. Das ist eine höchst unnatürliche Sichtweise! Nicht natürlich, sondern geistlich. Paulus glaubte also WIRKLICH, was er über das Abscheiden und „Bei-Christus-sein“ gesagt hatte. Das IST wirklich „weit besser“. Er wußte, daß die Philipper ihn so aufrichtig liebten, daß sie sich, trotz der Trauer darüber, ihn zu verlieren, über ihre eigenen Gefühle erheben und sich in seiner Freude freuen würden. Verwandeln wir Philipper 1,23 nicht oft in eine fromme Redensart? Für Paulus bedeutete das weitaus mehr.
Dennoch erwartete er sein Märtyrertum nicht gerade für diesen Augenblick, wie er ihnen schon gesagt hatte. Vielmehr beabsichtigte er, Timotheus bald zu ihnen zu senden, damit dieser ihnen eine geistliche Hilfe wäre, und auch, damit er durch ihn von ihrem Wohlergehen erführe.
Von allen, die damals gerade anwesend waren, war niemand so gesinnt wie er und so sehr um das Wohl der Philipper besorgt wie Timotheus. Die meisten, selbst von den Gläubigen, suchten das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi war. Timotheus bildete eine glückliche Ausnahme. Er war ein echter Sohn seines geistlichen Vaters. Auch in ihm war die Gesinnung Christi. Ist das Verfolgen der eigenen Interessen statt der Interessen Christi heutzutage nicht leider weit verbreitet unter Gläubigen? Kein Diener Gottes kann den Gläubigen wirksamer dienen, als wenn er in ihrer Mitte nichts anderes sucht als die Interessen Christi.
So wollte er ihnen in Kürze Timotheus senden, und er hoffte sogar, selbst freizukommen und sie dann zu besuchen. Dennoch wollte er noch früher mit ihnen in Verbindung kommen, um ihre Gabe zu bestätigen, und so sandte er Epaphroditus, ihren Boten, zu ihnen zurück. Er wurde nun der Überbringer dieses Briefes, den wir gerade betrachten.
Die Verse 25 bis 30 erlauben uns einen Blick auf die Wesensart dieses Epaphroditus, den Paulus „meinen Bruder und Mitarbeiter und Mitstreiter“ nennt. Auch er war gleichgesinnt, und wir sehen sofort, daß der Apostel, wenn er soeben schrieb, „Ich habe keinen Gleichgesinnten“, damit meinte: Ich habe niemand unter meinen derzeitigen Helfern und Gefährten in Rom. Epaphroditus war ein Philipper und war daher nicht damit gemeint.
Es gab und gibt viele, die sicherlich Brüder, aber kaum Arbeiter oder Streiter genannt werden können. Auf Epaphroditus trafen alle drei Bezeichnungen zu. Er war nicht nur ein Arbeiter und ein Streiter, sondern ein Mitarbeiter und Mitstreiter des Apostels. Sie arbeiteten und kämpften zusammen an der gleichen Sache und mit den gleichen Zielen. Könnte jemandem heute ein solches Zeugnis gegeben werden? Ich glaube, daß es gegeben werden könnte, da das Neue Testament uns alles über die Lehre, die Lebensweise und den Dienst des Paulus, dieses vorbildlichen Dieners Gottes, mitteilt. Zugleich befürchten wir, daß das in unserer Praxis selten vorkommt. Jeder Gläubige ist berufen, ein Arbeiter und Streiter zu sein. Kelle und Schwert sollten bei uns allen gefunden werden. Aber ist das wirklich der Fall? Und gebrauchen wir sie als Mitarbeiter und Mitstreiter des Paulus?
Als Epaphroditus seinen Auftrag ausführte und Paulus aufsuchte, war er sterbenskrank geworden. Zweimal finden wir hier den Ausdruck „dem Tode nahe“. Gott aber war ihm gnädig und hatte diese große Traurigkeit von Paulus und den Philippern abgewendet. Doch Epaphroditus hatte sein Leben um des Werkes Christi willen nicht geschont, und darum sollte er geehrt werden.
So sehen wir auch Epaphroditus den Spuren des Paulus und Timotheus folgen, so wie sie Christus folgten. Die Gesinnung, die in Christus Jesus war, zeigte sich auch in ihm, denn er wagte nicht nur sein Leben, um seinem Herrn zu dienen, sondern als er so krank war, daß er dem Tod nahe war, war er „sehr bekümmert“, und das nicht wegen seiner eigenen notvollen Umstände, sondern weil er wußte, daß seine Geschwister in Philippi von seiner Krankheit gehört hatten und sich seinetwegen große Sorgen machen könnten. Das ist ein schönes Beispiel für jemand, der „nicht auf das Seinige“ sah, sondern „auch auf das der anderen“. Das war wirkliche Selbstlosigkeit!