Einführende Vorträge zum Johannesevangelium
Kapitel 20-21
In Kapitel 20 wird die Auferstehung geschildert, und zwar in einem beachtenswerten Licht. Es werden nicht die äußeren Umstände vorgestellt wie im Matthäusevangelium. Wir lesen nichts von den zitternden Söldnern (Mt 28,4) oder der Wanderung mit den beiden Jüngern (Lk 24,13–35). Wie immer sehen wir die Person des Sohnes Gottes. Auch die Jünger werden gezeigt, die bewiesen, wie wenig sie von der Wahrheit verstanden hatten. Johannes „sah und glaubte. Denn sie kannten die Schrift noch nicht, dass er aus den Toten auferstehen musste“ (V. 8–9). Er glaubte den Beweisen; und es liegt kein sittlicher Wert darin, den Beweisen zu glauben. Allein der Glaube an das Wort Gottes ist sittlich wertvoll, denn er anerkennt Gottes Glaubwürdigkeit. Um auf Gott zu vertrauen, muss man sich selbst aufgeben. Daher hat der Glaube an die Bibel einen ganz anderen Charakter als eine Meinung aufgrund einer Tatsache. Als Petrus und Johannes wieder heimgingen, stand Maria Magdalene mit nicht mehr Verständnis über die Schriften als sie außerhalb des Grabes und weinte. Jesus begegnete ihr in ihrem Kummer, trocknete ihre Tränen und sandte sie mit einer Botschaft von seiner Auferstehung an die Jünger. Er erlaubte ihr jedoch nicht, Ihn anzurühren. Dagegen durften nach Matthäus die anderen Frauen seine Füße umfassen (Mt 28,9). Warum der Unterschied? Anscheinend sollte im ersten Evangelium ein Pfand von seiner körperlichen Gegenwart für die Juden in den letzten Tagen gegeben werden. Denn, welche Folgen die Juden jetzt auch immer wegen ihres Unglaubens erleiden müssen, Gott ist treu. Das Johannesevangelium soll hier nicht die Verheißungen Gottes an die Beschneidung vorstellen. Im Gegenteil löst es die Jünger eifrig von jüdischen Gedanken. Davon ist Maria Magdalene ein Muster bzw. Bild. Das Herz muss sich von seiner körperlichen Gegenwart freimachen. „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater“ (V. 17). Der Christ kennt Christus im Himmel. Der Apostel schreibt: „Wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr also“ (2. Kor 5,16). Das Kreuz, so wie wir es kennen, beendet alle irdischen Beziehungen zu Ihm. Dennoch bleibt Er derselbe Christus, der sich in seinem Leben auf der Erde geoffenbart hat. Johannes zeigt uns in dem Gegensatz zwischen Maria Magdalene und den Frauen aus Galiläa den Unterschied zwischen einem Christen und einem Juden. Durch die Kraft des Heiligen Geistes genießen die Gläubigen, obwohl Er in den Himmel aufgefahren ist, eine intimere Nähe zu Ihm als während seiner körperlichen Anwesenheit auf der Erde. „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, und zu meinem Gott und eurem Gott.“ Niemals vorher hatte Er seine Jünger so eng mit sich verbunden.
Die nächste Szene zeigt uns die versammelten Jünger. Jetzt geht es nicht um eine persönliche Botschaft. Als sie an demselben ersten Tag der Woche abends zusammengekommen waren, stand Jesus trotz der verschlossenen Türen in ihrer Mitte und zeigte ihnen seine Hände und seine Seite. „Jesus sprach nun wiederum zu ihnen: Friede euch! Gleichwie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch. Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist! Welchen irgend ihr die Sünden vergebet, denen sind sie vergeben, welchen irgend ihr sie behaltet, sind sie behalten“ (V. 21–23). Dies ist ein Bild von der Versammlung, die an Pfingsten gebildet werden sollte, und von ihrer Aufgabe. Die Jünger hatten die Autorität von Gott, Sünden zu behalten oder zu vergeben. Dabei handelt es sich keineswegs um eine ewige Vergebung, sondern um eine Handlung der Regierung oder Zucht auf der Erde. Ist zum Beispiel die Aufnahme einer Seele aus der Welt unter die Gläubigen kein Vergeben der Sünden? Auch legt die Kirche (Versammlung) sozusagen ihr Siegel auf das, was Gott bewirkt hat, wenn eine Seele, die hinausgetan werden musste, wiederhergestellt worden ist. Sie nimmt sie wieder auf und vergibt dadurch die Sünde. Auf der anderen Seite werden die Sünden behalten, wenn einer Person die Gemeinschaft verweigert wird oder, nachdem sie aufgenommen worden war, die Versammlung sie wieder hinaustut. Darin besteht keine wirkliche Schwierigkeit, es sei denn, der Mensch verdreht die Schrift zu einem Mittel der Selbsterhöhung oder setzt sie beiseite bei seinem Widerstand gegen ihren schrecklichen Missbrauch, wie wir ihn im Papsttum kennen. Denn auch die Protestanten haben darin versagt, sich eines so großen Vorrechts bewusst zu bleiben, welches auf die Anwesenheit des Heiligen Geistes gegründet ist.
Acht Tage später folgt ein neues Ereignis. Als Jesus zum ersten Mal erschien, war der Jünger Thomas nicht dabei. Darin liegt natürlich eine besondere Lehre. Sieben Tage mussten ablaufen, bevor Thomas – gemeinschaftlich mit den anderen Jüngern – dem Herrn Jesus begegnete. Der Herr tritt seinem Unglauben entgegen und verkündet, dass diejenigen glückseliger sind, welche nicht gesehen und doch geglaubt haben. Wovon ist das ein Sinnbild? Vom christlichen Glauben? Nein! Der christliche Glaube besteht notwendigerweise aus dem Glauben an den, welchen wir nicht gesehen haben. Indem wir glauben, „wandeln (wir) durch Glauben, nicht durch Schauen“ (2. Kor 5,7). Es wird jedoch ein Tag kommen, an dem die Herrlichkeit auf der Erde erkannt und gesehen wird. Darin unterscheidet sich das Tausendjährige Reich von der Jetztzeit. Ich leugne nicht, dass zu jener Zeit der Glaube keineswegs fehlen wird, so wie auch damals Glaube verlangt wurde, als der Messias auf der Erde wandelte. Der Glaube sah unter dem Mantel seines Fleisches eine tiefere Herrlichkeit. Offensichtlich wird jedes echte Christentum, nachdem die Erlösung vollbracht ist, Christus seinen Platz im Himmel eingenommen hat und der Heilige Geist auf der Erde weilt, durch nichts als Glaube gekennzeichnet. Thomas symbolisiert also das träge Herz des ungläubigen Israel, welches den Herrn erst sehen wird, nachdem der gegenwärtige Zeitabschnitt vollständig abgelaufen ist. Das wird umso mehr herausgestellt durch den Gegensatz zu Maria Magdalene in den früheren Versen. Sie ist das Bild eines Christen, der aus dem Judentum herausgenommen wurde und dem nicht länger ein jüdischer Kontakt mit dem Messias erlaubt wird. Stattdessen ist er ein Zeuge von seiner Auffahrt in den Himmel.
Beachte auch das Bekenntnis des Thomas! Wir lesen kein Wort von „Mein Vater und euer Vater“. Er sagt hingegen: „Mein Herr und mein Gott!“ (V. 28). Genauso werden die Juden Jesus anerkennen. Sie werden den anschauen, welchen sie durchstochen haben, und zugeben, dass Jesus von Nazareth ihr Herr und Gott ist (siehe Sach 12). Das spricht nicht von einer Verbindung mit Christus und davon, dass Er sich nicht schämt, uns Brüder zu nennen entsprechend der Stellung, welche Er als Mensch vor seinem und unserem Gott und Vater eingenommen hat. Thomas wurde indessen durch die Male des Kreuzes gezwungen, die Wahrheit anzuerkennen in seinem Bekenntnis von Christi göttlicher Herrlichkeit und Herrschaft.
In Kapitel 21 finden wir als eine Art Anhang den Fischzug. Nach einer Nacht des Misserfolgs erfasste das Netz eine große Menge Fische, ohne dass dasselbe zerriss oder das Schiff in Gefahr geriet (vgl. Lk 5). Auch mussten die guten Fische nicht in Gefäße gesammelt und die schlechten weggeworfen werden (Mt 13). Ich nehme an, dass wir hier ein Bild vom Sammeln der Erlösten aus den Heiden sehen. Der See steht in den prophetischen Schriften ständig im Gegensatz zum festen Land. Wenn also das letzte Ereignis im vorigen Kapitel den jüdischen Aspekt darstellt, nachdem die Zeit der Kirche vorbei ist, dann ist dieses ein Bild der Heiden an jenem großen Tag des Jubelschalls für die Erde. Das kommende Zeitalter wird dem gegenwärtigen gegenübergestellt.
Von Vers 15 bis zum Ende folgt die tiefgehende Handlungsweise unseres Herrn mit Petrus und außerdem das Werk des Johannes. Ich bezweifle nicht, dass wir, wie in dem gerade betrachteten Ereignis auf dem See, auch in den letzten Versen eine tiefe sinnbildliche Bedeutung erkennen dürfen. Der dazwischen geschobene Dienst des Paulus wird hier natürlich nicht erwähnt; denn der Apostel war der Zeuge von einem Christus, der im Himmel verherrlicht ist – dem Haupt der Kirche, seines Leibes, in der es weder Jude noch Heide gibt. Nachdem der Herr Petrus bis ins Mark geprüft und völlig wiederhergestellt hatte, vertraute Er ihm seine Schafe und Lämmer an, d. h. seine jüdische Herde, wie wir anderswo erfahren (z. B. Hes 34). Später sollte er zur Verherrlichung Gottes eines gewaltsamen Todes sterben. Dagegen würde das Zeugnis des Johannes dem Grundsatz nach bis ans Ende reichen (vgl. V. 22–23 mit dem Buch der Offenbarung). Andererseits erfahren wir von dem vollständigen himmlischen Zeugnis – dem verborgenen Geheimnis – erst aus den Schriften des Paulus, der das Wort Gottes vollendete.
Ich darf jetzt leider nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern muss mich vielmehr für die Eile entschuldigen, mit der ich einen so langen Abschnitt des Wortes Gottes betrachtet habe. Ich bitte den Herrn, dass diese einfachen Hinweise von Gott gesegnet werden, indem Er in manchen Hörern ein neues Verlangen anfache, diese kostbaren Evangelien zu untersuchen, zu überdenken und darüber zu beten. Es wäre gewiss ein süßer Lohn für mich, wenn Gott sich herabließe, meine Ausführungen zu segnen. Möge Er durch dieselben bewirken, dass sich einige seiner Kinder seinem Wort mit mehr Ehrerbietung und einem kindlicheren Vertrauen auf jedes Wort, das Er geschrieben hat, nähern! Gott gebe es durch Christus, unseren Herrn!